Es geschah an einem ganz normalen Wintertag. Die Hexe Baba-Jaga erwachte mit höllischem Hirnsausen. Sie hatte am Tag zuvor – gemeinsam mit ihrem schwarzen Kater Flimm – ein ganzes Fass selbst gebrauten Kwass geleert. Der Samtpfote schien das Starkbier bestens bekommen zu sein, denn sie tat sich bereits wieder an einer Schale Milch gütlich. Baba-Jaga kroch vom Nachtlager, stolperte hinaus an die frische Luft und steckte ihren Kopf tief in den Schnee. Da dies der Hexe nur wenig Linderung brachte, beschloss sie, mit ihrem fliegenden Holztrog den weisen Doktor Uhu aufzusuchen.
,,Komm schon, du alter Mäuseschreck”, forderte sie den Kater auf, ,,wärme mir meinen Buckel.”
Mit einem geschmeidigen Sprung landete Flimm auf ihrer Schulter. Baba-Jaga murmelte einige seltsame Worte. Der Trog wirbelte um die eigene Achse, wurde schneller und schneller, bis er vom Boden abhob und in halsbrecherischem Tempo davonsauste. Plötzlich kam ein Riesenvogel auf die Reisenden zu, prallte heftig mit ihnen zusammen, das Fluggerät geriet augenblicklich ins Trudeln und stürzte wie ein Stein in die Tiefe. Kater Flimms räudiges Fell sträubte sich vor Schreck. Seine spitzen Krallen gruben sich tief in Baba-Jagas krummen Rücken.
,,Autsch! Du schwarzer Teufel bist wohl von Sinnen”, jaulte sie vor Schmerz. In diesem Moment schlug der Holztrog auf dem Boden auf und die Hexe flog in hohem Bogen durch die Luft. Nun zwitscherten zum Hirnsausen auch noch einige Vögelchen in ihrem Kopf. Ächzend rappelte sich das verbeulte Weib auf. Da sah es den Kater putzmunter herumstolzieren und neugierig die Gegend erkunden.
Aber wo, zum spuckenden Hühnerdieb, waren sie hingeraten?
Weder Schnee noch Kälte weit und breit, im Gegenteil, nur drückend feuchte Luft. ,,Hol mich doch der Moosgrummelgeist”, knurrte Baba-Jaga, ,,was sind das für merkwürdige, himmelhohe Bäume und weshalb hängen die vielen grünen Taue von ihnen herunter?”
Während Flimm an solch einem Ding fröhlich hin und her schwang, maunzte er: ,,Bei meinen Schnurrhaaren, das ist nicht unser heimischer Wald.”
,,Dieser mäusefressende Klugscheißer”, dachte die Alte und keifte:
,,Hab’ selber Augen im Kopf, brauche deine …”
Das Wort blieb ihr im Halse stecken, weil plötzlich ein wild aussehender, kleiner Kerl vor ihr stand. Er war fast nackt, trug vorn und hinten nur ein großes Blatt. Seinen braunen Körper zierten bunte Bemalungen. In der rechten Hand blitzte ein langer Speer. Heftig gestikulierend sagte er:
,,Komm mit … Magiba erwartet dich.”
Dann wandte der Kleine sich um und schritt voraus. Misstrauisch und neugierig zugleich trippelte Baba-Jaga flugs hinterdrein.
Sie gingen einen schmalen Pfad entlang bis zu einem lichten Platz. Dort standen im Kreise angeordnet runde Blätterhütten. Im Mittelpunkt der Siedlung thronte auf einem dicken Baumstumpf der Schamane Magiba. Er winkte die Fremdlinge zu sich heran.
,,Du”, sprach er mit finsterer Miene, auf die Hexe zeigend, ,,bist unerlaubt in mein Reich eingedrungen. Das kostet dich den Kopf und dein merkwürdiger Begleiter wird unsere hungrigen Bäuche füllen.”
Das war zu viel für Baba-Jaga. Wütend trat sie dicht an den Schamanen heran, spie kräftig vor ihm aus und schrie drohend:
,,Nichtswürdiger Halunke! Du wagst es tatsächlich, dich mit mir, der gefürchteten Baba-Jaga, anzulegen!”
Der kleine Buschmann sprang empört auf, reckte sich und rief triumphierend:
,,Gewiss wage ich es, denn du bist nur ein altes, hässliches und unverschämtes Weib. Aber ich … ich bin ein mächtiger Magier.”
Entsetzt bemerkte die Alte, dass plötzlich alle Anwesenden vor dem Schamanen Magiba unterwürfig niederknieten.
,,Bei meinem Hühnerbeinhäuschen”, dachte sie, ,,dieser Zwerg muss wohl über Zauberkräfte verfügen. Na, ich werde diesem Aufschneider den Garaus machen.”
Listig schmeichelte sie: ,,Oh, Großer Meister, da kann ich freilich nicht mithalten. Jedoch, wer von uns beiden der stärkeren Zauberkräfte mächtig ist, könnten wir doch in einem klitzekleinen Wettstreit herausfinden.”
,,Hm? Wohlan, messen wir unsere Kräfte. Allerdings nenne mir zuvor meinen Siegespreis.”
Gemurmel erfüllte die Luft, als acht Speerträger den Holztrog der Hexe herbeischleppten. Sobald diese ihren geliebten Flugbottich erblickte, kam ihr blitzartig eine Idee und sie antwortete:
,,Dort kommt dein Lohn.”
,,Du verhöhnst mich, alte Vettel. Dein Suppenkessel ist nichts wert!”, schrie der Schamane wütend.
,,Da irrst du dich aber gewaltig. Ich offenbare dir auf der Stelle sein Geheimnis.”
Während Baba-Jaga sprach, trat sie an das Gefäß und schickte sich an einzusteigen. Sogleich sprangen mehrere Buschmänner hinzu und hinderten sie daran.
,,Ich traue dir nicht, deshalb nehme ich deinen Platz ein und du erklärst mir, was zu tun ist”, sagte Magiba und kletterte in den Bottich.
,,Auch gut”, zischte die Hexe und wisperte einige magische Worte.
Der Trog wirbelte herum, hob ab und flog ein kurzes Stück, um sofort wieder zu landen. Obwohl dem Magier ein gehöriger Schreck in den Gliedern saß, sagte er:
,,Nun, sei es drum. Der fliegende Suppenkessel soll mein Preis sein.”
,,Einverstanden, Großer Meister, aber was erhalte ich, falls du mir unterliegst?”
,,Das wird nimmer geschehen”, lachte Magiba siegessicher.
,,Und wenn nun doch, was wäre mein Lohn?”, beharrte die Alte.
,,So sag an, Weib, welche Gunst käme dir recht?”
,,Ich bitte dich nur um eine unbedeutende Kleinigkeit. Verzichte darauf, meinen Kater zu verspeisen und lass ihn frei.”
,,Fällt dir denn nichts Gescheiteres ein? Aber das ist mir eh einerlei, da der Sieg jetzt schon mein ist. So vernimm nun die Bedingungen: Wir hexen sechs Mal, immer gleichzeitig. Dies geschieht hinter einer geflochtenen Blättermatte. Sollte es unentschieden ausgehen, dann entscheidet letztendlich ein Speerwurf auf den Gegner.”
,,Ich sehe, dass der Sieg tatsächlich bereits dein ist”, jammerte Baba-Jaga, ,,denn ich bin so gar nicht geübt im Speerwerfen. Also wirst du mich mit Sicherheit durchbohren und deshalb flehe ich dich an, gib meinem Kater im Augenblick des Gleichstandes die Freiheit.”
Gönnerhaft erwiderte der Schamane: ,,So sei es. Doch nun lass uns beginnen.”
Zwischen den beiden Gegnern wurde eine große Matte gespannt, dann blies eines der bemalten Kerlchen ins Horn und der Wettstreit nahm seinen Lauf. Baba-Jaga ließ eine hundert Fuß hohe Tanne aus dem Boden wachsen, aber der Lianenbaum des Schamanen ragte zwei Fuß höher hinauf. Danach fraß ein Mungo der Hexe Magibas Schlange auf. Beim nächsten Zauber erwiesen sich die Gegner als gleich stark.
Nach dem vierten Streich lag jedoch der Magier vorn. Die erschöpften Kämpfer einigten sich auf eine Verschnaufpause und überlegten unterdessen, wie sie einander am besten überlisten könnten. Schließlich setzten sie ihren Wettstreit fort. Beim sechsten Zauberstück herrschte Gleichstand und der Schamane Magiba verlangte ungeduldig:
,,Bringt geschwind die Speere herbei!”
,,Nur nicht so eilig, Großer Meister”, rief Baba-Jaga, ,,du darfst mich sogleich ins Jenseits befördern. Jedoch zuvor will ich meinem Flimm Lebewohl sagen.”
,,Abgemacht ist abgemacht”, nickte der Magier gönnerhaft. Eigenhändig übergab er der Alten ihren Kater. Diese riss dem Schamanen flugs ein Haar aus, rieb es kräftig an ihrem Kinn und verhexte Magiba in eine dicke Maus. Und – hast du nicht gesehen – wurde das Mäuslein blitzschnell von Flimm gefangen und aufgefressen.
,,Das hast du gut gemacht, mein Schwarzer”, lobte die Hexe. ,,Jetzt kehren wir zurück in unseren Wald und besuchen sofort Doktor Uhu.”
Gerade hatte Baba-Jaga es sich im Holztrog bequem gemacht und der Kater auf der Schulter Platz genommen, da verwandelten sich die kleinen Buschmänner plötzlich in Tiere.
,,Hol mich doch der Moosgrummelgeist”, wunderte sich die Alte, ,,ist das etwa ein neuer Zauber des Schamanen?”
,,Nein”, antwortete ein großer Ameisenbär, ,,jetzt sind wir endlich wieder das, was wir schon immer von Natur aus waren. Der boshafte Magier hatte uns in Menschen verwandelt, damit er uns besser knechten konnte.”
So hatte die Hexe Baba-Jaga doch tatsächlich, ohne es zu wollen, eine gute Tat vollbracht.
Quelle: Ulla Magonz