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Märchenbasar

Bakers Eichelhähergarn

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Als ich gerade anfing, die Hähersprache richtig zu verstehen, gab es hier einen kleinen Vorfall. Vor sieben Jahren war der letzte Mann in dieser Gegend außer mir weggezogen. Dort steht sein Haus – seither immer leer gewesen; ein Blockhaus mit Bretterdach – nur ein großer Raum und weiter nichts; keine Decke – nichts zwischen den Dachbalken und dem Fußboden. Na gut, eines Sonntagmorgens saß ich mit meiner Katze hier draußen vor der Hütte und sonnte mich und schaute zu den blauen Bergen und hörte zu, wie die Blätter so verlassen in den Bäumen raschelten, und dachte an die Heimat weit drüben in den Staaten, von der ich seit dreizehn Jahren nichts gehört hatte – als sich ein Eichelhäher auf dem Haus dort niederließ, eine Eichel im Schnabel, und sagte: „Hallo, ich glaube, ich hab was entdeckt.“ Als er sprach, fiel ihm die Eichel aus dem Schnabel und rollte natürlich das Dach hinunter, aber er kümmerte sich nicht darum; sein ganzer Sinn war auf die Sache gerichtet, die er aufgespürt hatte. Es war ein Astloch im Dach. Er legte den Kopf auf die Seite, machte ein Auge zu und legte das andere an das Loch, wie ein Opossum, das in einen Krug schaut; dann blickte er mit seinen glänzenden Augen auf, schlug ein- oder zweimal mit den Flügeln – das bedeutet Befriedigung, wissen Sie – und sagte: „Es sieht aus wie ein Loch, es ist wie ein Loch gelegen – verdammt, ich glaube, das ist ein Loch!“
Dann senkte er den Kopf und riskierte noch einen Blick; diesmal sah er restlos glücklich aus, wackelte mit Flügeln und Schwanz gleichzeitig und sagte: „Oh, das ist wohl kein dicker Hund, was? Hab ich ein Glück! – das ist doch ein maßlos schickes Loch!“

Also flog er hinab, holte sich die Eichel und brachte sie hinauf, ließ sie hineinfallen und bog gerade mit einem restlos verklärten Lächeln auf dem Gesicht den Kopf zurück, als er plötzlich in lauschender Haltung erstarrte und das Lächeln allmählich aus seiner Miene schwand wie der Hauch von einem Rasiermesser und der seltsame Ausdruck der Überraschung an seine Stelle trat. Dann sagte er: „Nanu, ich habe sie nicht fallen hören!“ Er neigte das Auge wieder an das Loch und schaute lange hinein, richtete sich auf und schüttelte den Kopf, trat auf die andere Seite des Loches und schaute von da aus erneut hinein, schüttelte wieder den Kopf. Er überlegte eine Weile, dann ging er der Sache nach – lief immer wieder um das Loch herum und starrte aus jeder Himmelsrichtung hinein. Keinen Zweck. Nun nahm er auf dem Dachfirst Denkerstellung ein und kratzte sich eine Minute lang mit dem rechten Fuß den Hinterkopf und sagte schließlich: „Also, mir ist das zu hoch, das steht fest; muss ein lausig langes Loch sein; aber ich hab keine Zeit, hier herumzutrödeln, die Arbeit ruft; ich denke, ’s wird schon stimmen – will’s jedenfalls hoffen.“

So flog er weg und holte noch eine Eichel, ließ sie hineinfallen und versuchte, das Auge schnell genug an das Loch zu bringen, um zu sehen, was aus ihr wurde, aber er kam zu spät. Er hielt das Auge fast eine Minute lang dran; dann richtete er sich auf und seufzte und sagte: „Verflixt, das begreife ich anscheinend nicht, überhaupt nicht, aber ich mach mich noch mal drüber her.“ Er holte eine neue Eichel und gab sich die größte Mühe, um zu sehen, was aus ihr wurde, aber er schaffte es nicht. Er sagt: „Also ich hab so ein Loch noch nie erlebt; ich bin der Meinung, es ist eine völlig neue Art von Loch.“ Dann fing er an, wild zu werden. Er hielt noch ein kurze Weile an sich, ging auf dem Dachfirst hin und her, schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin; aber bald überwältigten ihn seine Gefühle, und er ging durch und fluchte, bis er schwarz im Gesicht wurde. Ich habe noch nie einen Vogel gesehen, der wegen so einer Kleinigkeit soviel Wind gemacht hat. Als er damit fertig war, ging er zu dem Loch und schaute wieder eine halbe Minute lang hinein; dann sagte er: „Gut, du bist ein langes Loch und ein tiefes Loch und überhaupt ein mächtig komisches Loch – aber ich hab nun mal angefangen, dich aufzufüllen, und verdammt will ich sein, wenn ich dich nicht ganz auffülle, und wenn’s hundert Jahre dauert!“
Und damit zog er los. In Ihrem ganzen Leben haben sie noch nie einen Vogel so arbeiten sehn. Er kniete sich in die Arbeit wie ein Nigger, und wie er an die zweieinhalb Stunden Eicheln in das Loch hievte, das war eines der aufregendsten und erstaunlichsten Schauspiele, die ich je erlebt habe. Er hielt überhaupt nicht mehr an, um nachzusehen – er hievte sie bloß hinein und holte mehr. Na, schließlich konnte er kaum noch mit den Flügeln schlagen, so fertig war er. Noch einmal kam er abgekämpft an, schwitzend wie ein Krug Eiswasser, ließ seine Eichel hineinfallen und sagte: „Jetzt, schätz ich, hab ich dich inzwischen kleingekriegt.“ So bückte er sich, um nachzusehen. Ob Sie mir glauben oder nicht, als er den Kopf wieder hob, war er einfach bleich vor Wut. Er sagte: „Ich hab genug Eicheln hier reingeschaufelt, um die Familie dreißig Jahre lang zu ernähren, und wenn ich auch nur von einer davon ein Zeichen sehen kann, will ich binnen zwei Sekunden mit dem Bauch voll Sägemehl im Museum landen!“

Er hatte grade noch Kraft genug, um auf den First hinaufzukriechen und den Rücken gegen den Schornstein zu lehnen, und dann fasste er seine Eindrücke zusammen und fing an, sich alles von der Seele zu reden. In einer Sekunde hatte ich gemerkt, dass das, was ich in den Gruben fälschlich für Gefluche gehalten hatte, nur sozusagen die Grundbegriffe waren.
Ein anderer Häher kam vorbei und hörte seine Andachtsübungen und hielt an, um sich zu erkundigen, was los war. Der Schwergeprüfte erzählte ihm den ganzen Fall und sagte: „Also dort drüben ist ein Loch, und wenn du mir nicht glaubst, dann geh hin und sieh selbst nach.“ So ging dieser Kerl hin und sah nach und sagte: „Was hast du gesagt, wie viel hast du dort reingesteckt?“ – „Bestimmt nicht weniger als zwei Tonnen“, sagte der Schwergeprüfte. Der andere Häher sah wieder nach. Er kam anscheinend nicht dahinter, deshalb machte er ein Geschrei, und es kamen noch drei Häher. Sie untersuchten alle das Loch, sie ließen alle den Schwergeprüften alles noch mal erzählen, dann besprachen sie alle die Sache und gaben ebenso viele verschrobene Ansichten darüber ab, wie es eine durchschnittliche Gruppe von Menschen getan hätte. Sie riefen noch mehr Häher herzu; dann mehr und mehr, bis ziemlich bald diese ganze Gegend einen blauen Schimmer anzunehmen schien. Es müssen fünftausend gewesen sein; und so ein Schwadronieren und Diskutieren und Streiten und Fluchen hat man noch nie gehört. Jeder Häher dieses ganzen Haufens legte das Auge an das Loch und gab eine quatschigere Ansicht über das Geheimnis von sich als der Häher, der vor ihm hingegangen war. Sie untersuchten auch das ganze Haus. Die Tür stand halb offen, und schließlich stieß ein alter Häher zufällig auf sie und schaute hinein. Natürlich blies das das Rätsel auf der Stelle in den Wind. Da lagen die Eicheln, über den ganzen Fußboden verstreut. Er schlug mit den Flügeln und erhob ein Geschrei. „Kommt her“, sagte er, „kommt alle mal her; will tot umfallen, wenn dieser Trottel nicht versucht hat, ein Haus mit Eicheln anzufüllen!“ Sie kamen alle wie eine blaue Wolke herabgestoßen, und immer wenn einer auf der Tür landete und einen Blick hineinwarf, gab ihm die ganze Absurdität der Aufgabe, die sich der erste Häher vorgenommen hatte, den Rest, und er fiel hintenüber und erstickte vor Lachen, und der nächste Häher kam dran, und ihm ging es genauso.

Na, eine Stunde lang hockten sie hier auf dem Hausdach und den Bäumen herum und lachten schallend über die Sache wie die Menschen. Es hat keinen Zweck, mir zu erzählen, dass der Eichelhäher keinen Sinn für Humor hat, denn ich weiß es besser. Und Gedächtnis hat er auch. Sie haben Häher aus den ganzen Vereinigten Staaten hergebracht, um ihnen das Loch zu zeigen, jeden Sommer, drei Jahre lang. Andere Vögel auch. Und sie haben alle die Pointe erfasst, bloß eine Eule nicht, die aus Neuschottland gekommen war, um das Tal Yosemite zu besuchen, und diese Sache auf dem Rückweg mitnahm. Sie sagte, sie könnte nichts komisch daran finden. Aber sie war ja auch über das Tal Yosemite ziemlich enttäuscht.

Quelle:
Mark Twain

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