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Märchenbasar

Die Totenwache

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Einst hatte ein König vier Söhne, die in jugendlichem Übermut allerlei Streiche begingen. Der Wesir des Königs, der ein Todfeind der lustigen Brüder war, versuchte alles, um den König und seine Söhne völlig zu entzweien. Durch üble Nachreden und Verleumdungen gelang ihm dies auch, zumal der König gewöhnt war, sich ganz nach den Ratschlägen des Wesirs zu richten. Die vier Prinzen wurden eines Tages aus dem Land gewiesen. Zu Fuß mussten sie fortwandern. Geld hatten sie so wenig mit, dass sie nach ein paar Tagen schon völlig mittellos dastanden. Sie waren eben zur Hauptstadt eines fremden Reiches gekommen und mußten vor der Stadt unter einem mächtigen Baum ihr Nachtlager aufschlagen. Wovon sollten sie am nächsten Morgen leben? Gerade in dieser Nacht war ein reicher Kaufmann in der Stadt gestorben. Dessen Freunde machten sich auf die Suche nach einer Person, die bei der Leiche bis zur Zeit des Begräbnisses wachen sollte.
Sonderbarerweise fanden sie niemanden, der gewillt gewesen wäre, dies zu tun, dass man vielleicht außerhalb der Stadt einen Bettler oder Fremden finden könnte, welcher für einige Rupien diesen Dienst gern übernehmen würde. Er ging daher über die Stadtgrenze hinaus und traf die vier am Boden schlafenden Prinzen. „Ho, ho!“ rief er und weckte sie. „Möchte einer von euch heute Nacht bei einer Leiche wachen? Ein reichliches Geschenk steht dafür in Aussicht.“ „Oh ja, alle vier wollen wir wachen“, sagten die Prinzen, „aber wir verlangen für diesen Dienst viertausend Rupien.“ „Meinetwegen“, sprach der Mann. „Kommt mit mir!“ Und er führte sie zu dem Haus, in welchem die Leiche lag. Für die erste Nachtwache blieb einer der Prinzen auf, während die anderen schliefen. Als ungefähr eine Stunde verstrichen war, erhob sich plötzlich der Tote und begann zu sprechen. „Willst du mit mir Schach spielen?“ fragte er. „Warum denn nicht?“ entgegnete der Prinz. „Aber was ist der Einsatz?“ „Du zahlst mir zweitausend Rupien, wenn du verlierst!“ sagte der Leichnam. „Ja, aber was bekomme ich, wenn du verlierst!“ fragte der Prinz. „Oh, darum kannst du ohne Sorge sein“, sprach der tote Kaufmann. „Hier im Haus ist eine Fülle von Schätzen verborgen. Davon kannst du dir, wenn du willst, nehmen, soviel du tragen kannst.“ „Gut!“ sagte der Prinz, und das Spiel begann. Der Prinz schlug den toten Kaufmann zweimal und gewann daher viertausend Rupien. Er hätte noch ein drittes Spiel gewonnen, wenn nicht seine Wachzeit zu Ende gewesen wäre. Als er aufstand, um einen der Brüder zu wecken, lehnte sich der Tote zurück und war wieder starr und stumm. „Steh auf!“ sagte der Prinz zu seinem Bruder. „Du kommst jetzt an die Reihe zu wachen.
Paß aber auf, denn der Leichnam ist besessen!“ Der zweite Prinz hatte noch nicht lange gewacht, da wünschte er zu rauchen. Aber in dem Raum war kein Feuer, das musste er draußen holen. Den Toten aber durfte er andererseits keinen Augenblick aus den Augen lassen, denn viertausend Rupien hingen von dem sorgsamen Wachen dieser Nacht ab. „Ich weiß, was ich tun werde“, sagte der Prinz zu sich selbst. „Ich werde mir die Leiche mit meinem Gürtel auf den Rücken binden.“ Dies tat er und ging hinaus. Er fand auch eine Feuerstelle und zündete seine Pfeife an. Wie er um sich blickte, sah er in nicht allzu weiter Entfernung etwas Glühendes. Er ging darauf zu und sah zu seiner Überraschung einen einäugigen Teufel, der ihn mit diesem einzigen Auge anstarrte, als ob er ihn umbringen wollte. „Wer bist du?“ fragte der Prinz. „Was willst du hier? Geh weg oder ich töte dich und binde dich auf meinen Rücken, wie ich es eben mit dem da getan habe!“
Und er zeigte auf die Leiche auf seinem Rücken. Da erschrak der einäugige Teufel. Er bat den Prinzen um sein Leben und versprach zu tun, was er nur wünsche.
Der Prinz, der gut wusste, welchen Vorteil ein am Haus vorbeifließendes Wasser bedeutete, sprach: „Nun dann verlange ich, dass du den Lauf des Flusses, der jetzt da draußen fließt, so ablenkst, dass er an des Königs Palast vorbeiführt.“ „Gewiß will ich das tun“, sagte der Teufel und ging, um den Auftrag sofort auszuführen. Die zweite Nachtwache war vorüber. Daher legte der Prinz den Toten wieder auf sein Lager, weckte einen anderen Bruder, ermahnte ihn, auf der Hut zu sein, weil der Leichnam besessen sei, und ging schlafen. In ungefähr einer Stunde hörte der dritte Prinz die Stimme einer Hexe, einer Menschenfresserin. Es klang, wie wenn ein altes Weib weinte. Er befestigte den Toten auf seinem Rücken und ging hinaus, um zu sehen, was los sei. Vor dem Haus stand die Hexe und wollte sich auf ihn stürzen. Da zog er schnell sein Messer und hieb auf die Menschenfresserin ein. Die drehte sich um, um zu entschlüpfen, doch schnitt ihr der Hieb ein Bein ab. Dies blieb am Boden liegen, während die alte Hexe spurlos verschwand. „Sehr sonderbar!“ rief der Prinz, hob den Schuh des Weibes auf und steckte ihn ein. „Wie konnte sie nur mit einem einzigen Bein fortkommen?“ Dann begab er sich wieder hinein und wartete das Ende der Wache ab.
Als er den vierten Bruder weckte, warnte er ihn vor dem besessenen Leichnam und riet ihm, recht gut achtzugeben. Der vierte Prinz saß neben dem Toten. Da sah er durch das Fenster draußen einen Teufel vorbeilaufen, der eine geraubte Jungfrau mit sich schleppte. Schnell befestigte der Prinz die Leiche auf seinem Rücken und folgte dem Teufel. Dieser trug die jammernde Jungfrau etwa eine Meile weit auf einen Platz, setzte sie dort nieder und befahl ihr, sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann ging er in den Wald, um Holz für ein Feuer zu holen und die Geraubte zu kochen. Kaum war er weg, rannte der Prinz zur Jungfrau, die sich als Lieblingstochter des Königs zu erkennen gab. Der Prinz bat sie, mit ihm die Kleider zu tauschen und unverzüglich mit dem Leichnam des toten Kaufmanns in das Haus zu gehen und dort an seiner Stelle zu wachen. „Ich werde hier bleiben“, sagte er, „und alles in Ordnung bringen. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.“

Bald darauf kam der Teufel mit etwas Holz und einer riesigen Ölpfanne zurück. Im Nu war ein großes Feuer angemacht und die Ölpfanne darüber gesetzt. Als das Öl zu sieden anfing, sagte der Teufel zu der vermeintlichen Prinzessin, sie möge rund um die Pfanne herumgehen. Er wollte dabei sein Opfer in die Ölpfanne stoßen. Aber der Prinz erriet diese böse Absicht und meinte, das könne er nicht tun, wenn er es nicht vorher gesehen habe. Der Teufel erwiderte, dies sei gar nicht schwer, und begann um die Pfanne herumzugehen. Als er beim Prinzen vorbeikam, machte dieser einen Sprung und gab dem Teufel einen so kräftigen Stoß, daß er kopfüber in das siedene Öl der Pfanne hineinstürzte und mausetot war. Dann kehrt der Prinz in das Haus des verstorbenen Kaufmanns zurück, tauschte mit der Prinzessin wieder die Kleider und bat sie, in den Palast heimzugehen. Mit all diesen Vorgängen war gerade die Wachzeit des Prinzen zu Ende gegangen. Es war jetzt Morgen und die Verwandten und Freunde des toten Kaufmanns kamen und wollten den Wächtern die versprochenen viertausend Rupien aushändigen. Aber die Prinzen weigerten sich, das Geld anzunehmen, verlangten vielmehr den doppelten Betrag und drohten mit einer Klage beim König, wenn sie das Geld nicht erhielten. Den Grund ihrer Forderung wollten sie jedoch nicht erklären. Natürlich waren die Angehörige des Kaufmanns gegen diese ausbedungenen Summe. Daher gingen die vier Prinzen zum König und erzählten ihm ihren Fall. „Oh König“, sagten sie, „man hat uns Unrecht getan. Diese Leute schulden uns achttausend Rupien und wollen uns nur die Hälfte bezahlen. Wir bitten um ein Urteil in dieser Sache!“ Der König forderte nun alle Verwandten und Freunde des verstorbenen Kaufmanns auf, vor ihm zu erscheinen. Der Fall erregte großes Aufsehen in der Stadt, und der Saal war bald von einer neugierigen Menge erfüllt. „Was ist die Wahrheit bei dieser Sache?“ fragte der König. „Diese Männer behaupten, daß ihr ihnen achttausend Rupien schuldet und bloß viertausend bezahlen wollt.“ „Diese Männer sprechen nicht die Wahrheit“, erwiderten die Angehörigen des Kaufmanns. „Wir haben ihnen nur viertausend Rupien für die Totenwache bei unserem Verwandten versprochen. Über diese Abmachung haben wir viele Zeugen. Du kennst uns, oh König! Wir sind weder unehrlich, noch sind wir so arm, daß wir es nicht nötig hätten, jemanden um sein gutes Recht zu betrügen.“ „Hört ihr, was sie sagen?“ fragte der König die vier Prinzen. „Ja, König!“ erwiderten sie, „aber jene Leute wissen nicht, was seit dieser Abmachung vorgegangen ist. Darum höre uns an und richte dann! Während der Nacht spielte einer von uns mit dem toten Kaufmann Schach und gewann viertausend Rupien. Diese sollen, wie der Tote versprochen hat, aus den Schätzen bezahlt werden, die er in seinem Haus verborgen hat.“ „Ihr habt es gehört“, sprach der König zu den Angehörigen des Kaufmanns. „Ist das wahr?“ „Nein, König!“ entgegneten sie. „Wir wissen nichts von irgendwelchen verborgenen Schätzen.“

Da sandte der König einige Soldaten aus, um das Haus zu durchsuchen, und der Prinz, der die erste Wache gehalten hatte, mußte sie begleiten. In dem Haus des Kaufmanns wurde jeder Raum gründlich durchsucht, bis man zuletzt einen ungeheuren Schatz entdeckte, der unter dem Fußboden des Schlafzimmers versteckt war. Als der Prinz und die Soldaten zurückkamen und dem König den Schatz zeigten, war dieser sehr überrascht und befahl, daß die achttausend Rupien zu bezahlen seien. Dann trat der Prinz, der die zweite Wache gehalten hatte, vor und warf sich zu Füßen des Königs nieder. Er berichtete, wie er den einäugigen Teufel erschreckt und veranlaßt hatte, den Fluß in die Richtung des königlichen Palast abzulenken, Darüber war der König sehr froh und befahl, dem Prinzen eine angemessene Belohnung zu geben, Hierauf bat der dritte Prinz um die Erlaubnis zu sprechen und erzählte, wie er mit der Menschenfresserin gefochten und ihr ein Bein abgeschlagen hatte. Er überreichte dem König den Schuh der Hexe, der darüber so erfreut war, daß er auch diesem Prinzen eine reichliche Belohnung geben ließ. Zuletzt trat der vierte Prinz vor und enthüllte, wie er die Prinzessin aus den Krallen des nach Menschenfleisch gierigen Teufels errettet und das Ungeheuer in der Ölpfanne, worin er sein Opfer hatte braten wollen, getötet hatte. Als der König dies hörte, war er über die Maßen erstaunt und schickte sogleich nach seiner Tochter, damit sie angebe, ob dies wahr sei oder nicht. Und als festgestellt war, daß der Prinz die Wahrheit gesprochen hatte, stand der König auf und umarmte ihn. Dann übergab er ihm die Prinzessin und sprach: „Nimm sie, sie ist deine Frau! Schon viele haben um ihre Hand angehalten, und ich habe sie alle zurückgewiesen. Aber jetzt gehört sie dir. Sicher würde ich nie einen mutigeren und besseren Mann finden, der ihrer so wert ist wie du, der du sie von einem so schrecklichen Tod errettet hat.“ Da jubelte und jauchzte das ganze Volk. An diesem Tag und noch viele Tage nachher herrschte eine solche Festfreude in der Stadt, wie sie niemals früher gewesen und niemals später wieder war. Die vier Prinzen blieben einige Jahre in dem Land und wurden sehr begünstigt. Der Prinz, welcher die Prinzessin gerettet hatte, war der anerkannte Thronerbe, während seine drei Brüder die wichtigsten Ämter nach ihm bekleideten. Trotzdem waren sie nicht voll und ganz glücklich. Sie sehnten sich dach, das eigene Heimatland und ihren alten Vater wiederzusehen. Der König kannte ihre Wünsche, verweigerte aber deren Erfüllung, weil es fürchtete, daß sie abreisen und nie mehr wiederkehren würden. Zuletzt jedoch mußte er, bewegt durch ihr ernstes und beharrliches Flehen, ihnen die Abreise gestatten. Mit einem prächtigen und großen Gefolge zogen sie in ihr Heimatland und fanden dort ihren Vater noch am Leben. Er begrüßte sie mit Freuden und war stolz darauf, daß seine Söhne zu so tüchtigen Männern herangewachsen waren. Als er erfuhr, wie sehr sie von dem Wesir verleumdet worden waren und wie ihn dieser falsche Mann hintergangen hatte, enthob er ihn auf der Stelle seines Amtes. Unter herzlicher Teilnahme der ganzen Bevölkerung feierte man tagelang das Wiedersehen. Dann kehrte der mit der Prinzessin vermählte Prinz mit einem Bruder in das andere Reich zurück, während zwei Prinzen bei ihrem Vater blieben und ihn in allen Angelegenheiten tatkräftig unterstützten.
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Märchen aus Südindien

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