Suche

Der Weihnachtsmann ist da

0
(0)
Ein Mann torkelte mehr als er ging auf der holprigen Straße, die von der Stadt an den großen Waldsee mit Badeanstalt und Gastwirtschaft führte und die an schönen Sommertagen überfüllt war von Fahrrädern und Autos. Aber jetzt war kein Sommer. Frost zog durch die leere Straße.
Von der Pflasterung war nicht viel zu spüren unter der dicken Schneedecke. Der Himmel wölbte sich klar über der weißen, schweigenden Landschaft. Es war Weihnachten und nur noch wenige Stunden bis Heiligabend.
Richard Hansen war groß, kräftig gebaut und gut gekleidet. Doch er sah aus, als ob er nicht ganz bei Sinnen wäre, wie er so dahinstolperte. Einige Male blieb er stehen und spielte, ohne es zu merken, mit einem Tannenzweig, den er irgendwo abgerissen hatte. Dann hob er sein Gesicht gen Himmel, der zu dämmern begann.

Der Förster kam ihm entgegen und grüßte, bekam aber keine Antwort. Er kannte Richard Hansen und machte sich nicht viel aus seiner Unfreundlichkeit, denn er wusste, wie es um ihn stand. Ruhig ging er weiter.
Richard Hansen stolperte weiter in Richtung Wald und geriet immer tiefer hinein. Seine Augen waren wie auf den Boden geheftet, als suche er etwas, von dem er genau wusste, dass er es nie wieder finden würde.
Vor einem halben Jahr hatte er seine Frau und seine Kinder bei einem Verkehrsunfall verloren. Eine hübsche Frau und zwei niedliche Kinder. Richard Hansen stieß einen schier die Brust zerreißen wollenden Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Warum sie und nicht er? Was sollte er hier noch? Was bedeuteten ihm noch Arbeit und Erfolg, die Achtung seiner Mitmenschen? Immer tiefer ging er in den Wald hinein, immer tiefer in die Dämmerung, die sich rasch hernieder senkte.
Es war Weihnachten, der erste Weihnachtsabend allein in dem großen Haus. Er dachte an das letzte Fest zurück. Die Kleine hatte eine schöne Puppe bekommen, der Junge seinen ersten Baukasten und seine Frau – das Herz verkrampfte sich vor Leid.

Plötzlich traten aus einem Seitenweg zwei Gestalten. Ein Junge und ein Mädchen. Sie hielten sich an den Händen und blieben vor Richard Hansen wie angewurzelt stehen. Ihre Kleider waren dünn, ihre Gesichter verfroren. Er wollte vorübergehen wie beim Förster. Was gingen ihn fremde Kinder an? Da sah er ihre Augen. Große, reine Kinderaugen, die ängstlich auf ihn gerichtet waren. Er blieb stehen und fragte verwundert: „Was macht ihr hier so spät?“
Die Kinder standen unbeweglich und schwiegen verängstigt, denn seine Stimme, die so lange geschwiegen hatte, klang rau und hart. Er räusperte sich und versuchte, seine Worte sanfter klingen zu lassen:
„Warum seid ihr nicht bei euren Eltern?“
Da tat das kleine Mädchen den Mund auf und sagte mit zarter Stimme: „Papa ist gestorben.“
„Unser Vater ist mit seinem Lastwagen verunglückt“, fügte der Junge, der älter zu sein schien, hinzu.
„Und eure Mutter? Was macht sie?“
„Mama weint viel und arbeitet viel. Sie ist immer noch auf Arbeit“, antwortete das Mädchen. Die Kinder blickten den fremden Mann an, der plötzlich so still geworden war und vor sich hinstarrte.
„Und was wollt ihr hier im Wald?“

Die Kleine sah ihren Bruder von der Seite an, gab ihm einen Stoß und er antwortete: „Wir suchen den Weihnachtsmann. Er hat uns im letzten Jahr schon vergessen!“
„Nanu, er war nicht bei euch?“, fragte Richard Hansen und um sein Herz wurde es plötzlich warm. Er überlege einen Augenblick, dann erwachte in ihm eine großartige Idee und er sagte schmunzelnd: „Und wenn ich nun der Weihnachtsmann bin?“

Die Kinder lachten. „Nein, du bist nicht der Weihnachtsmann!“, meinte der Junge und das Mädchen stimmte ihm zu.
„Und warum nicht?“
„Weil du keinen Bart hast!“, riefen die Kinder einstimmig. Hansen griff an sein Kinn. „Nein“, sagte er geheimnisvoll und wirkte plötzlich wie ein großer Junge, „den habe ich mir abschneiden lassen, von einem kleinen Engel!“

Die Kinder glaubten ihm kein Wort. Da zog er den Tannenzweig, den er hinter seinem Rücken verborgen hatte, hervor und ließ ihn durch die Luft sausen. „Und ich bin doch der Weihnachtsmann“, donnerte er mit furchterregender Stimme. „Seht ihr meine Rute?“
Die Kinder hatten sich mit einem lauten Schrei umgedreht und liefen, was sie konnten, davon.
„Halt!“, rief er ihnen hinterher. „So wartet doch!“

Ängstlich blieben sie stehen und wagten nicht näher zu kommen Da schleuderte er den Tannenzweig vor ihren Augen in den Wald.
„Passt mal gut auf, was ich euch jetzt sage! Ihr macht jetzt, dass ihr heimkommt und geht mir keinen Schritt vor die Tür. Erst wenn es dreimal klopft, hört ihr? Dreimal! Dann öffnet. Und eurer Mutter sagt kein Wort, verstanden? Aber seid recht lieb zu ihr!“

„Ja!“ Sie nickten verschüchtert.
„Euch hab ich doch schon mal gesehen! Direkt neben der alten Mühle wohnt ihr, nicht wahr?“

Wieder schüchternes Nicken.
„Und nun marsch!“ Das brauchte er ihnen nicht zweimal zu sagen. Hand in Hand rannten sie los. Er wartete noch, bis sie verschwunden waren, dann hatte er es plötzlich sehr eilig. Schnellen Schrittes lief er den Weg zurück, den er gekommen war. Es war ein völlig anderer Mann, der jetzt durch den Wald eilte. Richard Hansen rannte mehr als dass er ging, denn es war schon spät und er hatte noch so viel zu erledigen. Er pfiff und summte vor sich hin, manchmal umspielte ein leichtes Lächeln seinen Mund. Den Leuten, denen er begegnete, fiel das sofort auf.

Zuerst ging er in eine Gärtnerei. Er ergatterte nur noch eine kleine Tanne in einem Topf. „Besser als nichts! Nächstes Jahr muss ich früher beginnen“, dachte er. Mit der Tanne unter dem Arm lief er nach Hause, in ein Haus, das vor kurzem noch so leer und verlassen schien. Noch in Hut und Mantel eilte er ans Telefon und wählte die Nummer seines Kaufmanns. Der Ladenbesitzer war nicht sehr freundlich und murrte: „So spät noch? Wir haben schon geschlossen!“ Dann erinnerte er sich, mit wem er sprach und nahm die Bestellung entgegen. Es war ein größerer Auftrag. Keine Kinkerlitzchen oder hochfeine Leckerbissen, nein, nur Handfestes. Aber für zwei Kinder Plätzchen, Äpfel und Nüsse.
„Packen Sie alles in einen Sack“, bat Richard Hansen.“ In einen Sack? Jetzt ist er ganz übergeschnappt“, dachte der Kaufmann.
„In einer halben Stunde hole ich die Sachen ab. Und ein fröhliches Fest wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie!“
„Das wünsche ich Ihnen auch“, rief der Kaufmann überrascht durchs Telefon.
Danach rannte Hansen auf den Boden, suchte in der Weihnachtskiste zusammen, was er noch brauchte. Im Kinderzimmer öffnete er den Schrank und holte eine Hose und einen dicken Pullover für den Jungen und ein warmes Kleid für das Mädchen heraus. Dann packte er noch Strumpfhosen, Schuhe, Unterwäsche, sowie einen Baukasten und eine Puppe ein. Beim Kaufmann war er schnell fertig.
Anschließend fuhr er mit dem Auto durch den Wald. In einem Seitenweg stoppte er, stellte seinen Kombi ab und schleppte eine Riesenlast zu dem kleinen Haus neben der alten Mühle, das er ja kannte. Den Sack und den Tannenbaum stellte er neben die Haustür. Dann zündete er vorsichtig die Kerzen an. Es war windstill und keine Kerze ging aus.
Dreimal klopfte er gegen die Fensterscheibe und rief mit tiefer Stimme:
„Der Weihnachtsmann ist da!“

Zu Hause angekommen machte er sich einen Glühwein, setzte sich in den Fernsehsessel und schaute einen Weihnachtsfilm an, dessen Handlung so ähnlich war wie das, was er gerade erlebt hatte. Ein verschmitztes Lächeln umspielte seinen Mund und er war sich sicher, dass die beiden Kleinen heute am Heilig Abend genauso glücklich waren wie die Kinder in dem Film. Etwas Gutes getan zu haben, gab ihm das dankbare Gefühl, doch noch leben zu dürfen. Er schaute aus dem Fenster. Es war dunkel geworden; soweit man bei Schnee von Dunkelheit sprechen konnte. Zwischen den Tannen flimmerten die Sterne prächtig in der frostklaren Nacht. Es war das richtige Wetter für den Weihnachtsmann.

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content