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Räbisch

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Eines Nachmittags verlief ich mich in den Wäldern, etwa eine Meile vom Hotel entfernt, und verfiel bald in träumerische Gedanken über sprechende Tiere und Kobolde und über verzauberte Menschen und den übrigen gemütlichen Märchenkram; und indem ich so meine Phantasie aufstachelte, kam ich schließlich so weit, mir einzubilden, dass ich hier und da tief in den Säulengängen des Waldes kleine, huschende Gestalten sehen könne.
Der Ort war für so etwas besonders gut geeignet. Ein Kiefernwald mit einem so dicken und weichen Teppich aus braunen Nadeln, dass ein Tritt nicht mehr Geräusch machte, als wenn man über Wolle schritte; die Baumstämme waren so rund und gerade und glatt wie Säulen und standen dicht beisammen; bis etwa 25 Fuß über dem Boden wiesen sie keine Äste auf, und von da an aufwärts waren sie so dicht verzweigt, dass kein Sonnenstrahl hindurchdringen konnte.
Draußen war die Welt hell vom Sonnenlicht, aber hier drinnen herrschten ein dunkles und sanftes Zwielicht und eine so tiefe Stille, dass ich meine eigenen Atemzüge zu hören glaubte.
Als ich 10 Minuten lang dagestanden, sinnend und phantasierend mein Gemüt auf den Ort eingestimmt und in die rechte Verfassung gebracht hatte, das Übernatürliche zu genießen, stieß plötzlich ein Rabe über meinem Kopf ein heiseres Krächzen aus. Das schreckte mich auf; und dann war ich wütend, weil ich aufgeschreckt war. Ich schaute hinauf, und das Tier saß auf einem Ast direkt über mir und schaute auf mich herunter. Ich empfand etwas von dem gleichen Gefühl der Erniedrigung und Beleidigung, das man verspürt, wenn man entdeckt, dass ein fremder Mensch einen in der Zurückgezogenheit verstohlen beobachtet und im Geiste kritische Anmerkungen dazu gemacht hat.
Ich beäugte den Raben, und der Rabe beäugte mich. Ein paar Sekunden wurde nicht gesprochen. Dann schritt der Vogel ein Stückchen auf seinem Zweig entlang, um besser sehen zu können, lüftete die Flügel, stieß den Kopf weit unter Schulterhöhe hinab auf mich zu und krächzte wieder – ein Krächzer mit einem deutlich beleidigendem Klang. Hätte er englisch gesprochen, so hätte er nicht offener sagen können, als er es auf räbisch tat: „Na, was willst du denn hier?“ Ich kam mir so albern vor, als wäre ich von einem höher verantwortlichen Wesen bei einer gemeinen Handlung erwischt und dafür gerügt worden. Ich gab jedoch keine Antwort; ich wollte mich doch nicht mit einem Raben auf einen Wortwechsel einlassen.
Der Gegner wartete eine Weile, wobei er die Schultern immer noch erhoben, den Kopf zwischen ihnen herabgestreckt und das scharfe, glänzende Auge auf mich gerichtet hielt; dann stieß er noch zwei oder drei Beleidigungen aus, die ich nicht weiter verstehen konnte, nur wusste ich, dass ein Teil davon aus Redensarten bestand, die in der Kirche nicht gebräuchlich sind.
Ich gab noch immer keine Antwort. Nun hob der Gegner den Kopf und rief. Ein Antwortkrächzen kam nahe aus dem Wald – offensichtlich ein fragendes Krächzen. Der Gegner erstattete eifrigst Bericht, und der andere Rabe ließ alles stehen und liegen und kam an.
Die beiden saßen nebeneinander auf dem Zweig und sprachen so ungezwungen und verletzend über mich, wie zwei große Naturforscher über eine neue Wanzenart sprechen würden. Das wurde immer peinlicher. Sie riefen einen weiteren Freund herzu. Das war zuviel. Ich erkannte, dass sie im Vorteil waren, und so beschloss ich, mich aus der Affäre zu ziehen, indem ich mich davonmachte. Sie freuten sich über meine Niederlage so sehr, wie es nur irgendwelche niedrigen Weißen hätten tun können. Sie reckten die Hälse und lachten mich aus (denn ein Rabe kann lachen, genau wie ein Mensch), sie kreischten beleidigende Bemerkungen hinter mir her, solange sie mich sehen konnten. Es waren nur Raben, ich wusste das; was sie über mich dachten, war völlig unwichtig – und doch, wenn sogar ein Rabe hinter einem herruft: „Doller Hut!“, „Mann, zieh die Weste glatt!“ und solche Sachen, dann tut es einem weh und demütigt, und mit spitzfindigen Beweisführungen und hübschen Argumenten kommt man nicht darüber hinweg.
Natürlich sprechen Tiere miteinander. Das ist gar keine Frage; aber ich vermute, es gibt sehr wenige Leute, die sie verstehen können. Ich habe nur einen Mann gekannt, der das konnte. Dass er sie verstand, wusste ich freilich nur, weil er selbst es mir erzählt hat. Es war ein argloser Silbergräber mittleren Alters, der viele Jahre in einer einsamen Ecke Kaliforniens in den Wäldern und Bergen verbracht und die Lebensweise seiner einzigen Nachbarn, der Tiere und Vögel, studiert hatte, bis er glaubte, jede ihrer Bemerkungen genau übersetzen zu können. Nach Jim Baker besitzen manche Tiere nur eine begrenzte Bildung und verwenden nur sehr einfache Wörter, kaum jemals einen Vergleich oder eine blumenreiche Wendung; während gewisse andere Tiere einen großen Wortschatz, vortreffliche Sprachbeherrschung und einen gewandten und flüssigen Vortragsstil aufweisen. Letztere reden deswegen eine ganze Menge; es macht ihnen Spaß; sie sind sich ihrer Begabung bewusst und lieben es, „anzugeben“. Baker sagte, er sei nach langer und sorgfältiger Beobachtung zu dem Schluss gekommen, dass die Eichelhäher die besten Sprecher seien, die er unter Vögeln und Vierfüßlern gefunden habe. Er sagte:
‚An einem Eichelhäher ist mehr dran als an jedem anderen Tier. Er besitzt mehr Stimmungen und mehr verschiedenartige Gefühle als andere Tiere; und merken Sie sich das: was ein Eichelhäher, fühlt, kann er auch in Sprache ausdrücken. Und auch nicht bloß in gewöhnlicher Sprache, sondern in fließender regelrechter Schriftsprache, die noch dazu von Bildern strotzt – einfach strotzt! Und was die Beherrschung der Sprache angeht – na, Sie erleben es nicht, dass ein Eichelhäher stecken bleibt und nach einem Wort sucht. Das hat noch kein Mensch erlebt. Die Worte sprudeln direkt aus ihm heraus! Und noch etwas: Ich habe schon vieles beobachtet, und es gibt keinen Vogel und keine Kuh oder sonst etwas, das so eine gute Grammatik spricht wie der Eichelhäher. Man könnte ja sagen, eine Katze spricht gute Grammatik. Gut, das stimmt – aber lassen Sie nur mal eine Katze sich aufregen; lassen Sie mal eine Katze nachts mit einer anderen Katze auf dem Schuppen raufen, und Sie bekommen eine Grammatik zu hören, dass Sie die Maulsperre kriegen. Unkundige denken, der Krach, den raufende Katzen machen, wirkt so unangenehm, aber der ist es nicht; es ist die scheußliche Grammatik, die sie sprechen. Häher habe ich aber nur ganz selten schlechte Grammatik sprechen hören; und wenn sie es tun, schämen sie sich wie ein Mensch; gleich halten sie den Schnabel und hauen ab.
Man könnte den Häher einen Vogel nennen. Na ja, das ist er gewissermaßen auch – vielleicht, weil er Federn trägt und keiner Kirche angehört; aber sonst ist er genauso menschlich wie Sie. Und ich will Ihnen sagen, warum. Die Geistesgaben, Instinkte, Gefühle und Interessen eines Hähers sind allumfassend. Ein Häher hat nicht mehr Grundsätze als ein Kongressmann. Ein Häher lügt, ein Häher stielt, ein Häher täuscht, ein Häher betrügt, und viermal von fünfen bricht ein Häher sein feierliches Wort. Die Heiligkeit eines Versprechens ist etwas, das Sie keinem Häher eintrichtern können. Na, und zu alledem kommt noch eine andere Sache: Ein Häher überbietet jeden Herrn auf den Silbergruben im Fluchen. Man denkt, eine Katze kann fluchen. Schön, kann sie; aber geben Sie einem Eichelhäher einen Anlass, der seine versteckten Reserven herausfordert, und wo bleibt Ihre Katze? Erzählen Sie mir nichts – ich weiß zu viel darüber. Und da ist noch etwas: In dem einen kleinen Punkte des Schimpfens – einfach anständigen, ordentlichen, gründlichen Schimpfens – schlägt der Eichelhäher alles, menschlich oder göttlich. Jawohl, Sir, der Eichelhäher ist alles, was der Mensch auch ist. Der Häher kann weinen, der Häher kann lachen, der Häher kann sich schämen, der Häher kann denken und planen und diskutieren, der Häher liebt Klatsch und Verleumdung, der Häher hat Sinn für Humor, der Häher weiß genauso gut wie Sie, wann er sich lächerlich macht – vielleicht noch besser. Wenn der Häher nicht menschlich ist, sollte er sein Schild lieber einholen, so ist das. Jetzt werde ich Ihnen eine vollkommen wahre Begebenheit von ein paar Eichelhähern erzählen.‘

Quelle:
Mark Twain

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