Der gute König hatte jedoch ein hartes Schicksal. Seine liebe Gemahlin starb und ließ ihn mit dem Prinzen einsam zurück. Der König trauerte tief und lange, und das ganze Land mit ihm. Auch das kleine fromme Herz des Prinzen war sehr betrübt, denn es hatte mit großer Liebe an der Mutter gehangen. Noch auf dem Sterbebette hatte sie ihm gesagt: „Wenn du ein Jüngling geworden bist, dann wähle nur ein frommes Mädchen mit gutem Herzen zur Gemahlin. Ehre das Andenken deiner Mutter und erinnere dich bei Zeiten an ihre letzten Worte.“
Das hatte tiefen Eindruck auf den Knaben gemacht, und oft kam es dem Prinzen so vor, als schwebe die Mutter im Geiste noch über ihm und lächle ihm zu. So wuchs der Prinz in frommer Sitte heran und wurde ein schöner, blühender Jüngling.
Die Zeit verging und eine listige Frau von hohem Adel verblendete dem König immer mehr die Augen. Mit ihren Reizen wusste die Fürstin den König schlau zu fesseln, bis sie ihn völlig beherrschte. Und schon bald fand ein glänzendes Hochzeitgelage statt. Der alte König, sonst so gut und milde, ließ sich immer mehr zum Narren machen und war nun an ein listiges, böses Schlangenherz gekettet. Diese Torheit sollte ihm noch teuer zustehen kommen, denn das böse Weib stiftete überall Unheil, hetzte den Vater gegen den Sohn, den Sohn gegen den Vater und die Herrschaft gegen die Diener. Auch war ihre Verblendungskunst so groß, dass sie viele Herzen von alten und jungen Männern für sich entflammte.
Der alte König erging sich bald in Reue, doch sein Lebensende kündigte sich schon an. Als der König dann starb, wurde der Prinz zum neuen König ausgerufen. Und er herrschte mit Klugheit und Milde, was sehr zum Wohle des Landes war. Die listige Stiefmutter konnte ihm dabei nichts anhaben, denn der junge König verachtete sie und suchte sich immer in heilsamer Entfernung von ihr zu halten.
Da wünschte das ganze Land, der jugendliche König möge sich nun endlich vermählen. Dem König war es recht, sein Glück fortan mit einer würdigen Gemahlin zu teilen. Aber nicht Stand und Reichtum oder gar eine Krone sollten das Maß der Dinge sein, sondern ein gutes und frommes Herz, wie es die Mutter einst auf dem Sterbebette gewünscht hatte.
Der junge König fand auch heimlich, was er suchte. Sie war zwar nur eine arme Gärtnertochter, aber ihr Herz war voll von reiner Liebe und frommem Glauben. Diese Jungfrau war dem König bald so inniglich befreundet, dass der Jüngling ihr ewige Liebe und Treue schwur. Zärtlich und in Tränen schmiegte sich das liebliche Mädchen an seine Brust und sagte leise: „Ach, du darfst mich ja doch nicht zur Gemahlin nehmen. Siehe, ich bin arm und von niederer Geburt.“ „Halte ein, mein Herz“, rief der Jüngling, „nur du sollst meine Gemahlin, meine Königin werden, du und keine andere.“
Der Wunsch nach des Königs Vermählung wurde im Lande immer lauter und dringender, denn der Jüngling hatte seine Liebe zur Gärtnertochter bisher geheim gehalten. Von allen Seiten begannen die fürstlichen Väter dem König Heiratsvorschläge zu machen. Und die böse Stiefmutter glaubte sogar, es sei ihre Aufgabe, die passende Gemahlin zu wählen. Sie ordnete große Festlichkeiten an, und es kamen viele Prinzessinnen, die reich geschmückt und voller Hoffnung waren.
Acht Tage hatten die Festlichkeiten bereits gedauert, doch der König hatte keine Prinzessin zur Braut erwählt. Da half auch kein Bitten und Drängen durch die Stiefmutter. Am neunten und letzten Festtage sollte aber die Entscheidung fallen, wie es der junge König selbst verkündet hatte. Die Stiefmutter glaubte jetzt voll Zuversicht, dass der König doch noch gehorchen würde, denn sie hatte eine hohe Prinzessin auserwählt, die unsäglich reich an Gut und Geld war. Was kümmerte es da, dass die Prinzessin ziemlich hässlich war und ein wenig auf den Kopf gefallen schien?
Ein glänzender Ball sollte jedenfalls die Festlichkeiten beschließen, und dieses Mal waren alle Prinzessinnen doppelt mit Schmuck und Juwelen beladen. Die Prinzessinnen standen aufgeregt im Saale und jede glaubte, den Sieg davonzutragen. Da tat sich eine Flügeltüre auf, und der König trat lächelnd mit seinem lieblichen Gärtnermädchen herein. Sie hatte nur ein weißen Kleid auf dem Leibe und war völlig ohne Schmuck.
Im Kreise der Prinzessinnen sprühten die Augen voll Ärger und Wut. Und die Stiefmutter schleuderte dem Liebespaar grimmige Blicke zu, als wolle sie das Glück mit ihren Augen erdolchen. Als das Brautpaar dann die in der Mitte des Saales stand, von boshaft lächelnden Prinzessinnen umgeben, sprach der König mild und freundlich: „Hohe, verehrte Stiefmutter, hier bringe ich euch meine liebe, fromme Braut und bitte mit ihr um euren Segen.“ Die Stiefmutter aber zischte in kochender Wut: “ Herr König, denkt an eure Ehre! Wollt ihr wirklich eine arme Dirne von niederer Geburt ehelichen? – Oh, ihr solltet euch schämen, mich so tief zu kränken und meinen Segen für eine schlechte Magd zu erbitten.“ Der König blieb stumm, worauf sich die Stiefmutter tief gekränkt abwandte und den Saal verließ.
Doch der König folgte ihr nach und sprach mit drohendem Ernst: „Törichtes Weib, deine Worte waren mit Bosheit gespickt. Ich will euch zeigen, dass dieses arme Mädchen würdiger ist, Königin zu sein, als ihr selbst und die eitlen Prinzessinnen.“ Der junge König hatte Mühe, sich zu beherrschen und atmete tief durch. Dann sagte er: „Ich habe einst eine Kunst von einem alten Mann erlernt. Ich kann Menschen verzaubern, um ihre Herzen zu prüfen, ob sie gut oder böse sind. Ich werde hier im Saale alle anwesenden Jungfrauen in die Gestalt von Blumen verzaubern. Und ihr, Stiefmutter, sollt mir sagen, welche Blume die schönste ist. Ist es eine von den Prinzessinnen, so will ich euch gehorsam sein. Fällt eure Wahl aber auf mein armes Gärtnermädchen, wird der Zauber euch auf ewig verstricken.“ Der König schwieg, und die stolze Dame grinste voll Zuversicht. Sie ließ sich auf einem feinen Sessel nieder und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Der junge König breitete ein großes weißes Tuch aus, führte schweigend eine Prinzessin um die andere in das Gemach und schließlich auch das Gärtnermädchen. Als alle beisammen waren verhüllte er die Jungfrauen mit dem Tuch, wo sie bald einschlummerten. Dann schnitt der Könige den Jungfrauen das Herz heraus, zuletzt auch seinem geliebten Gärtnermädchen. Der Ballsaal verwandelte sich nun in eine grünende Gartenflur, von einem goldenen Zaun umschlossen und von singenden Vögeln durchflattert. Dort vergrub der Jüngling die Herzen nacheinander und sprach bei jedem:
„Blühe, blühe, blühe,
aus der Erde auf!
Bist du rein,
wirst du hold gedeihn.
Doch treibe wilde Dornen,
wenn du böse wirst sein.“
Bald keimten Zweiglein und Blättlein empor. Es wuchsen wilde Dornensträucher rasch aus der Erde, und nur hier und da zeigte sich eine farbige Blüte. Aber in der Mitte des Gartens stand ein Blütenstängel, gekrönt von herrlichen Rosenblüten. Glänzender Tau lag auf den Blättern, und das grüne Laub schmiegte sich zärtlich an die Blüten. Jetzt kam eine Schar Nachtigallen geflogen. Sie umkreisten den Rosenstrauch und sangen:
„Holde Rose, holde Rose,
hehre Blumenkönigin!
Du die Schönste unter allen,
du die Reinste unter allen,
sollst die ganze Welt bezwingen,
mit der frommen Liebe Sinn.
Lob dir, du holde Rosenkönigin!“
Um die Dornensträucher flogen aber schwarze Raben und krächzten:
„Wilde Dornen, wilde Dornen,
schwarz wie unser Nachtgewand.
Sollt am besten uns gefallen,
mit den tausendfachen Krallen.
Sollet dienen in der Höllen,
in der ewgen Pein, zum Brand.
Schwarze Dornen, Nachtgewand.“
Da führte der König die Stiefmutter aus dem Nebengemach herein, auf dass sie im Garten die schönste der Blüten für ihn wähle. Die Stiefmutter sah die zauberhafte Rose und hörte die Nachtigallen singen. Ihr war, als fühlte sie eine warme Liebe, und es überkam sie tiefe Reue im Gedanken an ihre Bosheiten und Verführungskünste. Und als sie nun die Dornensträucher sah und die schwarzen Raben ein Hohnlied krächzten, da überlief sie Angst und Todesgrauen. Sie sprach: „Mein Königssohn, ich muss die holde Rose wählen. Sie ist wahrlich die Schönste.“ Kaum hatte sie das gesagt, verschmolzen Zweige, Blätter und Blüten der Rose zum Körper eines lieblichen Mädchens. Es war das fromme Gärtnermädchen. Und sie schien jetzt noch schöner und bescheidener als zuvor.
Aus den anderen Blumen und Dornensträuchern bildeten sich wieder Prinzessinnen, die wie aus einem schweren Traum erwachten. Die Stiefmutter des Königs war vor Scham und Reue aber niedergesunken und verwandelte sich in einen Stein, umgeben von blühenden Dornenrosen. Die Prinzessinnen eilten nun scheu und erschreckt davon, aber mit einem Funken Demut in ihren Herzen. Und der König lebte fortan glücklich und fromm mit seiner Gemahlin, der Rosenkönigin, und der Segen des Himmels war mit ihnen.
Quelle: Ludwig Bechstein