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Märchenbasar

Der Riese Gerneklein und der Jammerwind

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Vor langer, langer Zeit wohnte der Riese Gerneklein einsam und alleine hoch oben in den Bergen ganz in der Nähe des Himmels. Dort gab es nur Eis und Schnee und er lebte nicht gerne dort. Niemand mochte ihn und keiner kümmerte sich um ihn. Deshalb jammerte er den ganzen Tag und die wilden Winde trugen sein Jammern bis hinunter in den Kastanienwald.

Unten am Rande des Waldes saß die Hexe Bilsenkraut vor ihrer kleinen Hütte und bereitete Kräutertropfen gegen starke Schmerzen zu. Die Sonne schien strahlend hell vom Himmel, Vögel zwitscherten um die Wette und sie summte vergnügt eine Melodie. Plötzlich kam Wind auf. Er blies ihr das laute Jammern und Wehklagen des Riesen ins Gesicht, sodass sie sich die Ohren zuhalten musste. „Jammere nur“, schrie sie gegen den Wind an, „jammere nur, so laut du kannst. Ich will dich hier unten nicht haben. Auch wenn du noch so viel wimmerst! Du bist zu groß für unseren Kastanienwald. Ich werde deinen Wunsch niemals erfüllen und dich kleiner zaubern, nur damit du unter uns leben kannst. Bleib, wo du bist – da oben in deinen Bergen. Du verstehst dich nur aufs Zerstören, bist faul und wenn dich die Wut packt, bewirfst du uns mit Eis und Schnee. Du lässt unsere Kastanienbäume erfrieren, die Tiere leiden deshalb Hunger und dir macht es Spaß.“
Sie rannte in ihre Hütte, schlug die Türe zu und draußen tobte der Jammerwind weiter und ließ die Fensterläden klappern. Die Hexe Bilsenkraut war eine gute Hexe. Nur im Notfall machte sie von ihrer Hexenkunst Gebrauch. Alles, was sie besaß, teilte sie mit den Tieren und den Bewohnern des Kastanienwaldes. Sie hielt sich Ziegen für die Milch, Bienen für den Honig, sammelte Kräuter für Schmerzmittel und trocknete Beeren und Pilze für den Winter. Sie hatte für jeden ein offenes Ohr und in ihren warm blickenden Augen spiegelten sich Sonne, Mond und Sterne zugleich. In der Nacht hatte der Wind ohne Unterlass geheult und ihr keinen Schlaf gegönnt. Und auch jetzt noch am frühen Morgen gab er keine Ruhe. Irgendwie kam ihr das alles sonderbar vor, denn meistens beruhigte sich Gerneklein schon nach wenigen Stunden wieder.

Gegen Mittag bekam sie Besuch. Der Bürgermeister Aktenstaub kämpfte sich vom Wind getrieben auf ihre Hütte zu. Er war außer Atem und schrie schon von weitem: „Bilsenkraut, du musst was tun! Erfüll dem Riesen endlich seinen Wunsch und lass ihn hier im Kastanienwald leben. Der Jammerwind des Riesen ist nicht mehr zu ertragen. Die vielen Klagen, die auf meinem Schreibtisch landen, lassen ihn fast zusammenbrechen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen!“
„Ich auch nicht“, dachte die Hexe und schleuderte dem Bürgermeister empört entgegen: „Der Riese? Hier leben? Kommt nicht in Frage!“
„Ich befehle es dir“, brüllte Herr Aktenstaub zurück, „sonst lasse ich den Kastanienwald abholzen und deine Hütte abreißen. „Dann zaubere ich den Wald wieder hin und meine Hütte auch!“ „Dann holze ich eben wieder ab!“, brüllte der Bürgermeister zurück. „Und ich zaubere neu!“, geiferte Bilsenkraut. Vom Berg herunter fegte wieder ein heftiger Windstoß mit wehklagendem Gejammer. Er fegte dem Bürgermeister Aktenstaub die Mütze vom Kopf und nahm ihm die Luft zum Atmen. „Tu endlich was“, rief er der Hexe nun bittend zu und legte die Hände über die Ohren. Bilsenkraut überlegte kurz, dann sagte sie: „Also gut. Du hast gewonnen, Bürgermeister. Aber erwarte keine Hexenwunder von mir!“

Sie schlurfte zurück in ihre Hütte, um sich wärmer anzuziehen, denn es war ein langer Weg in der Kälte bis in die Berge. Als sie wieder nach draußen trat, wütete nicht nur der schreckliche Jammerwind sondern auch ein Schneesturm. Und das mitten im Sommer! Durch Wind und Schnee kämpfte sich die Hexe vorwärts. Im Wald standen die Tiere mit hängenden Köpfen zitternd und dicht gedrängt beieinander. Als die Hexe in ihre traurigen Augen sah, wusste sie, dass sie so schnell wie möglich, mit dem Riesen sprechen musste! Angesichts der Berge dachte sie: „Warum soll ich mich abplagen und da hinauf kraxeln?“ Sie murmelte einen Zauberspruch und schon landete sie oben vor des Riesen Höhle dicht unter dem Himmel. Sie trat ein. Der Riese Gerneklein lag auf seinem Bett. Er hielt seine Hände fest gegen die rechte, geschwollene Wange gepresst und wimmerte zum Gotterbarmen. Die gesamte Höhle schien zu beben. „Oooh! Die Hexe Bilsenkraut persönlich“, grummelte er kaum verständlich. „Hast ja lange gebraucht, um zu verstehen, warum ich euch den Sturm und den Schnee geschickt habe.“ Er stöhnte jämmerlich. „Du musst mir helfen! Ich habe schreckliche Zahnschmerzen!“ „Was? Nur Zahnschmerzen?“, schrie Bilsenkraut aufgebracht. „Und dafür bringst du meine Tiere und die Menschen im Tal samt Bürgermeister Aktenstaub in Aufruhr und Gefahr? Ich dachte, du schickst den Jammersturm, weil du noch immer den Wunsch, bei uns zu leben, erfüllt haben möchtest!“
„Ach, vergiss den Wunsch“, sagte der Riese kleinlaut. „Befreie mich nur von den fürchterlichen Zahnschmerzen. Danach wirst du mich nie wieder sehen oder hören.“
„Versprich nichts, was du nicht halten wirst“, antwortete die Hexe. „Falls ich dir helfe, lässt du uns also in Zukunft in Ruhe“, hakte sie nach. Der Riese wollte nicken, aber der Schmerz ließ es nicht zu. Bilsenkraut schnippte mit den Fingern und schon lag ein Fläschchen mit starken Schmerztropfen in ihrer Hand. Die stellte sie neben das Lager des Riesen. „Nimm diese Tropfen dreimal täglich vor dem Essen. Und wenn du wieder einmal Zahnschmerzen hast, erschreck uns nicht mit deinem Jammerwind, sondern komm gefälligst selbst hinunter in den Kastanienwald, du fauler Kerl. Aber das sage ich dir, kleiner machen werde ich dich nie. Und bei uns leben, kommt für dich auch nicht in Frage!

Die Zeit verging. Dreimal wechselte der Kastanienwald sein Blätterkleid. Alles war friedlich. Der Riese Gerneklein hielt sein Versprechen. Man sah und hörte nichts mehr von ihm. Wahrscheinlich hatte er seine Höhle oben in den Bergen bereits verlassen und war weitergezogen.

Eines Tages jedoch verdunkelte sich die Sonne, der Wald erzitterte, die Erde unter den Füßen bebte und die Tiere verkrochen sich vor Angst in ihren Bauten. „Das kann nur der Riese sein! Er kommt!“, dachte die Hexe Bilsenkraut, rannte schnell in ihre Hütte und verschloss die Haustüre. Mit klopfendem Herzen saß sie da und wartete. Es wurde wieder hell und gleichzeitig pochte es leise an ihre Fensterscheibe. „Bilsenkraut, hörst du mich? Ich bin es, Gerneklein. Ich möchte mit dir reden!“ „Was willst du von mir? Hast du wieder Zahnschmerzen? Brauchst du Hilfe?“, herrschte sie ihn an. „Oder denkst du wieder an Zerstörung und Unheil?“
„Weder noch. Bitte, hör mich an!“, bettelte er. „Der Winter steht bevor. Es ist so kalt dort oben in den Bergen und in meiner Höhle. Erfüll mir doch bitte meinen Wunsch und mach mich kleiner, damit ich hier bei euch leben kann. Ich könnte dir helfen die Tiere zu versorgen, deine Hütte vom Schnee befreien und dir auch sonst…! Ach, was erzähle ich denn! Ich bin alt geworden, friedlich und sehr einsam!“
Bilsenkraut hörte die Traurigkeit in seiner Stimme und ihr gutes Herz schmolz dahin wie im Frühling der Schnee. Sie murmelte einen Zauberspruch und öffnete die Haustüre. „Komm herein!“, bat sie ihn. Erst da bemerkte der Riese Gerneklein, dass er plötzlich durch ihre Haustüre passte.

Was der einstige Riese versprochen hatte, hielt er. Er half der Hexe, war nie mehr faul und die Tiere fanden bald Vertrauen zu ihm. Gerneklein hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so wohl gefühlt und beide entdeckten an den langen Winterabenden das Würfelspiel für sich.

Quelle: Rybka

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