In einem Haus in Kopenhagen, nicht weit vom Königsneumarkt, hatte man eine Gesellschaft, eine sehr große Gesellschaft versammelt, um
von den Eingeladenen wieder Einladungen zu erhalten. Die eine Hälfte der Gesellschaft saß schon an den Spieltischen, die andere Hälfte wartete was für eine Belustigung die Wirtin wohl vorschlagen würde. Die Unterhaltung kam nach und nach in Gang. Unter anderem kam die Rede
auch auf das Mittelalter; einzelne hielten es für weit interssanter als unsre Zeit; ja, Justizrat Knap verteidigte diese Meinung so eifrig, daß die Frau vom Hause sogleich zu seiner Partei übertrat.
Beide eiferten nun gegen Oberstedts Abhandlung im Almanach über „alte und neue Zeiten“ wo unserem Zeitalter im Wesentlichen der Vorzug geben wurde. Der Justizrat hielt die Zeit des Dänenkönigs Hans für die schönste und glücklichste. Während sich die Unterhaltung um dieses Thema drehte und nur vorübergehend durch die Ankunft einer Zeitung unterbrochen wurde, die im übrigen nichts Lesenwertes enthielt, wollen wir uns in das Vorzimmer begeben, wo die Mäntel, Stöcke und Galoschen Platz gefunden haben.
Hier saßen zwei Mädchen, ein junges und ein altes; man konnte meinen, sie seien nur gekommen, um ihre weibliche Herrschaft nach Hause zu geleiten. Sah man jedoch etwas genauer zu, so merkte man bald, daß sie keine Dienstboten sein konnten: dazu waren ihre Formen zu edel, die Haut zu fein und der Schnitt der Kleider zu schwungvoll.
Es waren zwei Feen. Die jüngere war zwar nicht die Glücksgöttin selbst, aber doch ein Kammermädchen einer ihrer Kammerfrauen, welche die gringeren Glücksgaben austeilten. Die ältere sah sehr ernst aus; es war die Sorge. Sie pflegt immer selbst, in höchsteigener Person, ihre Geschäfte zu besorgen; doch dann weiß sie, daß sie gut ausgeführt werden. Sie erzählten einander, wo sie an diesem Tag gewesen waren. Die jüngere hatte nur einige unbedeutende Aufträge ausgeführt, einen neuen Hut vor dem Regen bewahrt, einem ehrlichen Manne einen Gruß von einer vornehmen Null verschafft usw.
Was ihr aber noch bevorstand, war etwas ganz Ungewöhnliches.
„Ich muß dir erzählen,“ sagte sie, „daß heute mein Geburtstag ist, und dem zu Ehren sind mir ein paar Galoschen anvertraut worden, die ich der Menschheit bringen soll. Diese Galoschen haben die Eigenschaft, daß ein jeder, der sie anzieht, augenblicklich an die Stelle und in die Zeit versetzt wird, wo er am liebsten sein will; ein jeder Mensch in bezug auf Zeit, Ort und Existenz wird sogleich erfüllt, und der Mensch kann also endlich einmal glücklich werden auf der Erde.“
„Ja, das glaubst du so!“ sagte die Sorge. „Er wird aber vielleicht sehr unglücklich und segnet den Augenblick, da er die Galoschen wieder los wird!“
„Was redest du da!“ sagte die andere. „Ich stelle sie hier an die Türe; einer vergreift sich und wird der Glückliche!“ Sieh, das war unser Zwiegespräch.
Es war spät geworden; Justizrat Knap, der ganz in die Zeit von des König Hans vertieft war, wollte heimkehren, und das Schicksal lenkte es so, daß er statt seiner Galoschen, die Galoschen des Glücks anzog und in ihnen auf die Oststraße hinaustrat.
Durch die Zauberkraft der Galoschen aber ward in die Zeit des Königs Hans versetzt, und so setzte er den Fuß tief in den Kot und Morast der Straße, weil es zu jener Zeit noch Steinplaster gab.
„Es ist ja schrecklich, wie schmutzig es hier ist!“ sagte der Justizrat. „Das ganze Trottoir ist fort, und alle Laternen sind ausgelöscht!“ Der Mond stand noch nicht hoch genug, und die Luft war überdies ziemlich nebelig, sodaß alle Gegenstände ringsum bei dieser Dunkelheit ineinander verschwammen.
An der nächsten Ecke hing eine Laterne mit einem Madonnenbilde, aber die Beleuchtung war so gut wie gar keine; er bemerkte sie erst, als er gerade darunter stand, und seine Augen fielen auf das gemalte Kind mit seiner Mutter. „Das ist hier vermutlich ein Kunstkabinett,“ dachte er, „man hat vergessen das Schild abzunehmen.“ Ein paar Leute in der Tracht des Zeitalters gingen an ihm vorüber.
„Wie sehen denn die aus! Sie kamen wohl von einer Maskerade?“ – Plötzlich ertönten Trommeln und Pfeifen und Fackelschein leuchtete hell. Der Justizrat stutzte und sah nun einen sonderbaren Zug vorüberziehen. Zuerst kam ein ganzer Trupp von Trommlern, die ihre Instrumente recht artig bearbeiteten; ihnen folgten Trabanten mit Bogen und Armbrüsten. Der vornehmste im Zuge war ein geistlicher Herr. Erstaunt fragte der Justizrat, was das zu bedeuten habe, und wer der Mann sei?
„Das ist der Bischof von Seeland!“ – „Mein Gott, was fällt dem Bischof ein?“ seufzte der Justizrat und schüttelte den Kopf. Der Bischof konnte es doch unmöglich sein! One zur Rechten oder zur Linken zu sehen, ging der Justizrat, über das Gesehene grübelnd, durch die Oststraße und über den Hohenbrückenplatz. Die Brücke, die nach dem Schloßplatz führte, war nicht zu finden; er wurde das Ufer eines seichten Wassers gewahr und stieß endlich auf zwei Leute, die in einem Boote saßen.
„Will der Herr nach dem Holm übersetzt werden?“ fragten sie. „Nach dem Holm?“ fragte der Justizrat, der nicht wußte, in welchem Zeitalter er sich befand.
„Ich will nach Christianshafen, in die kleine Torfgasse!“ Die Leute sahen ihn verwundert an. „Sagt mir nur, wo die Brücke ist?“ sagte er. „Es ist schändlich, daß hier keine Laternen angezündet sind; und ein Schmutz ist das, als wenn man in einem Sumpf herumwatete!“
Je länger er mit dem Bootsleuten sprach, desto unverständlicher waren sie ihm. „Ich verstehe euer Bornholmisch nicht!“ sagte er zuletzt ärgerlich und kehrte ihnen den Rücken. Die Brücke konnte er nicht finden, ein Geländer war auch nicht da. Nie hatte er sein Zeitalter elender gefunden als an diesem Abend. „Ich glaube ich werde am besten tun, eine Droschke zu nehmen,“ dachte er. Aber wo waren die Droschken? Keine ließ sich sehen. „Ich werde nach dem Königsneumarkt zurückgehen müssen, dort halten wohl Wagen, sonst komme ich nie nach Christianshafen hinaus.“ Nun ging er nach der Oststraße und war dort schon fast angelangt, als der Mond hervorbrach. „Mein Gott, was ist das für ein Gerüst, das man hier errichtet hat!“ rief er aus, als er das Osttor erblickte, welches zu jener Zeit am Ende der Oststraße stand. Inzwischen fand er doch einen Durchgang offen, und durch diesen kam er nach unserem Neumarkt hinaus; aber der war ein großer Wiesengrund; einzelne Büsche ragten hervor, und quer durch die Wiese zog sich ein breiter Kanal oder Strom. Einige erbärmliche Holzbuden für holländische Fischer lagen am entgegengesetzten Ufer. „Entweder erblicke ich eine Fata Morgana, oder bin ich betrunken!“ jammerte der Justizrat. „Was ist das nur?“
Er kehrte wieder um, in der festen Überzeugung, daß er krank sei. Während er in die Straße zurückkehrte, betrachtete er die Häuser etwas genauer, die meisten waren von bloßem Fachwerk, und viele hatten nur ein Strohdach. „Nein, mir ist gar nicht wohl!“ seufzte er. „Und ich trank doch nur ein Glas Punsch! Aber ich kann ihn nicht vertragen, und es war doch auch ganz und gar verkehrt, uns Punsch und warmen Lachs zu geben; das werde ich der Frau Agentin auch sagen! Ob ich wohl wieder zurückkehre und sage, wie mir zumute ist?
Aber das sieht so lächerlich aus, und es fragt sich, ob sie noch auf sind.“ Er suchte nach dem Hause, doch es war gar nicht zu finden. „Es ist doch so schrecklich: ich kann die Oststraße nicht wiedererkennen! Nicht ein Laden ist da; alles elende, verfallene Häuser erblicke ich; als ob ich in Roeskilde oder in sonst einem Nest wäre. Ach, ich bin krank! Es nützt nichts, es zu verheimlichen. Doch wo in aller Welt ist das Haus des Agenten?
Dort werden noch Leute auf sein; ach, ich bin sicher krank!“ Nun stieß er auf eine halb offene Tür, durch die ein Lichtstreifen fiel.
Es war eine Herberge jener Zeit, eine Art Bierhaus. Die Stube hatte das Ansehen einer holländischen Diele; eine Anzahl Leute, bestehend aus Schiffern,
Kopenhagener Bürgern und ein paar Gelehrten, saßen in tiefsinnigem Gespräch bei ihren Krügen und beobachteten den Eintretenden nur wenig.
„Um Entschuldigung, “ sagte der Justizrat zur Wirtin, „mir ist sehr unwohl geworden; wollen Sie mir nicht eine Droschke nach Christianshafen hinaus besorgen lassen?“ Die Frau sah ihn groß an und schüttelte den Kopf, dann redete sie ihn in deutscher Sprache an. Der Justizrat nahm an, daß sie der dänischen Zunge nicht mächtig sei, und brachte deshalb seinen Wunsch auf deutsch vor; dies, im Verein mit seiner Kleidung, bestärkte die Frau darin, daß er ein Ausländer sei; daß er sich unwohl fühle, begriff sie rasch und brachte ihm deshalb einen Krug Wasser; freilich hatte es etwas vom Seewassergeschmack, wiewohl es draußen aus dem Brunnen geschöpft war. Der Justizrat stützte seinen Kopf auf die Hand, holte tief Atem und grübelte über das Seltsame rings um ihn nach.
„Ist das die heutige Nummer vom Tag?“ fragte er ganz mechanisch, als er sah, wie die Frau ein großes Stück Papier weglegte. Sie verstand nicht, was er damit meinte, reichte ihm aber das Blatt; es war ein Holzschnitt, die Darstellung einer Lufterscheinung, die in der Stadt Köln gesehen worden war. „Das ist sehr alt!“ sagte der Justizrat und wurde durch die Antquität ganz heiter gestimmt. „Wie sind Sie denn zu diesem seltsamen Blatt gelangt? Das ist sehr interessant, obgleich das Ganze eine Fabel ist! Man erklärt dergleichen Lufterscheinungen jetzt als Nordlichter; wahrscheinlich entstehen sie durch Elektrzität!“
Die, welche ihm zunächst saßen und seine Rede hörten, sahen ihn erstaunt an, und einer von ihnen erhob sich, nahm ehrerbietig den Hut ab und sagte mit der ernsthaftesten Miene: „Ihr seid sicher ein höchst gelehrter Mann, Monsieur!“
„O nein!“ erwiderte der Justizrat; „ich kann nur von dem einen und andern mitsprechen, was man ja verstehen muß!“ – „Bescheidenheit ist eine schöne Tugend!“ sagte der Mann. „Übrigens muß ich zu Eurer Rede sagen, daß ich anderer Meinung bin.
Doch will diese niemanden aufdrängen.“
„Darf ich wohl fragen, mit wem ich das Vergnügen habe zu sprechen?“ erwiderte der Justizrat.
„Ich bin Baccaleurus der Heiligen Schrift, „sagte der Mann. Diese Antwort genügte dem Justizrat; der Titel entsprach hier der Tracht. Das ist sicher, dachte er, ein alter Dorfschulmeister, ein origineller Patron, wie man sie zuweilen noch oben in Jütland treffen kann. „Hier ist zwar kein Ort zum Disputieren,“ begann der Mann, „doch bitte ich, nur weiterzusprechen! Ihr seid sicher in den Schriften der Alten sehr belesen?“
„O,“ antwortete der Justizrat; ich lese gern alte nützliche Schriften, habe aber auch die neueren recht gern, mit Ausnahme der „Alltagsgeschichten“,
deren wir in der Wirklichkeit schon genug haben!“
„Alltagsgeschichten?“ fragte Baccalaureus.
„Ich meine die neuen Romane, die man jetzt so hat.“ – „O,“ lächelte der Mann, „sie sie enthalten doch vielen Witz und werden bei Hofe gelesen; der König liebt ganz besonders den Roman von Herrn Tvent und Herrn Gaudian, der von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde handelt.“
„Ja, den hab ich auch schon gelesen!“ sagte der Justizrat; das muß ein ganz neuer Roman sein, den Heiberg dort verlegt hat!“ -„Nein,“ erwiderte der Mann, „er ist nicht bei Heiberg, sonden bei Godfred von Ghemen herausgekommen!“
„So, ist das der Verfasser?“ sagte der Justizrat. „Das ist ein sehr alter Name; so hieß doch wohl der erste dänische Buchdrucker?“ – „Ja, das ist unser erster dänischer Buchdrucker!“ sagte der Mann.
So weit ging es ganz gut; nun sprach einer der Bürgersleute von der schweren Pestilenz, die vor ein paar Jahren grassiert hatte, und meinte die im Jahre 1484. Der Justizrat nahm an, daß es die Cholera sei, von der die Rede war; und so ging die Unterhaltung ganz gut. Der Freibeuterkrieg von 1440 lag so nahe, daß er noch in aller Erinnerung sein mußte. Die englischen Freibeuter hätten Schiffe auf der Reede weggenommen, hieß es; und der Justizrat, der sich in die Begebenheit von 1801 recht eingelebt hatte, stimmte gegen die Engländer vortrefflich mit ein. Das übrige Gespräch hingegen ging nicht so gut vorwärts, jeden Augenblick verfiel man auf beiden Seiten in den Schulmeisterton.
Der gute Baccalaureus war gar zu unwissend. und die Äußerungen des Justizrats klangen ihm wieder, wenn sie noch so harmlos waren, gar zu dreist und phantastisch. Sie sahen einander an, und wurde es gar zu arg, dann sprach der Baccalaureus Latein, in der Hoffnung, besser verstanden zu werden; aber es half doch nichts. „Wie geht es Ihnen?“ fragte die Wirtin und zog den Justizrat beim Ärmel. Nun kam seine Besinnung zurück; im Laufe der Unterhaltung hatte er alles rein vergessen, was vorgegangen war. „Mein Gott, wo bin ich eigentlich!“ sagte er, und es schwindelte ihm, wenn er daran dachte.
Claret wollen wir trinken! Met und Bremer Bier!“ rief einer der Gäste. „Und Ihr sollt mittrinken!“
Zwei Mädchen kamen herein, die eine hatte eine buntfarbige Haube auf. Sie schenkten ein und verneigten sich; dem Justizrat rieselte es eiskalt über den Rücken. „Was ist denn das!“ sagte er. Aber er mußte mit ihnen trinken, ob er wollte oder nicht. Er war ganz verzweifelt, und als der eine sagte, daß er betrunken sei, zweifelte er durchaus nicht an dem Worte des Mannes, sondern bat nur, ihm doch endlich die Droschke zu verschaffen.
Nunglaubten sie, er spreche Moskowitisch. Nie war er in einer so rohen und gemeinen Gesellschaft gewesen. „Man sollte glauben, das Land sei zum Heidentum zurückgekehrt!“ meinte er. „Das ist der schrecklichste Augenblick meines Lebens!“
Zugleich aber kam ihm der Gedanke, sich unter den Tisch zu ducken und nach der Tür zu kriechen. Das tat er auch, als er am Ausgang war, bemerkten die andern sein Vorhaben; sie ergriffen ihn bei den Füßen, und nun gingen die Galoschen zu seinem guten Glück ab, und damit schwand auch der ganze Zauber. Der Justizrat sah ganz deutlich eine Laterne vor sich brennen und hinter dieser ein großes Gebäude; also sah so bekannt und so stattlich aus. Es war die Oststraße, wie wir sie kennen; er lag mit den Beinen gegen die Haustür und gerade über saß der Wächter und schlief.
„Du mein Schöpfer, habe ich hier auf der Straße gelegen und geträumt!“ sagte er. „ja, es ist die Oststraße! Wie prächtig, hell und belebt! Es ist doch schrecklich wie das Glas Punsch auf mich gewirkt hat! Zwei Minuten später saß er in einer Droschke, die mit ihm nach Christianshafen fuhr. Er gedachte der Angst und Not, die er ausgestanden, und pries von Herzen die glückliche Wirklichkeit unserer Zeit, die mit allen ihren Mängeln doch weit besser sei, als die, in der er vor kurzem gewesen war.
„Da liegen weiß Gott ein Paar Galoschen!“ sagte der Wächter. „Die gehören sicher dem Leutnat, der dort oben wohnt. Sie lagen gerade neben dem Haustor.“ Gern hätte der ehrliche Man geklingelt, und sie abgeliefert, denn oben war noch Licht; aber er wollte nicht die übrigen Leute im Haus wecken, und darum ließ er es sein. „Daß muß recht warm sein, ein Paar solcher Dinge anzuhaben!“ sagte er.
„Sie sind so weich wie Leder.“ Sie paßten gut an seine Füße. „Wie drollig geht’s doch in der Welt zu! Da geht er nun im Zimmer auf und ab! Das ist ein glücklicher Mensch! Er hat weder Frau noch Kinder; jeden Abend ist er in Gesellschaft. O, wäre ich doch Er; ja, dann wäre ich ein glücklicher Mann!“ Während er den Wunsch aussprach, wirkten auch schon die Galoschen, die er angezogen hatte; der Wächter ging in des Leutnants Sein und Wesen über. Da stand er oben im Zimmer und hielt ein kleines rosenrotes Papier zwischen den Fingern, worauf ein Gedicht stand, ein Gedicht des Herrn Leutnants selbst. Denn wer hat in seinem Lebennicht einmal einen lyrischen Augenblick gehabt, und schreibt man dann seine Gedanken nieder, so heißt das Poesie.
Da stand nun geschrieben:
O,wär ich reich!“ So wünschte ich mir schon oft,
Als ich, kann ellengroß, so froh gehofft.
O, wär ich reich! Dann würd‘ ich Offizier,
Mit Säbel, Uniform und Bandelier.
Es kam die Zeit, ich wurde Offizier,
Doch nun und nimmer ward ich reich, ich Armer;
Einst saß ich da in stiller Abendstund‘,
Ein kleines Mägdlein hing an meinem Mund,
Denn ich war reich an Märchenpoesie;
An Gold dagegen, ach! so arm wie nie;
Jedoch das Kind, das wollt‘ nur Poesie;
Da war ich reich, doch nicht an Gold, ich Armer;
Du weißt’s, Erbarmer!
„O, wär‘ ich reich!“ so tönt‘ zu Gott mein Flehn,
Das Kind hab‘ ich zur Jungfrau reifen sehn;
Sie ist so klug, so hübsch, so seelensgut:
Das große Märchen – – – wäre sie mir gut!
Doch bin zum Schweigen ich verdammt, ich Armer;
Du willt’s, Erbarmer.
O, wär‘ ich reich an Trost und Ruhe hier,
Dann käme all mein Leid nicht aufs Papier.
Verstehst du mich, du meine holde Maid,
So lies das Blatt aus meiner Jugendzeit,
Ein dunkles Märchen, dunkler Nacht geweiht.
Nur finstre Zukunft seh‘ ich; ach, ich Armer!
Tröst‘ mich, Erbarmer!“
Ja, solche Gedichte schreibt man, wenn man verliebt ist, aber ein besonnener Mann läßt sie nicht drucken. Leutnant, Liebe, Geldmangel; das ist ein Dreieck, oder ebenso gut die Hälfte des zerbrochenen Würfel des Glücks. Das fühlte der Leutnant recht lebhaft, und darum legte er das Haupt an die Fensterrahmen und seufzte tief auf,
„Der arme Nachtwächter, draußen auf der Straße ist weit glücklicher als ich! Er kennt das nicht, was ich den Mangel nenne! Er hat ein Heim, hat Frau und Kinder, die mit ihm trauern und fröhlich sind.
O, wäre ich glücklicher, als ich bin, wenn ich in sein Wesen und Sein übergehen, mit seinen Wünschen und Hoffnungen durchs Leben wandeln könnte“
„Ja, er ist glücklicher als ich!“
In diesem Augenblick war der Wächter wieder Wächter geworden, denn durch die Galoschen des Glücks war er zwar in das Wesen und Sein des Leutnants übergegangen; aber da fühlte er sich, wie wir sahen,noch weit weniger zufrieden und zog gerade das vor, was er vor kurzem erst verworfen hatte. So wurde denn der Wächter wieder Wächter.
„Das war ein häßlicher Traum,“ sagte er, „aber drollig genug. Es war mir, als ob ich der Leutnant dort oben sei, und das war durchaus kein Vergnügen. Mir fehlten meine Frau und meine Jungen, die nie müde werden, mich halb tot zu küssen.“ Er saß wieder da und nickte; der Traum wollte ihm nicht recht aus den Gedanken; die Galoschen hatte er noch an den Füßen. Eine Sternschnuppe glitt über den Himmel.
„Die wäre unten angekommen!“ sagte er. „Doch es sind dort oben noch genug! Ich hätte wohl Lust, die Dinger etwas näher zu betrachten, besonders den Mond, der käme einem doch nicht so leicht unter den Händen fort. Wenn wir sterben, sagte der Student, für den seine Frau wäscht, fliegen wir von dem einen Stern zum andern. Das ist eine Lüge, würde aber recht hübsch sein. Könnte ich doch einen kleinen Sprung da hinauf machen, dann soll der Körper meinetwegen hier auf der Treppe liegen bleiben!“ – Es gibt nun gewisse Dinge in der Welt, die man nur mit größter Vorsicht aussprechen sollte. Doppelt vorsichtig aber muß man sein, wenn man die Galoschen des Glücks an den Füßen hat.
Hör‘ nur, wie es dem Wächter erging.
Was uns betrifft, so kennen wir doch fast alle die Schnelligkeit der Dampfbeförderung; wir haben sie entweder auf Eisenbahnen oder auf Dampferfahrten übers Meer erprobt. Doch dieser Flug ist wie die Wanderung des Faultiers oder der Marsch der Schnecke im Verhältnis zu der Geschwindigkeit des Lichtstrahls. Der jagt neunzehnmillionenmal schneller als das beste Rennpferd dahin, und noch schneller ist die Elektrizität. Der Tod ist ein elektrischer Stoß, den wir ins Herz erhalten; auf den Schwingen der Elektrizität erhebt sich die befreite Seele. Acht Minuten und wenige Sekunden gebraucht das Sonnenlicht zu einer Reise von mehr als zwanzig Millionen Meilen; mit der Schnellpost der Elektrizität bedarf die Seele noch weniger Minuten, um denselben Flug zu vollbringen. Der Raum zwischen den Weltkörpern ist für sie nicht größer, als für uns in einer und derselben Stadt die Entfernung zwischen den Häusern unserer Freunde ist, selbst wenn diese ziemlich nahe bei einander liegen. Nun kostet uns freilich der elektrische Herzstoß den Gebrauch des Körpers hinnieden, falls wir nicht gerade, wie der Wächter, die Galoschen des Glücks anhaben.
In wenigen minuten hatte der Wächter die 52,000 Meilen bis zum Mond zurückgelegt, der, wie man weiß, aus einem leichteren Stoff als unsere Erde besteht, und weich wie frisch gefallener Schnnee ist. Er befand sich auf einem der unzähligen Ringgebiete, die wir von Dr.Mädlers großer Mondkarte her kennen. Im Innern dieses Ringgebirges ging ein Kessel ungefähr eine halbe Meile senkrecht hinab. Dort unten lag eine Stadt, von deren Aussehen wir einen Begriff bekommen, wenn wir Eiweiß in ein Glas schlagen: die Materie hier war ebenso weich und boldete ähnliche Türme und Kuppeln und segelförmigen Altanen, gleich durchsichtig und in der Luft schwimmend. Unsere Erde aber schwebte wie eine große, feuerrote Kugel über seinem Haupte. Der Wächter bemerkte sogleich eine Menge Geschöpfe, die sicherlich das waren, was wir „Menschen“ nennen, jedoch ganz anders aussahen, als wir. Sie hatten auch eine sprache, doch es kann niemand verlangen, daß die Seele des Wächters die verstehen soll. Dennoch verstand sie diese Sprache, und es gab so manchen Disput über unsere Erde, wobei stark bezweifelt wurde, daß sie bewohnt sein könne: die Luft müsse dort zu dick sein, als daß ein vernünftiges Mondgeschöpf darin leben könne. Sie hielten den Mond allein für bewohnt; er sei der eigentliche Weltkörper, auf dem die alten Weltbewohner lebten. Doch wir begeben uns nun nach der Oststraße hinab, um zu sehen, wie es dem Körper des Wächters erging. Leblos lag er auf der Treppe; der Spieß war ihm aus der Hand gefallen, und die augen blickten zum Mond empor, auf dem seine ehrliche Seele herumwandelte.
„Wie spät ist es, Wächter?“ fragte ein Vorrübergender. Wer aber nicht antwortete war der Wächter. Da gab ihm der Mann einen leichten Nasenstüber, und nun verlor er das Gleichgewicht. Der Körper lag, so lang er war, da; der Mensch war tot. Da befiehl den, der ihm den Nasenstüber gegeben hatte, ein gewaltiger Schreck. Er war und blieb tot, und es wurde Meldung geamacht, und am Morgen trug man den Körper nach dem Hospital hinaus. Das hätte nun einen ganz hübschen Spaß für die Seele abgegeben, wenn sie zurückgekehrt wäre und, wie anzunehmen war, den Körper in der Oststraße gesucht hätte. Wahrscheinlich würde sie erst auf die Polizei und dann nach dem Fundbureau laufen, um schließlich nach dem Hospital hinauszuwandern. Doch wir können uns damit trösten; daß die Seele am klügsten tut, wenn sie auf eigne Faust handelt; nur der Körper ist’s, der sie dumm macht. Der Körper des Wächters kam also, wie gesagt, nach dem Hospital und wurde dort in eine Reinigungszelle gebracht. Das erste, was man hier tat, war, daß man ihm die Galoschen auszog. Nun mußte die Seele in den Körper zurückkehren.
Sie nahm sogleich die Richtung nach dem Körper zu, und im Augenblick war wieder Leben in dem Manne. Er versicherte, es sei die schrecklichste Nacht seines Lebens gewesen; nicht für alle Schätze der Welt wollte er noch einmal solche Empfindungen haben; aber nun sei es ja überstanden. Noch an demselben Tage wurde er entlassen, die Galoschen blieben im Hospital.
Jeder Kopenhagener weiß. wie der Eingang zum Friedrichshospital in Kopenhagen aussieht, da aber wahrscheinlich auch einige
Nicht – Kopenhagener hier lesen, müssen wir hier eine kurze Beschreibung des Hopitals
geben. Das Gebäude ist von der Straße durch ein ziemlich hohes Gitter geschieden, in dem die dicken Eisenstäbe so weit voneinander
abstehen, daß man erzählt, verschiedene sehr schlanke Bewohner des Hospitals sich hindurchgedrückt und ihre kleinen Besuche
in der Stadt abgestattet haben sollen. Der Körperteil, der am schwersten hinauszubringen war, war der Kopf; wie so oft in der Welt waren also die kleinen Köpfe am besten dran.Dies muß als Einleitung genug sein. Einer der jungen Beamten, von dem man nur in körperlicher Hinsicht sagen konnte, daß er einen großen Kopf habe, hatte gerade Dienst an diesem Abend. Es goß wie aus Kannen, trotz der beiden Gegengründe jedoch mußte er hinaus. Nur ein Viertelstündchen; das brauchte er nicht erst dem Pförtner zu melden, meinte er, er schlüpfte einfach zwischen den Eisenstäben hundurch.
Da standen die Galoschen, die der Wächter vergessen hatte – und es fiel ihm nicht im entferntesten ein, daß die Galoschen das Glück sein könnten. Sie konnten in diesem Wetter recht gute Dinge leisten, und er zog sie an. Nun kam es darauf an, ob er sich zwischen den Eisenstäben würde hindurchklemmen können; er hatte es bisher nie versucht. „Wollte Gott, ich hätte erst den Kopf draußen!“ sagte er, und im Augenblick glitt sein Kopf, obgleich er sehr dick und groß war, leicht und glücklich hindurch. Aber nun sollte der Körper auch mit hinaus, und das ging nicht. „Ich bin zu dick!“ sagte er. „Der Kopf dachte ich, ist das Schlimmste. Ich komme nicht hindurch.“ – Nun wollte er rasch den Kopf zurückziehen, aber das ging auch nicht. Den Hals konnte er bequem bewegen, aber das war auch alles. Das erste Gefühl war, daß er ärgerlich wurde, das zweite, daß seine gute Laune unter Null sank.
Die Galoschen des Glücks hatten ihn in diese schreckliche Lage gebracht, und unglücklicher Weise kam er nicht auf den Gedanken, sich frei zu wünschen. Nein, satt zu wünschen, handelte er, und kam nicht von der Stelle.
Der Regenströmte herab, nicht ein Mensch war auf der Straße zu sehen; die Pfortenklingel konnte er nicht erreichen – und wie sollte er nur loskommen? Er sah voraus, daß er hier bis zur Morgenstunde würde stehen müssen; dann mußte nach einem Schlosser geschickt werden, damit die Eisenstäbe zerfeilt würde. Aber, das ging nicht so rasch; die ganze Armenschule, die gegenüber lag, würde auf die Beine kommen.
Das ganze Matrosenviertel würde sich einfinden, um ihn am Pranger zu sehen.
„O, das Blut steigt mir zu Kopfe, ich werde wahnsinnig! Ich verliere den Verstand“
O, wäre ich doch wieder los!“
Das hätte er freilich nicht sagen sollen. Sowie jetzt der Gedanke ausgesprochen war, hatte er den Kopf auch schon los und stürzte hinein, ganz verwirrt durch den Schreck, den ihm die Galoschen des Glücks eingejagt hatten.
Nundürfen wir aber nicht glauben, daß nun alles vorüber war; es kommt noch weit schlimmer. Die Nacht verstrich, und auch der folgende Tag; niemand kam. um nach den Galoschen zu fragen. Am Abend sollte eine deklamatorische Vorstellung auf einem Liebhabertheater in einer entlegenen Straße stattfinden. Das Haus war gepropft voll; unter den Zuschauern befand sich auch der Beamte des Hospitals, der sein Abenteuer in der vorhergehenden Nacht vergessen zu haben schien. Die Galoschen des Glücks hatte er an, denn sie waren wie gesagt, nicht abgeholt worden, und da es auf der Straße schmutzig war, konnten sie ihm gute Dinge leisten.
Ein neues Gedicht: „Die Brille der Tante“ wurde rezitiert – und das war eine ganz merkwürdige Brille: wenn man die auf hatte und vor einer großen Versammlung von Menschen saß, so sahen die Menschen wie Karten aus, und man konnte aus ihnen alles, was im kommenden Jahr geschehen würde, prophezeien. Die Idee beschäftigte ihn: er hätte wohl eine solche Brille haben mögen.
Wenn man sie richtig gebrauchte, könnte man
vielleicht den Menschen gerade in die Herzen der Menschen hineinschauen; das wäre eigentlich noch interessanter, meinte er, als zu sehen, was im nächsten Jahre geschehen würde, denn das erführe man ja doch, das andere aber nie. „Ich denke, mir die ganze Reihe von Herren und Damen auf der ersten Bank: könnte man ihnen gerade ins Herz hineinsehen – ja, müßte das eine so Art Auslage, eine Reihe von Läden sein: wie sollten meine augen da umherschweifen!
Bei jener Damen dort würde ich sicher einen großen Modehandel finden; bei dieser da ist der Laden leer, doch würde es ihm nicht schaden, gereinigt zu werden. Werden wohl auch solide Läden da sein? Ach, ja!“ seufzte er. „Ich kenne einen, in dem ist alles solid, aber es ist schon ein Angestellter darin, das ist das einzige Übel an diesem Laden! Aus dem einen und dem andern würde es schallen:
„Treten Sie gefälligst näher!“ – „Ja, könnte ich nur so wie ein kleiner, netter Gedanke Zutritt finden und durch all die Herzen schlüpfen!“
Das war das Stichwort für die Galoschen; der ganze Beamte schrumpfte zusammen, und eine höchst ungewöhnliche Reise mitten durch die Herzen der vordersten Reihe der Zuschauer begann.
Das erste Herz durch das er kam, war das einer Dame. Er glaubte in einem orthopädischen Institut zu sein, und zwar in dem Zimmer, in dem die Gipsabgüsse der verwachsenen Gliedern an den Wänden hängen. Nur bestand der Unterschied, daß im Institut die Glieder geformt werden, wenn der Patient hineinkommt, während sie hier, im Herzen, erst geformt waren, nachdem die guten Leutchen hinaus gegangen waren. Es waren Abgüsse von Freundinnen, deren körperliche und geistige Fehler hier im plastischen Bilde aufbewahrt wurden. Schnell war er in einem andern weiblichen Herzen. Das erschien ihm wie eine große heilige Kirche – die weiße Taube der Unschuld flatterte über dem Hochaltar. Wie gern wäre er andächtig auf die Knie gesunken; aber er mußte fort, in das nächste Herz hinein. Doch hörte er noch die Orgeltöne, und er selbst kam sich wie ein neuer und besserer Mensch vor.
Er fühlte sich nicht unwürdig, das nächste Heiligtum zu betreten, das ihm eine ärmliche Dachkammer mit einer kranken Mutter zeigte.
Durch das offene Fenster strahlte Gottes warme Sonne, prächtige Rosen nickten von dem kleinen Holzkasten auf dem Dache; und zwei hmmelblaue Vögel sangen von kindlicher Freude, währen die kranke Mutter den Segen des Himmels auf die Tochter herbeiflehte.
Dann kroch er auf Händen und Füßen durch einen überfüllten Schlächterladen, da gab es nichts als Fleisch, und immer wieder Fleisch. Das war das Herz eines reichen, respektablen Mannes, dessen Name von aller Welt mit Achtung genannt wurde. Nun war er im Herzen der Gemahlin dieses Mannes – das stellte einen alten, verfallenen Taubenschlag vor. Das Porträt dieses Mannes wurde als Wetterfahne benutzt; diese stand in Verbindung mit den Türen; und so gingen diese auf und zu, sowie sich der Mann drehte.
Dann kam er in ein Spiegelzimmer, gleich jenem, das auf dem Rosenburger Schlosse zu sehen ist. Aber die Spiegel vergrößerten ganz gewaltig. Mitten auf dem Fußboden saß, wie ein Dalailama,, das unbedeutende Ich der Person, und betrachtete voll Erstaunen seine eigene Größe. Hierauf wähnte er sich in eine enge Nadelbüchse voll spitzer Nadeln versetzt. „Das ist sicher das Herz einer alten Jungfer!“ dachte er. Aber das war nicht der Fall, es war das Herz eines jungen Offiziers mit mehreren Orden, von dem man gerade sagte, er sei ein Mann von Geist und Herz.
Ganz betäubt kam der arme Beamte aus dem letzten Herzen in der Reihe heraus, er vermochte seine Gedanken nicht zu ordnen und glaubte, daß seine allzu lebhafte Phantasie mit ihm durchgegangen sei.
„Mein Gott!“ seufzte er; ich habe sicherlich eine Anlage wahnsinnig zu werden. Hier drinnen ist es auch so unverzeihlich heiß, das Blut steigt mir zu Kopfe!“
Und dann erinnerte er sich der großen Begebenheit des vorhergehenden Abends, wie sein Kopf zwischen den Eisenstäben des Hospitals festgessen hatte. „Dabei habe ich mir das wohl zugezogen!“ meinte er.
„Ich muß beizeiten etwas dagegen tun. Ein russisches Bad könnte recht gut sein. Läge ich nur erst mal auf dem höchsten Brett!“ Und da lag er auch schon auf dem obersten Brett im Dampfbade; aber er lag in all seinen Kleidern,
mit Stiefeln und Galoschen da; die heißen Wassertrophen von der Decke fielen ihm gerade ins Gesicht. „Hui!“ rief er und fuhr hinab, um eine Dusche zu nehmen. Der Aufwärter stieß einen lauten Schrei aus, als er den angekleideten Menschen unter dem Wasserstrahl erblickte. Der junge Beamte hatte indes so viel Fassung, ihm zuzuflüstern:
„Es gilt nur eine Wette! Das erste jedoch, was er nach seiner Heimkehr tat, war, daß er sich ein großes spanisches Fliegenpflaster in den Nacken, und ein zweites den Rücken entlang legte, damit die Verrücktheit herausgezogen würde. Am nächsten Morgen hatte er einen blutigen Rücken; das war alles, was er durch die Galoschen des Glücks gewonnen hatte.
Der Wächter, dessen wir uns noch recht wohl erinnern, gedachte inzwischen der Galoschen, die er gefunden und nach dem Hospital gebracht hatte. Er holte sie ab, da aber weder Leutnant noch sonst jemand auf der Straße sie als die seinigen erkennen wollte, wurden sie auf der Polizei abgeliefert.
„Sie sehen fast ganz wie meine Galoschen aus“, sagte einer der Herren Schreiber, während er den Fund betrachtete und an die Seite seiner eigenen Galoschen stellte. „Es gehört schon mehr als ein Schuhmacherauge dazu, um sie von einander
zu unterscheiden.“ „Herr Schreiber!“ sagte der Diener, der mit einigen Papieren hereintrat. Der Schreiber wandte sich um und sprach mit dem Manne. Als er dann wieder nach den Galoschen sah, war er in Ungewissheit darüber, ob die zur Linken oder zur Rechten ihm gehörten.
„Es müssen wohl die sein, die noch naß sind!“ dachte er. Das war aber gerade verkehrt, er hatte die Galoschen des Glücks statt seiner eigenen gefasst; aber warum soll nicht auch die Polizei etwas verkehrt machen? Er zog sie an, steckte seine Papiere in die Tasche und nahm einige Schriftstücke unter den Arm, um sie zu Hause zu lesen und die Abschriften davon anzufertigen. Doch nun war gerade Sonntag Vormittag und das Wetter schön. „Ein Spaziergang nach Friedrichsberg dürfte mir gut bekommen, „dachte er; und so machte er sich auf den Weg. Es konnte keine stillere und solideren Menschen geben als diesen jungen Mann. Wir gönnen ihm den kleinen Spaziergang von Herzen, er muß ihm nach dem vielen sitzen sicher recht gut bekommen. Anfangs schritt er so vor sich hin,
die Galoschen konnten daher ihre Zauberkraft nicht weiter
betätigen. In der Alle begegnete er einem Bekannten, einem jungen Dichter, der ihm erzählte, daß er am folgenden Tage seine Sommerreise antrete. „Wollen Sie schon wieder fort?“ sagte der Schreiber. „Sie sind doch ein glücklicher, freier Mensch! Sie können fliegen, wohin Sie wollen, während wir andern mit der Kette am Fuß dahocken.“ – „Ja, aber die Kette
ist an einem Brotbaum befestigt!“ erwiderte der Dichter.
„Sie brauchen nicht für den morgenden Tag zu sorgen, und wenn Sie alt werden, bekommen Sie eine Pension!“
„Sie haben es doch am besten,“ sagte der Schreiber. „Es muß ein Vergnügen sein, so dazusitzen und zu dichten. Die ganze Welt sagt Ihnen Komplimente, und dazu sind Sie Ihr eigener Herr. Sie sollten es nur einmal probieren, so im Gericht über diese langweiligen Sachen zu hocken!“ Der dichter schüttelte den Kopf, und auch der Schreiber schüttelte den Kopf; jeder blieb bei seiner Meinung und dann trennten sie sich.
„Es ist ein eigenes Völkchen, diese Poeten!“ dachte der Schreiber. „Ich möchte’s wohl einmal probieren, in eine solche Natur hineinzuschlüpfen und selbst ein Poet zu werden.
Ich würde sicher nicht solche Klagelieder schreiben wie die andern! – – Das ist heute ein rechter Frühlingstag für einen Dichter! Die Luft ist so ungewöhnlich klar, die Wolken sind so schön, und das Grün duftet ringsum so köstlich. Seit Jahren habe ich mich nicht mehr so wohl gefühlt, wie in diesem Augenblick!“ Wir merken schon, daß der Schreiber ein Dichter geworden ist. Äußerlich war ihm zwar nichts weiter anzusehen, wie es überhaupt töricht ist, sich einem Dichter anders vorzustellen als andere Menschen. Es können sich unter diesen letzteren weit poetischere Naturen befinden, als manche anerkannte Dichter es sind. Der unterschied ist nur der, daß der Dichter ein besseres geistiges Gedächtnis hat:
er kann die Ideen und Gefühle festhalten, bis sie klar und deutlich durch das Wort verkörpert sind, das können die andern nicht. Aber der Übergang von einer Alltagsnatur zu einer dichterisch begabten ist immerhin ein Übergang, und der hatte sich bei dem Schreiber vollzogen.
„Der herrliche duft!“ sagte er. „Wie erinnert er mich an die Veilchen der guten Tante Lone! Ja, das war damals, als ich noch ein kleiner Knabe war. Mein Gott, wie lange ist’s her, daß ich daran gedacht habe! Das gute alte Mädchen! Sie wohnt doch irgendwo hinter der Börse. Immer hatte sie irgendeine Blume oder ein paar grüne Schösslinge im Wasser, mochte der Winter noch so streng sein. Die Veilchen dufteten,
während ich die erwärmten Kupferschillinge gegen die gefrorene Fensterscheibe legte und Gucklöscher machte. Das gab einen hübschen Durchblick. Draußen im Kanal lagen die Schiffe eingefroren und von der ganzen Mannschaft verlassen, eine schreiende Krähe bildete die ganze Bemannung, Wenn dann die Frühlingslüfte wehten, wurde es dort lebendig. Unter Gesang und Hurrarufen sägte man das Eis entzwei, die Schiffe wurden geteert und getakelt und fuhren nach fremden Landen.
Ich bin hier geblieben und mußte immer bleiben, immer auf der Polizei sitzen und zusehen, wie die andern sich Pässe zur Reise nach dem Ausland ausstellen ließen. Das ist mein Los!
Ach, ja!“ seufzte er tief. Dann hielt er plötzlich inne. „Mein Gott, wie ist mir denn? So habe ich früher nie gedacht und gefühlt: das muß die Frühlingsluft machen! Wie beängstigt das ist, und doch auch – wie angenehm!“
Er griff in die Tasche nach seinen Papieren. „Diese Schriftstücke werden mich auf andere Gedanken bringen!“
sagte er sich und ließ die Augen über das erste Blatt hingleiten. “Frau Sigbrith, Tragödie in fünf Akten“, las er.
„Was ist das? Das ist ja meine Handschrift! Habe ich etwa diese Tragödie geschrieben? – Die Intrige auf dem Walle, oder der Bußtag, eine Posse. Wie komme ich nur dazu? Man muß mir das in die Tasche gesteckt haben; hier ist ja auch ein Brief.“ Ja, der war von der Theaterdirektion; die Stücke waren abgelehnt, und der Brief war durchaus nicht höflich
abgefasst. „Hm!“ sagte der Schreiber und ließ sich auf eine Bank nieder; seine Gedanken waren so beweglich, und sein Herz so weich gestimmt. Unwillkürlich griff er nach einer der nächsten Blumen; es war eine gewöhnliche kleine Gänseblume. Was uns die Botaniker erst durch umständliche Vorlesungen sagen, verkündete sie in einer Minute. Sie erzählte die Mythe ihrer Geburt; sie erzählte von der Kraft des Sonnenlichts, das ihre feinen Blütenblätter zur Entfaltung brachte und zum Duften zwang. Und er gedachte der Kämpfe des Lebens, die gleichfalls Gefühle in unserer Brust wecken.
Luft und Licht schienen ihm zwei Liebhaber der Blume, und das Licht war der begünstigte, ihm wandte sie sich zu; verschwindet es, so rollt sie ihre Blätter zusammen und entschlummert sanft in den Armen der Luft. „Das Licht ist es, das mir den Schmuck verleiht!“ sagte die Blume. „Aber die Luft lässt dich atmen!“ flüsterte die Stimme des Dichters.
Dicht dabei stand ein Knabe und schlug mit seinem Stocke in einen sumpfigen Graben, daß die Wassertropfen zwischen den grünen Infusionstierchen, die in jedem Tropfen in die Höhe geschleudert wurden, was für sie, ihrer Größe entsprechend, daselbe war, wie für eine Fahrt über die Wolkenregionen.
Während der Schreiber diesen Gedanken nachhing und über die Veränderung nachdachte, die mit ihm vorgegangen, mußte er unwillkürlich lächeln, „Ich schlafe und träume!“ sagte er sich. – „Recht merkwürdig ist das doch, wie natürlich man träumen und doch dabei wissen kann, daß es nur ein Traum ist. Wenn ich mich nur morgen beim Erwachen seiner noch erinnere! Ich scheine ganz ungewöhnlich aufgelegt zu sein!
Ich habe eine klare Anschauung von allem, fühle mich so aufgeweckt, und doch bin ich sicher, daß, wenn ich noch etwas davon bis morgen behalten habe, es nichts als dummes Zeug ist: das ist mir schon öfters so gegangen. Es geht einem mit all dem Klugen und Prächtigen, das man im Traume sagt und hört, wie mit dem Gelde der Unterirdischen: wenn man es erhält, ist es reich und herrlich, aber bei Tage besehen sind’s
nur Steine und vertrocknete Blätter. Ach ja!“ seufzte er ganz wehmütig und betrachtete die singenden Vögel, die fröhlich von Zweig zu Zweig hüpften. „Die haben es doch besser als ich! Fliegen, das ist eine herrliche Kunst! Glücklich derjenige, dem sie angeboren ist! Könnte ich mich so in irgend etwas verwandeln, dann möchte ich wohl solch eine kluge Lerche sein!“ In dem selben Augenblick breiteten sich seine Rockschöße und Ärmel und Flügel aus, die Kleider wurden zu Federn und die Galoschen zum Klauen. Er bemerkte es ganz wohl und lachte innerlich: „So nun kann ich doch sehen, daß ich träume! Aber so närrisches Zeug habe ich noch nie zusammengeträumt!“ Und er flog in die grünen Zweige hinauf und sang, es war aber keine Poesie in seinem Gesange, denn die Dichternatur war fort. Die Galoschen konnten wie jeder, der etwas gründlich tun will, nur eine Sache auf einmal besorgen. Er wollte Dichter sein – und er wurde es. Nun wollte r ein kleiner Vogel sein, und indem er dies wurde, hörte seine frühere Eigentümlichkeit auf. „Das ist ja allerliebst!“ sagte er. „Bei Tagesitze ich bei der Polizei unter den solidesten Aktenstücken; nachts träume ich, daß ich als Lerche im Friedrichsberger Garten umherfliege. Das gäbe wirklich Stoff zu einem ganzen Volksstück!“ Nun flog er in das Gras nieder, drehte den Kopf nach allen Seiten und pickte mit dem Schnabel auf die geschmeidigen Grashalme los, die, im Verhältnis zu seiner jetzigen Größe, ihm so hoch wie die Palmen Nordafrikas erschienenen. Es blieb aber nur einen Augenblick so, dann wurde es kohlschwarze Nacht um ihn.
Es war ihm, als würde ein ungeheurer Gegenstand über ihn hingeworfen: es war eine große Mütze, die ein Matrosenknabe über ihn warf. Eine Hand ward hereingeschoben und faßte den Schreiber am Rücken und Flügel, so daß er laut zu piepsen begann. Im ersten Schreck fief er laut: „Unverschämter Bengel! Ich bin Schreiber auf der Polizei!“ Aber das klang dem Knaben nur wie ein „Piep – Piep!“ Er schlug den Vogel auf den Schnabel und zog mit ihm ab.
In der Allee begegnete er zwei Schulknaben der „gebildeten Klasse“, wie man zu sagen pflegt; ihren Fähigkeiten gehörten sie der niedrigsten Klasse der Schule an. Sie kauften den Vogel für acht Schillinge, und so kam der Schreiber nach Kopenhagen zurück. „es ist nur gut, daß es ein bloßer Traum ist“, sagte der Schreiber, „sonst würde ich wahrscheinlich böse werden! Zuerst war ich ein Poet, und nun bin ich eine Lerche!
Ja, das war sicher die Poetennatur in mir, die sich und mich in das kleine Tier verwandelte! Es ist doch eine klägliche Geschichte, zumal man solch ein paar Jungen in die Hände fällt. Ich möchte nur wissen, wie das abläuft!“
Die Knaben brachten ihn in ein höchst elegantes Zimmer; eine
dicke lächelnde Dame empfing sie. Sie war durchaus nicht erfreut darüber, daß der gemeine „Feldvogel“, wie sie die Lerche nannte, mit hereinkam. Nur für heute wollte sie es sich gefallen lassen, doch mussten sie den Vogel in den leeren Käfig setzen, der am Fenster stand. „Das wird vielleicht unserm Papchen Freude machen!“ fügte sie hinzu und lachte einen großen grünen Papagei an, der sich vornehm in seinem Ringe in dem prächtigen Messingkäfig schaukelte. „Heute ist ja Papchens Geburtstag!“ sagte sie einfältig, „und da will wohl der kleine Feldvogel ihm gratulieren!“ Papchen erwiderte nicht ein Wort, sondern schaukelte vornehm hin und her; dagegen begann ein hübscher Kanarienvogel, der im letzten Sommer aus seinem warmen, duftreichen Vaterlande hergebracht worden war, laut zu singen. „Schreihals!“ sagte die Dame und warf ein weißes Taschentuch über den Käfig.
„Piep – piep!“ seufzte er. „was für ein schreckliches Schneewetter!“ und dann schwieg er. Der Schreiber – oder, wie die Dame sagte, der Feldvogel – kam in einen kleinen Käfig, dicht neben dem Kanarienvogel, nicht weit von dem Papagei. Der einzige Satz, den Papchen in der Menschensprache sprechen konnte, und der oft recht komisch klang, lautete: „Nein, laß uns Menschen sein!“ Alles übrige, was er schrie, war ebenso unverständlich wie das Zwitschern des Kanarienvogels. Nur nicht für den Schreiber, der nun selbst ein Vogel war und seine Kameraden sehr gut verstand. „Ich flog unter der grünen Palme und dem blühenden Mandelbaume!“ sang der Kanarienvogel. „Ich flog mit meinen Brüdern und Schwestern über die prächtigen Blumen und über den spiegelklaren See hin, wo die Pflanzen sich auf dem Boden wiegten. „Ich erblickte auch solche Papageien, welche die lustigsten Geschichten erzählten, so viele und so lange.
„Das waren wilde Vögel“, erwiderte der Papagei; die besaßen keine Bildung. Nein, lasst uns Menschen sein! – Warum lachst du nicht? Wenn die Damen und all die Fremden darüber lachen können, so kannst du es auch. Es ist ein großer Fehler das Ergötzliche, nicht ergötzlich zu finden. Nein, lasst uns Menschen sein!“ – „Entsinnst du dich der hübschen Mädchen“, sprach der Kanarienvogel, „die unter dem ausgespannten Zelte bei den blühenden Bäumen tanzten?
Entsinnst du dich der kühlen Früchte und des kühlenden Saftes in den wildwachsenden Kräutern?“ – „O ja“, sagte der Papagei; aber hier habe ich es weit besser! Ich habe gutes Essen und eine feine Behandlung; ich weiß, ich bin ein guter Kopf, und mehr verlange ich nicht. Laßt uns nun Menschen sein. Du bist eine Dichterseele, wie die Leute es hier nennen.
Ich habe gründliche Kenntnisse und schlagenden Witz; du hast Genie, aber keine Besonnenheit; du steigst in diese hohen Naturtöne hinauf, und deshalb wirst du zudeckt. Das wagt man mir nicht zu bieten; nein, denn ich habe sie etwas mehr gekostet! Ich mache Eindruck mit meinem Schnabel und werfe mit einem Witz nur so um mich. Nein, lasst uns Menschen sein!“ – „O, mein warmes, blühendes Vaterland!“ sang der Kanarienvogel; – „ich will deine dunkelgrünen Bäume und deine stillen Meerbusen besingen, wo die Zweige die klare Wasserfläche küssen; ich will singen von dem Jubel aller meiner schimmernden Brüder und Schwestern, dort, wo „der Wüste Quellenpflanzen wachsen!“
„Laß diese elegischen Töne!“ sagte der Papagei. „Singe etwas, worüber man lachen muß! Das Lachen ist das Kennzeichen des höchsten geistigen Standpunktes. Sage mir, ob ein Hund oder ein Pferd lacht! Nein, weinen können sie, aber lachen – und das ist allein dem Menschen gegeben. Ho, ho, ho! lachte das Papchen und fügte sein Witzwort: “Laßt uns Menschen sein!“ hinzu. „Du kleiner, grauer dänischer Vogel“, sagte der Kanarienvogel „du bist nun ein Gefangener geworden! Es ist sicher kalt in deinen Wäldern, aber dort herrscht doch die Freiheit. Fliege hinaus! Man hat vergessen, deinen Käfig zu schließen; das obere Fensterchen steht offen. Fliege, fliege!“
Das gegenüberliegende Haus hatte etwas so Anheimelndes.
Ein Fenster stand auf; er flog hinein; es war sein eigenes Zimmer, in das er kam. Er setzte sich auf den Tisch.
„Laßt uns Menschen sein!“ sprach er unwillkürlich dem Papagei nach, und in demselben Augenblick war er wieder Schreiber; aber er saß auf dem Tische.
„Gott bewahre mich!“ sagte er . „Wie bin ich nur heraufgekommen und so in Schlaf verfallen! „Das war doch nur ein unruhiger Traum, den ich hatte.
Am folgenden Tage, in früher Morgenstunde als der Schreiber noch im Bett lag, klopfte es an seine Tür; es war sein Nachbar in derselben Etage, ein junger Theolog der hereintrat. „Leih mir deine Galoschen“
sagte er ; „es ist naß im Garten, aber die Sonne scheint so herrlich: – ich möchte wohl dort unten eine Pfeife rauchen.“ Er zog die Galoschen an und ward bald unten Garten, in dem ein Pflaumen – und ein Apfelbaum
stand. Selbst ein kleiner Garten wie dieser gilt im Innern der Städte als eine große Annehmlichkeit. Der Theologe wanderte im Gang auf und nieder; es war erst sechs Uhr; draußen auf der Straße ertönte das Posthorn. „O reisen, reisen!“ rief er aus; „das ist das größte Glück in der Welt! Das ist meiner Wünsche höchstes Ziel! Da würde diese Unruhe, die ich fühle, gestillt werden. Aber weit fort müßte es sein! „Ich möchte die herrliche Schweiz, Italien bereisen, und-
„ Es war wohl recht gut, daß die Galoschen sogleich wirkten, sonst wäre er gar zu weitgekommen – zu weit für ihn selbst wie für uns andere. Er reiste also. Er befand ich in der Schweiz, mit acht anderen zusammen in dem Innern einer Schnellpost eingepfercht. Er hatte Kopfschmerzen, fühlte
eine Müdigkeit im Nacken, und das Blut war ihm in die Füße
gestiegen, die dick geschwollen und von den Stiefeln gedrückt. Er war in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen. In seiner rechten Tasche hatte er einen Kreditbrief, in der linken den Paß, und in einem kleinen Lederbeutel auf der Brust einige festgenähte Louisdors. Jeden Augenblick
träumte er, daß er die eine oder andere von diesen Köstlichkeiten verloren habe, jedes Mal wie fuhr er wie im Fieber empor, und die erste Bewegung, die seine Hand machte, war ein Dreieck von de rechten Tasche, zur linken
und dann zur Brust, um zu fühlen, ob seine seine Sachen noch habe oder nicht. Schirme, Stöcke und Hüte schaukelten im Netz über ihm und benahmen ihm so ziemlich die Aussicht, die wahrhaft imposant war; er schielte danach hin, während sein Herz ein Lied sang, das uns bekannter Dichter in der Schweiz gesungen, bis jetzt aber noch nicht hat drucken
lassen:
„Hier ist’s so schön, wie das Herz nur will,
Den Montblanc seh’ ich den steilen –
Reicht nur das Geld bis zum letzten Tag –
Ach, dann ist hier gut weilen!“
Groß, ernst und düster war die Natur rings um ihn her. Die Tannenwälder erschienen auf den hohen Felsen, deren Gipfel im Wolkennebel verborgen waren, wie dürftiges Haidekraut. Nun begann es zu schneien, und ein kalter
Wind blies daher. „Ach!“ seufzte er, – wären wir doch auf der anderen Seite der Alpen! Dann hätten wir Sommer, und ich hätte Geld auf meinem Kreditbrief erhoben. Die Angst, die ich ausstehe, vergällt mir jeden Genuß in dieser Schweiz. Wäre ich doch erst auf der andern Seite!“
Und da war auch schon auf der andern Seite; tief drinnen in Italien war er, zwischen Florenz und Rom. Der Trasimenische See lag in der Abendleuchtung wie flammendes Gold zwischen den dunkelblauen Bergen. Hier, wo Hannibal einst den Flaminius schlug, hielten sich nun die Weinranken friedlich an den grünen Fingern; liebliche, halbnackte Kinder hüteten unter einer Gruppe duftender Lorbeerbäume am Weg
eine Herde kohlschwarzer Schweine. Vermochten wir dieses
Gemälde in seiner reichen Farbenpracht wiederzugeben, so
würde alle Welt jubeln: „Herrliches Italien!“ Das sagte aber weder der Theologe noch sonst einer seiner Reisegefärten im Wagen des Vetturino.
Giftige Fliegen und Mücken schwirrte ihnen zu Tausenden in den Wagen hinein. Vergebens schlugen sie mit einem Myrtenzweig um sich: die Fliegen stachen sie trotz alledem.
Nicht ein Mensch war im Wagen, dessen Gesicht nicht von den blutigen Stichen angeschwollen war. Die armen Pferde sahen aus, als wären sie schon ein totes Aas: die Fliegen saßen in dichten Scharen auf ihnen, und nur vorübergehend half es, daß der Kutscher ausstieg und die abscheulichsten Insekten herunterschabte. Jetzt ging die Sonne unter, nur ein kurzer eisiger Kälteschauer ging durch die Natur; es war wie die kalte Luft eines Grabgewölbes nach einem heißen Sommertage.
Rings umher erhielten Berge und Wolken den sonderbaren Ton, den wir auf manchen alten Gemälde finden und, wenn wir dieses Farbenspiel nicht selbst im Süden gesehen haben, für unnatürlich halten. Es war ein herrliches Schauspiel, – aber der Magen war leer, der Körper ermüdet; alle Sehnsucht des Herzens war auf das Nachquartier gerichtet, aber wie wird das ausfallen! Man schaute meist inniger danach aus, als nach dem schönsten Stück der Natur. Der Weg ging durch einen Olivenwald; es war, als führe er daheim zwischen knorrigen Weiden hin. Hier lag das einsame
Wirtshaus. Ein Dutzend bettelnder Krüppel hatte sich davor gelagert; der rascheste derselben sah aus wie, um einen Marryatschen Ausdruck zu gebrauchen, „der älteste Sohn des Hungers, der das Alter der Volljährigkeit erreicht hat“ ; die andern waren entweder blind, oder sie hatten vertrocknete Beine und krochen auf den Händen, oder das Elend, so recht der Lumpen entkleidet. „Eccelenza, miserabili!“ seufzten sie
und streckten die kranken Glieder aus. Die Wirtin empfing die Gäste – und mit bloßen Füßen, mit ungeordnetem Haar, nur mit einer schmutzigen Bluse bekleidet. Die Türen waren mit einem Bindfaden zusammen gebunden; der Fußboden in den Zimmern war ein halb aufgewühltes Pflaster von Mauersteinen; Federmäuse flogen unter der Decke hin, und
der Gestank da drinnen – „Ja, decken Sie den Tisch unter dem
Stalle!“ sagte einer der Reisenden. „Dort weiß man doch, was man einatmet!“ Die Fenster wurden weit geöffnet, damit etwas
frische Luft hereindringen konnte; aber schneller als diese kamen die verdorrten Arme und das Gejammer: „Miserabili Eccelenza!“ herein. An den Wänden waren viele Inschriften:
die Hälfte war gegen die „bella Italia“ gerichtet. Das Essen wurde aufgetragen, es war eine Suppe von Wasser gewürzt mit Pfeffer und ranzigem Öl. Letzteres spielt auch beim Salat die Hauptrolle; Eier und gebratene Hähne waren die besten Gerichte; selbst der Wein hatte einen Beigeschmack – es war eine wahre Mixtur. Zur Nacht wurden die Koffer gegen die Tür gestellt; einer der Reisenden hatte die Wache, während die andern schliefen; der Theologe war der Wachhabende; o, wie schwül es war drinnen! Die Hitze war erdrückend, die Mücken summten und stachen, das Jammer der „Miserabili“ klang auch noch durch die Träume. „Ja, Reisen ist schon gut“ sagte der Theologe, „wenn man nur keinen Körper hätte! Wenn dieser so ruhen und der Geist dafür fliegen könnte!
Wohin ich komme, überall empfinde ich einen Mangel, der mein Herz bedrückt. Nach Besserem , nach dem Besten.
Aber wo und was ist es? Im Grunde weiß ich wohl, was ich will: ich will zu einem glücklichen Ziel, dem glücklichsten von allen!“ Und sowie das Wort ausgesprochen war, befand er sich in der Heimat. Die langen weißen Gardinen hingen vor dem Fenster, und mitten auf dem Fußboden stand der schwarze Sarg; in diesem lag er in seinem stillen Todesschlaf;
sein Wunsch war erfüllt: der Körper ruhte, der Geist war auf Reisen. „Niemand ist vor dem Tod glücklich zu preisen“, sagte der weise Solon; hier wurden seine Worte von neuem bekräftigt. Jede Leiche ist die Sphinx der Unsterblichkeit; auch die Sphinx hier in dem schwarzen Sarkophag gibt Antwort auf das, was der Lebende zwei Tage vorher
geschrieben hatte:
„O düstrer Tod, dir folget finstres Grauen,
Und Gräber zeigen deines Schreitens Spur –
Soll nicht der Geist die Jakobsleiter schauen,
Soll ich vergehn, ein dürres Gräslein nur?
Oft sieht die Welt nicht unser schlimmstes Bangen,
Du, der du einsam gingst durch Erdental,
Trugst nach der Grabesruh’ vielleicht Verlangen,
Die dich erlöst von mancher böser Qual!“
Zwei Gestalten schwebten durchs Zimmer.
Wir kennen sie beide: es war die Fee der Sorge und die Botin des Glücks.
Sie beugten sich über den Toten herab,
„Siehst du“, sagte die Sorge, „welches Glück brachten deine
Galoschen nun der Menschheit?“
„Sie brachten wenigstens ihn, der hier schlummert, ein bleibendes Gut!“ antwortete die Freude.
„O nein“, sagte die Sorge. „Selbst ging er fort, er wurde nicht
gerufen! Seine geistige Kraft war nicht stark genug, um die
Schätze hier zu heben, die er seiner Bestimmung nach hätte heben sollen. Ich will ihm eine Wohltat erweisen!“
Und sie zog die Galoschen von seinen Füßen – und da war der
Todesschlaf geendet, der Wiederbelebte richtete sich empor.
Die Sorge verschwand, mit ihr zugleich aber auch die Galoschen; sie hat sie gewiß als ihr Eigentum betrachtet.
Quelle: Hans Christian Andersen