Einst lebten in einem kleinen Dorf der junge Mann Arne mit seiner Großmutter Amalie, die er liebevoll Malchen nannte. Beide waren fleißige Leute, bewirtschafteten gemeinsam ihren Garten und ein Stück Land.
Jedes Frühjahr borgte sich Arne vom Nachbarn zum Pflügen und Eggen den Rappen Hans.
„Wenn ich doch ein eigenes Pferd hätte“, seufzte er, legte sich den Riemen über die Schulter und trieb Hans an.
Abends, wenn er müde und hungrig die Hütte betrat, lächelte ihn Malchen aus ihrem faltigen aber liebevollen Gesicht an und stellte das Abendessen auf den Tisch. Sie selbst setzte sich in den Schaukelstuhl, den er ihr vor einigen Jahren gefertigt hatte, packte das Strickzeug aus und begann zu erzählen. Oh, sie wusste soviel und Arne hörte aufmerksam zu.
An diesem einen, besonderen Abend erzählte sie ohne das Strickzeug anzurühren. Ihre Hände zitterten mehr als an anderen Tagen. Malchen sah ihrem Enkel aufmerksam und ernst in die Augen. „Hör gut zu, mein lieber Junge, was ich dir nun mit auf deinen Weg geben will. In unserem Lande erzählt man sich eine wundersame Geschichte. Meine Mutter hat sie von ihrer Großmutter und sie von ihrer und immer so weiter. Also muss es wahr sein!“
„Was denn Malchen? Nun erzähl schon! Ich halte es vor Neugier kaum noch aus!“
„Bei allem Leid, das dir im Leben geschehen kann, behalte immer ein Säckchen Hirse in der Speisekammer. Wenn du glaubst, es geht nicht weiter, dann koche daraus einen Brei und stelle ihn ins offene Fenster. Dann wird dir geholfen werden. Doch du musst dich hüten, auch nur einen Löffel davon zu essen.“
Nach diesen Worten erhob sie sich schwerfällig und ging zu Bett.
Am nächsten Morgen blieb es ungewöhnlich still. Arne klopfte an die Kammer von Malchen, erhielt jedoch keine Antwort. Er öffnete leise die Tür und erschrak bis ins Mark. Seine geliebte Großmutter lag reglos und kalt in ihrem Bett. Er küsste zum Abschied ihre runzligen, kleinen Hände und flüsterte: „Du hast immer gesagt, wenn du einmal tot bist, kommst du ins Paradies und vom Sternenhimmel aus wirst du über mein Leben wachen. Lass mich nicht so allein!“
Malchen wurde zu Grabe getragen. Da Arne seine Großmutter sehr liebte, wollte er ihr eine ordentliche Beerdigung ausrichten und verschuldete sich beim Halsabschneider Nimmersatt in der Stadt mit einer größeren Summe.
„Ich hoffe, du bist mit mir zufrieden!“, flüsterte er traurig an ihrem Grab und warf Nelken hinein, Malchens Lieblingsblumen. Nach der Trauerfeier in der Dorfschänke liefen die Dorfbewohner auseinander, aber nicht ohne Arne noch einmal ihr tiefstes Mitgefühl auszudrücken.
In der Hütte legte er sich auf seinen Strohsack und dachte über sein bevorstehendes, einsames Leben nach. Da er zu keinem vernünftigen Gedanken kam, stand er am nächsten und auch am übernächsten und überübernächsten Tag nicht auf. Dann hielt er es nicht länger aus, sein Magen schien sich in einen hungrigen Wolf verwandelt zu haben. Ein paar Kräuter hingen noch über der Kochstelle.
„Schön, erstmal ein Tee, dann sehen wir weiter.“
Nachdem ihn der Tee ein wenig durchgewärmt hatte, begann er jeden Winkel nach Essbarem abzusuchen. In der hintersten linken Regalecke der Speisekammer fand er ein Säckchen mit Hirse und tanzte vor Freude damit in der Stube herum. Sogleich setzte er Wasser auf und schüttete die köstliche Hirse hinein, gab noch Salz und Kräuter hinzu und wartete ungeduldig, dass sie endlich gar werde.
Schon wollte er mit dem Löffel hineinlangen, da ertönten Malchens warnende Worte über ihm: „Was habe ich dir über die letzte Hirse erzählt?“
Flink legte Arne den Löffel zurück auf den Tisch. Sein Magen knurrte bereits wie ein ganzes Rudel Wölfe. Doch er stellte den Brei ins offene Fenster und legte sich wieder auf den Strohsack. Vor Hunger fand er keinen Schlaf, horchte angestrengt auf jedes Geräusch.
„Da! Da ist doch jemand!“, murmelte er leise und erhob sich, um zu sehen, wer da so genüsslich schmatzte.
„N’abend, Arne!“, grüßte ein, ja was eigentlich?
„Wer bist du denn?“, fragte Arne, sein eigener Hunger ließ die Stimme zittrig klingen.
„Ich bin der Plon. Habe den Duft von Hirsebrei gerochen. Weißt du, da kann ich einfach nicht widerstehen. Und wenn er in einem offenen Fenster steht, weiß ich, dass da jemand meine Hilfe benötigt. Jedes Mal sind es arme Leute, so wie du auch. Weißt du, reiche Leute würden nie Hirsebrei hergeben. Den essen sie dann doch lieber selbst. Schmeckt übrigens sehr gut, hast Kräutlein dazugegeben und Salz, hmmm!“
Arne wurde fast schwarz vor Augen, zum einen vor bösem Hunger und zum anderen vor Angst.
„Bist du etwa ein Drache?“, fragte Arne und kniff die Augen zusammen, um den Gast im Mondlicht besser erkennen zu können.
„Richtig! Ich bin Plon der kleine Hausdrache und helfe armen Seelen, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen. Aber die wenigsten wissen, wie man mich zu sich locken kann. Nun, du hattest eine wunderbare Großmutter, die dir mein Geheimnis noch erzählt hat. Jetzt stehe ich in deiner Schuld und werde dich reich belohnen. Was willst du lieber – einen Sack voll Gold oder immer Getreide?“, grinste der Drache hintergründig.
„Wenn ich wählen darf, dann würde ich schon das Getreide nehmen. Denn, wenn es niemals zur Neige gehen kann, kann ich soviel verkaufen, dass ich mehr als einen Sack Gold zusammenbringen könnte. Aber das will ich gar nicht. Den Leuten im Dorf wäre sicher geholfen, brauchten sie doch ihr Korn nicht mehr so teuer bei Nimmersatt kaufen. Auch könnte ich meine Schulden begleichen und mir ein Pferd kaufen und ein Haus bauen und dann vielleicht sogar eine Frau finden und Kinder würden im Haus umherlaufen und…“
„Ja, ja, Arne! Ist ja schon gut! Hab dich verstanden!“, lachte Plon und überreichte ihm einen Sack voll Korn. „Lass immer ein Schüsselchen am Boden des Sackes, dann wird er sich wieder füllen und du hast ausgesorgt bis an dein Lebensende.“
Nach diesen Worten war der Plon verschwunden und Arne rieb sich die Augen, da er glaubte, geträumt zu haben, doch der Sack mit dem Korn sprach für sich.
„Dankeschön, lieber Plon!“, beeilte sich Arne noch hinterherzurufen.
„Schon recht! Ich wünsch dir alles Gute!“, ertönte noch einmal die Stimme des Drachen, ohne das Arne ihn noch einmal sah.
Das Leben des jungen Mannes hatte sich mit einem Schlag geändert. Wohlhabend wurde er und verkaufte das Korn viel billiger als Nimmersatt. Dieser gönnte Arne den schnellen Wohlstand nicht, schon gar nicht das Haus, dass er sich gebaut hatte. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als der Sache auf den Grund zu gehen und klopfte eines Tages an die Tür des jungen Mannes. Freundlich wurde er eingelassen, mit einer Tasse Tee bewirtet und Arne erzählte ganz bereitwillig, wie er seiner Armut Herr wurde. Höchst zufrieden machte sich Nimmersatt auf den Heimweg und konnte den Abend kaum erwarten. Seiner Magd befahl er Hirsebrei zu kochen. Da sie so einfache Dinge jedoch nicht zubereiten konnte, fehlte es dem Brei an jeglichem Geschmack.
Der Abend kam und der Brei stand im offenen Fenster von Nimmersatt. Schon bald hörte er scharrende Geräusche und jemand schimpfte: „Was ist denn das? So einen faden Brei hab ich ja bei noch niemandem bekommen. Da muss die arme Seele aber sehr, sehr arm sein.“
„Oh, ja!“, jammerte der Halsabschneider. „Ich brauche Gold, hörst du? Viel Gold! Einen ganzen Sack bist du mir nun schuldig, da du meinen Brei gegessen hast!“
Plon schüttelte den Kopf, wackelte mit seinen großen Ohren und sagte: „Du bist arm? Ich glaube eher, du bekommst deinen Hals nicht voll! Aber du hast recht. Ich habe deinen Brei gegessen und stehe nun in deiner Schuld. So nimm denn den Sack mit Gold und ich will dich nie wieder sehen müssen!“
Nimmersatt rieb sich die Hände und war’s zufrieden. Als er den Sack jedoch öffnete, um sich an dem Glanz des Goldes zu erfreuen, strömten Mäuse heraus und liefen in alle Ecken des Hauses. Oh, wie erschrak sich der Halsabschneider, drohte mit der Faust hinter Plon her und hörte eine höhnisch lachende Stimme über sich.
„Hast den Brei nicht selbst gekocht! Brauch dich also nicht belohnen!“
„Es war aber meine Hirse, die du gegessen hast!“, schrie Nimmersatt wütend.
„Schlechter Brei hin oder her! Hast du allen ernstes geglaubt, dass ich einen Reichen für so einen schlechten Brei auch noch belohne? Weißt du, meine Hilfe können nur arme Menschen erwarten. Mit Reichen treibe ich meinen Spott wie du mit Mittellosen.“
Damit hatte Nimmersatt nicht gerechnet. Von Tag an ging es ihm immer schlechter. Niemand mehr lieh sich Geld bei ihm und sein Korn fraßen die Mäuse. Bald schon war er ein armer Mann, von dem sich alle Leute abwandten.
Arne hingegen wurde von den Dorfbewohnern geliebt, war er doch auch zu jedermann freundlich und hilfsbereit. Schon bald wurde er zum Bürgermeister gewählt, heiratete ein fleißiges, gutes Mädchen aus der Nachbarschaft, pflügte mit einem eigenen Pferd sein Land und mit den Jahren erfüllten sechs Kinder das Haus mit fröhlichem Lachen. Arne war nun wunschlos glücklich und das alles verdankte er seiner geliebten Großmutter Malchen und dem Hausdrachen Plon.
Quelle: Doris Liese