Watschagan trank ihn aus und fragte das Mädchen:
„Warum hattest du mir den Krug nicht gleich gegeben? Hast du gescherzt oder hast du mich ärgern wollen ?“
„Es ist bei uns nicht Brauch, mit Fremden zu scherzen“, erwiderte das Mädchen, „aber Ihr waret müde und erhitzt und das kalte Wasser hätte Euch schaden können. Darum habe ich gezögert.“
Die Antwort des Mädchens versetzte Watschagan in Erstaunen, und ihre Schönheit bezauberte ibn. Er fragte:
„Wie heißt du?“
„Anaït“, entgegnete das Mädchen.
„Wer ist dein Vater?“
„Mein Vater ist der Hirt Aran. Doch warum willst du unsere Namen wissen?“
„Ist es denn einUnrecht, danach zu fragen?“
„Wenn es kein Unrecht ist, so sage auch du, wer du bist und woher du kommst.“
„Soll ich lügen oder die Wahrheit sagen?“
„Tu, was du deiner für würdig hältst.“
„Es ist meiner würdig, die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit aber ist, dass ich jetzt noch nicht sagen darf, wer ich bin. Doch gebe ich dir mein Wort, dass ich es dir bald sagen werde.“
„Gut, jetzt aber gib mir den Krug wieder.“
Sie verabschiedete sich von dem Zarensohn, nahm den Krug und ging davon. Die Jäger aber kehrten nach Hause zurück.
II
Der Zarensohn Watschagan beschloss, die schöne, kluge Anaït als Frau heimzuführen. Der Zar und die Zarin empörten sich darüber. Wie konnte denn der Sohn eines Zaren die Tochter eines Hirten heiraten?! Doch Watschagan wies jeden Gedanken an eine andere Braut von sich. Und schießlich wiligten der Zar und die Zarin ein. Sie sandten Waginak und zwei hohe Würdentrager nach Azik, damit sie um Anaït freien sollten.
Der Hirt Aran empfing sie freundlich. Er breitete einen Teppich aus, und die Gäste setzten sich darauf.
„Welch herrlicher Teppich!“, sagte Waginak. „Sicher hat ihn die Hausfrau selbst gewebt.“
„Ich habe keine Frau“, erwiderte Aran, „sie ist vor zehn Jahren gestorben. Den Teppich hat meine Tochter, Anaïït gewebt.“
„Sogar unser Zar hat keinen so schönen Teppich. Wir freuen uns, dass deine Tochter so kunstfertig ist“, sprachen die Würdenträger. „Ihr Ruf ist bis in unser Schloss gedrungen. Der Zar schickt uns zu dir. Er möchte deine Tochter seinem einzigen Sohn, dem Thronerben, zur Frau geben.“
Die Würdentrager hatten erwartet, Aran werde vor Freude ganz fassungslos sein und ihren Worten kaum glauben. Doch der Hirt blieb ganz ruhig; er ließ den Kopf sinken und fuhr mit dem Zeigefinger nachdenklich über das Muster des Teppichs.
Waginak sprach:
„Warum wirst du so nachdenklich, Bruder Aran? Wir wollten dir Freude bringen und keinen Kummer. Wir wollen deine Tochter nicht mit Gewalt entführen. Bist du einverstanden, so gib sie uns, wenn nicht, so behalte sie.“
„Teure Gäste“, sprach Aran, „es ist so, dass ich keine Macht über meine Tochter habe. Wenn sie einverstanden ist, dann habe auch ich nichts dagegen.“
In diesem Augenblick trat Anaït mit einem Korb voll reifer Früchte in den Raum. Sie verneigte sich vor den Gästen, legte die Früchte in eine Schale und reichte sie ihnen. Dann setzte sie sich an den Stickrahmen. Die Würdenträger betrachteten sie und bewunderten ihre Geschicklichkeit.
„Anaït, warum arbeitest du allein?“, fragte Waginak, „ich habe gehört, dass du viele Schülerinnen hast, denen du das Lesen und das Schreiben beibringst.“
„Ja“, antwortete Anaït, „sogar unsere Hirten lernen jetzt lesen und schreiben, und während sie ihre Herden hüten, lernt der eine vom andern. Wörter werden in die Rinde der Bäume geritzt, und mit Kohle werden sie auf Wände, Felsen und Steine geschrieben. Der eine beginnt einen Satz, und der andere setzt ihn fort …“
„Bei uns steht die Wissenschaft nicht so hoch in Ehren“, erwiderte Waginak. „Die Stadtmenschen sind faul. Doch wenn du zu uns kämest, so würdest du sie alle durch deinen Fleiß erziehen. Anaït, unterbrich deine Arbeit, ich habe ein Anliegen an dich. Schau nur, welche Gaben der Zar dir schickt.“
Und er holte seidene Gewänder und kostbaren Schmuck hervor und breitete beides vor ihr aus. Anaït blickte flüchtig darauf und sagte:
„Warum ist der Zar so gnädig zu mir?“
„Der Sohn unseres Zaren, Watschagan, hat dich an der Quelle gesehen. Du hast ihm Wasser gereicht und ihm sehr gefallen. Der Zar sendet uns und bittet dich, die Frau seines Sohnes zu werden. Dieser Ring, diese Kette, dieser Armreifen – das alles ist für dich.“
„Der Jäger ist also der Sohn des Zaren gewesen?“
„Ja.“
„Er ist ein bewunderungswürdiger Jüngling. Versteht er ein Handwerk?“
„ Anaït, er ist der Sohn des Zaren. Alle Untertanen sind seine Diener. Ein Handwerk zu verstehen, ist für ihn nicht notwendig.“
„Freilich, so ist es. Doch ein jeder Herrscher kann einmal zum Diener werden. Ein Handwerk sollte ein jeder verstehen – sei er Zar, Fürst oder Diener.“
Anaïts Worte erregten großes Staunen bei den Würdenträgern. Dem Hirten Aran aber gefielen sie sehr.
„Du willst also den Zarensohn nur deswegen nicht heiraten, weil er kein Handwerk versteht?“, fragte Waginak.
„Ja. Und nehmt alles, was ihr mitgebracht habt, wieder mit. Sagt dem Zarensohn, daß er meinem Herzen lieb ist. Doch – er möge mir verzeihen! lch habe geschworen, niemand zu heiraten, der nicht ein Handwerk versteht.“
Die Boten sahen, daß Anaït in ihrem Vorhaben unerschütterlich blieb, und verließen sie. Sie kehrten in das Schloss zurück und berichteten alles dem Zaren.
Als der Zar und die Zarin die Antwort Anaïts vernahmen, freuten sie sich sehr und dachten, jetzt werde Watchagan sein Vorhaben aufgeben. Doch Watschagan sprach:
„Anaït hat recht. Auch ich muss Meister in einem Fach sein, wie es die übrigen Menschen sind.
Der Zar berief alle seine Minister, und man kam einstimmig zu der Ansicht, daß das Weben von Brokat die einzige passende Beschäftigung für den Sohn eines Zaren sei.
Aus Persien wurde ein erfahrener Meister geholt, und Watschagan lernte bei ihm ein Jahr lang das Weben von Brokat. Als Abschluss webte er für Anaït ein kostbares Stück aus dünnen Goldfäden und sandte es ihr.
Als sie es in der Hand hielt, sprach sie zu den Boten:
„Das Sprichwort sagt: ‚Von der Laune des Schicksals wird er nicht bedroht, denn er wird zum Weber in Zeiten der Not.’ Sage dem Zarensohn mein ‚Ja’ und nimm diesen Teppich als Geschenk mit.
Dann rüstete man sich zum Hochzeitsfest und feierte sieben Tage und sieben Nächte lang.
III
Bald nach der Hochzeit jedoch verschwand der treue Freund und Diener Watschagans, Waginak. Man suchte lange nach ihm, bis man schließlich jede Hoffnung ihn zu finden, aufgab. Unterdessen starben der Zar und die Zarin in hohem Alter und Watschagan wurde Herrscher des Landes.
Eines Tages sprach Anaït zu ihrem Mann:
„Ich merke, Zar, dass du dein Land schlecht kennst. Die Menschen sagen dir nicht die volle Wahrheit. Sie sagen, es gehe alls gut. Doch vielleicht ist es gar nicht so. Von Zeit zu Zeit solltest du das Land durchwandern – einmal als Bettler, einmal als Arbeiter oder Händler.“
„Du hast recht, Anaït. Früher, da ich noch jagte, kannte ich das Volk besser. Doch wie soll ich jetzt weggehen? Wer soll in meiner Abwesenheit das Land regieren?“
„Ich!“, antwortete Anaït und fügte hinzu: „Es wird auch niemand etwas von deiner Abwesenheit erfahren.“
„Gut, ich werde mich gleich morgen auf die Wanderschaft begeben; kehre ich in zwanzig Tagen nicht zurück, so bin ich entweder tot, oder es ist mir sonst ein Unglück zugestoßen.“
IV
In einfacher Bauernkleidung durchwanderte nun Watschagan sein Reich. Er sah viel, hörte viel und geriet schließlich in die ausländisehe Stadt Perosch. Auf dem großen Platze wurde gerade Markt abgehalten, und rund um den Platz hatten die Handwerker ihre Werkstätten und die Kaufleute ihre Stände aufgeschlagen. Watschagan ließ sich hier nieder. Da sah er eine Menge Menschen, die einem Greis folgten. Der Greis schritt sehr langsam einher. Der Weg wurde für ihn frei gemacht, und bei jedem Schritt wurden ihm Ziegelsteine unter dieFüße geschoben. Den ersten besten fragte Watschagan, wer dieser Greis sei. Man antwortete ihm:
“Kennst du ihn nicht? Das ist unser großer Priester. Er ist so fromm, dass er mit dem Fuß nicht die Erde zu berühren wagt, um nicht versehentlich ein Insekt zu zertreten.
Dann wurde auf dem Platz ein Teppich ausgebreitet und der große Priester kniete auf ihm nieder um sich auszuruhen. Watschagan drängte sich näher hinzu um den Greis besser zu sehen und zu hören. Da bemerkte ihn der Priester und erkannte sofort, dass ein Fremder vor ihm stand.
“Wer bist du und was treibst du?”, fragte er ihn.
“Ich bin ein Arbeiter aus einem fremden Lande”, erwiderte Watschagan. “Ich bin hierher gekommen um zu arbeiten.”
“Gut, komm mit mir, ich werde dir Arbeit und reichen Lohn geben.”
Watschagan nickte stumm zum Zeichen seines Einverständnisses.
Der große Priester flüsterte seinen Begleitern etwas zu, diese gingen weg und kamen nach einer Weile mit Trägern wieder, die mit Vorräten verschiedenster Art bepackt waren. Nun erhob sich der große Priester und trat den Rückweg zu seiner Wohnstätte an. Watschagan folgte ihm stumm. So erreichten sie die Stadttore.
Hier segnete der große Priester das Volk, und es ging in die Stadt zurück. Der Priester, die Träger und Watschagan setzten ihren Weg fort und ereichten eine hohe Mauer. Der große Priester, holte einen riesigen Schlüssel hervor und schloss das Tor auf. Auf dem Platz hinter der Mauer erhob sich der Tempel. Die Träger setzten ihre Last ab, der große Priester führte sie und Watschagan zu der eisernen Tür des Tempels, öffnete sie und sprach:
“Tretet ein, hier gibt man euch Arbeit.”
Schweigend traten sie ein und befanden sich in einem finsteren, unterirdischen Gelass. Der große Priester verschloss hinter ihnen die Tür, der Rückweg war abgeschnitten. Watschagan und seine Gefährten schritten vorwärts.
V
Sie gingen lange und kamen zu einer Höhle, aus der ihnen Stöhnen und Sehreien entgegentönten. Menschen wanden sich hier in Todesqualen. In der Höhle standen riesige Kessel, in denen offenbar das Mittagsessen gekocht wurde. Watschagan beugte sich über einen Kessel und trat entsetzt zurück, ohne seinen Gefährten ein Wort zu sagen. Dann befanden sie sich in einem anderen Gang. Hier arbeiteten im Halbdunkel mehrere hundert Menschen; die einen stickten, die anderen webten, die dritten nähten. Ein vom Tode gezeichneter Mann sprach zu Watschagan:
“Der teuflische Priester, der euch hierher gelockt hat, hat auch uns in diese Unterwelt geführt. Ich weiß nicht, wie viele Jahre ich hier zugebracht habe, es gibt hier keinen Tag und keine Nacht, es gibt nur ein ewigwährendes Halbdunkel. Ich weiß nur, daß alle, die mit mir hierher kamen, gestorben sind. Hierher werden alle Menschen gelockt, ob sie ein Handwerk verstehen oder nicht. Die ein Handwerk verstehen, werden gezwungen zu arbeiten, bis sie sterben. Die kein Handwerk verstehen, führt man ins Sehachthaus, und sie geraten in diese fürchterlichen Kessel, die ihr gesehen habt. Der alte, teuflische Priester ist hier nicht allein; es gibt noch viele Priester, die ihm helfen.”
Als Watschagan den Sprecher ansah, erkannte er in ihm seinen treuen Waginak. Doch er gab sich nicht zu erkennen, damit die Wiedersehensfreude die schwache Lebensflamme nicht zum Verlöschen bringe.
VI
Als Waginak weggegangen war, fragte Watschagan seine Gefährten, wer sie seien und worauf sie sich verständen. Einer war Schneider, ein anderer Weber, die übrigen aber beschloss Watschagan als seine Gesellen auszugeben. Alsbald erklangen Schritte, und vor ihnen stand ein grimmig aussehender Priester, begleitet von einer Schar Bewaffneter.
“Seid ihr die Neuankömmlinge?”, fragte er.
“Ja, wir sind eure gehorsamen Diener”, antwortete Watschagan.
“Wer von euch versteht ein Handwerk?”
“Wir alle”, sagte Watschagan. “Wir weben einen herrlichen Brokat, der hundertmal kostbarer ist als Gold.”
“So teuer ist euer Brokat?”
“Ich lüge nicht. Du kannst, dich jederzeit davon überzeugen.”
“Wohlan. Ich werde mich überzeugen. Jetzt sagt, was ihr an Handwerkszeug und Material braucht, und dann geht in der gemeinsamen Werkstätte an die Arbeit.”
“Dort wird uns die Arbeit nicht gelingen”, antwortete Watschagan. “Wir können hier besser arbeiten. Und was das Essen anbetrifft, so wisse, dass wir kein Fleisch vertragen, wir sterben an Fleisch.”
“Gut”, sagte der Priester, “ich werde euch Brot und Gemüse schicken, doch sollte eure Arbeit nicht so kostbar werden, wie ihr sagt, so lasse ich euch ins Schlachthaus bringen und vor dem Schlachten noch gründlich foltern.”
Der Priester schickte ihnen das Essen, und Watschagan begann mit der Arbeit. In kürzester Zeit hatte er ein herrliches Stück Brokat gewebt und es mit wunderbar verschlungenen Mustern bedeckt. Diese Muster erzählten von allen Qualen der höllischen Unterwelt, doch konnte sie nicht jeder entziffern.
Der Priester war sehr zufrieden mit der Arbeit. Da sprach Watschagan zu ihm:
“Ich hatte dir gesagt, unser Gewebe wäre hundertmal kostbarer als Gold. Wisse denn, dass es noch einmal so kostbar ist, denn es ist mit geheimnisvollen Zeichen bestickt. Schade, die Menschen werden sie nicht zu würdigen wissen. Nur die weise Zarin Anaït könnte sie lesen.”
Als der gierige Priester den wahren Wert des Brokats erfuhr, beschloss er den herrlichen Stoff niemandem zu geben, auch nicht dem großen Priester. Er nahm den Stoff an sich und begab sich zur Zarin Anaït.
VII
Anaït regierte das Land gut, alle waren zufrieden und niemand wusste, dass der Zar abwesend war. Doch die Zarin selbst war in großer Sorge: zehn Tage waren schon seit dem Tage verstrichen, an dem Watschagan zurück sein wollte, und immer noch fehlte von ihm jede Nachricht.
Da berichtete man ihr eines Morgens von der Ankunft eines fremdländischen Händlers, der kostbare Waren mit sich führte. Anaït befahl ihn zu ihr zu bringen.
Ein Mann mit grauenerregendem Gesicht verneigte sich tief vor ihr und hielt ihr auf einem silbernen Tablett ein kostbares Stück goldenen Brokats entgegen. Sie sah flüchtig hin, ohne die Muster zu beachten, und fragte:
“Wie teuer ist dein Brokat?”
“Gnädige Herrin, er ist dreihundertmal teurer als Gold, wobei nur das Material und die Arbeit berechnet sind, meine Mühe und meinen Eifer wird deine Güte selbst belohnen.”
“So kostbar ist das Gewebe?“
“Gütige Zarin, eine unschätzbare Macht ist darin verborgen. Betrachte diese verschlungenen Muster, sie sind nicht einfach zur Zierde da, es sind wunderbare glückbringende Zeichen. Derjenige, der sie trägt, wird nie in seinem Leben Kummer und Sorgen kennenlernen.”
“Wahrhaftig?”, fragte Anaït, breitete den.Brokat aus und betrachtete ihn aufmerksam. Da entdeckte sie die verschlungenen Muster, die aus Buchstaben gebidet waren, und las schweigend:
“Meine unvergleichliche Anaït , ich schmacte in einer furchtbaren Hölle. Der Überbringer dieses Brokats. ist einer von den Teufeln, die diese Hölle bewachen. Waginak ist bei mir. Suche uns östlich von Perosch, unter dem Tempel, der von einer hohen Mauer umgeben ist. Ohne deine Hilfe sind wir alle verloren. Watschagan.”
Erschüttert las Anaït den Brief zum zweiten und zum dritten Male. Doch verriet sie ihre Erschütterung nicht, tat, als bewundere sie das kostbare Muster, und sprach:
“Du hast recht, die Muster deines Brokats besitzen eine tröstende Kraft. Am Morgen war ich noch traurig und bedrückt, jetzt aber ist mir leicht und froh. Dieser Brokat ist unschätzbar. Ich gäbe gern mein halbes Reich für ihn. Doch bringe mir den, der ihn gewebt hat, er müsste ebenso belohnt werden wie du.”
“Gütige Zarin”, erwiderte der gierige Priester, »ich weiß nicht, wer ihn gewebt hat. Ich habe ihn in Indien bei einem Juden gekauft, der ihn bei einem Araber gekauft hatte; woher aber der Araber ihn hatte – wer mag das wissen ?”
“Aber du hast doch eben selbst gesagt, was dich das Material und die Arbeit gekostet haben. Also hast du den Brokat nicht gekauft, sondern selbst in Arbeit gegeben.”
“Gnädigste Herrin, man hat mir die Preise in Indien genannt, ich aber . . . “
“Schweig!”, rief Anaït “Ich weiß, wer du bist! He, Diener! Ergreift diesen Menschen und werft ihn ins Verließ!”
VIII
Nachdem dieser Befehl ausgeführt war, stellte Anaït ein Heer zusammen, bestieg ihr stoIzes Ross, befahl laut “Vorwärts! Mir nach!” und sprengte nach Perosch. Dort zügelte sie ihr schäumendes Ross auf dem MarktpIatz und brachte es zum Stehen. Und so schön war sie, dass die Einwobner sie für ein göttliches Wesen hielten, das vom Himmel herabgestiegen sei.
“Zeigt mir euren TempeI!”, sprach Anaït zu ihnen.
Sie führten sie zum TempeI und gingen alle hinter ihr her. Die Priester dachten, die gIäubige Gemeinde käme, um zu beten, und öffneten das erste eiserne Tor. Anaït ritt hindurch und befahl, die Tempeltore zu öffnen. Da begriffen die Priester, dass ihre Missetaten entdeckt worden waren, und der älteste Priester stürzte sich auf die kühne Reiterin. Doch Anaïts kluges Ross erschlug ihn mit seinen Hufen.
Die Getreuen Anaïts wurden schnell mit den anderen Priestern fertig, während das VoIk ängstlich und verständnislos diesem Schauspiel zusah.
“Kommt näher!”, rief Anaït ihnen zu. “Seht, was in dem Allerheiligsten eurer Götter verborgen ist!”
Schnell waren die Tore erbrochen. Ein furchtbares Bild bot sich dem VoIke dar. Aus der Höhle krochen Menschen hervor, die Toten glichen. Viele konnten sich kaum auf den Beinen halten. Geblendet vom Licht, torkelten und schwankten sie einher in planlosem Durcheinander. Als letzte kamen Watschagan und Waginak. Sie gingen mit geschlossenen Augen, damit das blendende Tageslicht ihre Sehkraft nicht töte. Die Getreuen Anaïts drangen in das Innere der Hölle und trugen die Foltergeräte und die Toten heraus. Die Stadtbevölkerung half ihnen dabei.
Waginak erkannte Anaït und Watschagan. Er küsste die Hand seiner Herrin und weinte.
“Unvergleichliche Zarin, nun hast du uns errettet!”
“Du irrst dich, Waginak”, entgegnete Watschagan. »Die Zarin hat uns schon vor langer, langer Zeit errettet, bereits damals, als sie fragte: ,Versteht der Sohn eures Zaren ein Handwerk?‘ Weißt du noch, wie sehr du darüber gelacht hast?”
In alle Städte und Dörfer drang die Kunde von dem Abenteuer des Zaren Watschagan. In fernen, fremden Ländern sprach man sogar davon und alle lobten Watschagan und Anaït. Die Volkssänger dichteten ihnen zu Ehren Lieder – schade, dass diese Lieder nicht auf uns gekommen sind. Nur dieses Märchen von Watschagan und Anaït ist uns erhalten geblieben.
Armenisches Märchen