Billa war arm. Die Nachbarin, eine alte Frau, passte auf die Kinder auf, wenn Billa von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus ging, um zu betteln. Meistens schlug man ihr die Türe vor der Nase zu und daheim warteten vier hungrige Mägen auf einen Kanten Brot. Heute war es nicht anders. Kein Krümel von einem Stück Brot steckte in ihrem Beutel.
Gegen Mittag erreichte sie den Wald, wenigstens ein paar Pilze wollte sie finden. Doch Billa wurde müde. Der Magen knurrte und ihre Füße wollten sie nicht mehr tragen. So legte sie sich im Wald unter einer Eiche nieder, um auszuruhen. Schon bald fielen ihr die Augen zu.
Am späten Nachmittag wurde Billa wach, weil sie eine Stimme hörte.
„Kann ich dir helfen?“ Vor ihr stand ein Männchen mit einer lustigen roten Zipfelmütze auf dem Kopf und einer ebenso roten Knollennase im Gesicht.
„Ich bin Huschel, der Wichtel“, sagte es. „Du hast dich in mein Reich verirrt. Fast wäre ich über dich gestolpert!“
„Verzeihung!“, sagte Billa und stellte sich schwankend auf die Füße.
Huschel musterte sie von oben bis unten und fragte: „Hast du Hunger?“
Sie nickte.
„Dann komm mit! Es ist nicht weit!“
Im Wichtelreich war alles sehr klein und zierlich. Und weil sie in keines der Häuschen passte, setzte sie sich mitten auf dem Dorfplatz auf die Erde. Aus allen Ecken wuselten Wichtel heran und brachten die feinsten Leckerbissen und stellten sie auf aneinander gelegte winzige Decken ab. Die Männlein setzten sich nun ebenfalls auf den Boden und es begann ein ausgelassenes Miteinander. Billa aß sich satt, aber mit einem schlechten Gewissen, weil sie an ihre hungrigen Kinder dachte. Sie bedankte sich alsbald und wollte gehen. Da kam Huschel. Er setzte sich neben sie und schaute ihr in die Augen. „Ich habe noch eine große Bitte an dich. Erzähl uns doch von den Menschen. Wie leben sie? Ist es bei euch genauso wie bei uns?“
„Wo soll ich beginnen?“, dachte Billa. “So viel Zeit habe ich nicht, um alles zu berichten. Was interessiert euch denn am meisten?“
„Wir wüssten gerne, wie ihr mit den wechselnden Jahreszeiten zurecht kommt? Wie verbringt ihr das ganze Jahr?“, forderten die Wichtel.
Billa begann zu erzählen: „In den ersten Monaten des Jahres ist es noch sehr kalt. Schnee bedeckt die Felder mit einem großen, weißen Teppich. Der Frost bemalt alle Bäume silbrigweiß. Es wird früh dunkel. Wir zünden Kerzen an, erzählen uns Geschichten und ruhen uns aus. Dann kommt der Frühling. Es wird wärmer. Alles wird grün. Vögel singen und bunte Blumen erblühen in den schönsten Farben.“
„Und was kommt dann?“, wollte das kleinste Wichtelchen wissen.
„Ja“, sagte Billa, „dann kommt der Sommer. Die Sonne scheint, es ist länger hell. Das Getreide reift. Obst und Gemüse wächst. Die Kinder brauchen nicht viel zum Anziehen, gehen schwimmen und laufen barfuß. Aber manchmal gibt es auch Gewitter mit Donner und Blitz und es regnet dazu in Strömen.“ Billa machte eine Pause.
„Und dann? Was kommt dann?“, Huschel war ganz aufgeregt.
„Dann kommt der Herbst. Die Reichen ernten ihr Obst und Gemüse. Die Armen gehen in den Wald Holz sammeln und alles, was man essen kann oder gehen betteln, denn sonst verhungern wir. Dann fängt alles wieder von vorne an.“
Die Wichtelchen schwiegen betroffen. Plötzlich sprang der kleinste Wichtel auf, lief in ein Häuschen und kam bepackt wieder heraus, Die anderen begriffen schnell, liefen ebenfalls in ihre Häuschen und beschenkten die junge Frau mit vielen guten Dingen. Ihr Beutel wurde immer voller und schwerer. Zuletzt überreichte Huschel eine Kanne Milch für ihre Kinder, begleitete sie bis zum Waldrand und wünschte ihr viel Glück für den Heimweg.
Es dunkelte bereits, als Billa zu Hause ankam. Die Kinder strömten ihr entgegen und staunten, was die Mutter da alles aus dem Beutel auf den wackligen Tisch packte. Der alten Nachbarin liefen die Tränen der Freude die hohlen Wangen herab. Hungrig langten alle tüchtig zu. Nun wollte Billa noch Milch aus der Kanne einschenken, doch statt Milch klimperten lauter Goldstücke in die Becher. Glücklich und zufrieden kuschelten sie sich an diesem Abend auf den Strohsäcken aneinander. Auch die Alte sollte an diesem glücklichen Abend nicht allein sein und holte ihren Strohsack herüber. Aber sie sollte nicht nur an diesem Abend, nein, sie sollte nie mehr allein sein und zog ganz zu ihnen. Liebevoller als sie konnte auch keine leibliche Großmutter sein. Nun brauchten sie nie mehr hungern, auch im Winter nicht mehr frieren und gaben den Dürftigen gern ein Almosen.
Tilla konnte sich nicht erklären, woher der Reichtum ihrer Schwester so plötzlich kam. Sie bohrte solange, bis Billa ihr die ganze Geschichte genau erzählte.
Ein paar Tage später machte sich Tilla auf den Weg. Sie ging zu dem besagten Wald, legte sich nieder und wartete. Sie schlief aber nicht, sondern tat nur so und wartete auf Huschel.
„Schon wieder eine Verirrte“, dachte er, als er die Frau auf dem Waldboden liegen sah.
„Kann ich dir helfen?“, wollte er wissen.
Tilla rieb sich gespielt die Augen wie eine gute Schauspielerin.
„Hast du Hunger?“, wollte Huschel wissen.
„Nein“, sagte Tilla, „für heute bin ich satt. Aber ich bin sehr arm und bräuchte Hilfe für meine fünf Kinder.“
Huschel bat Tilla, mit in sein Wichtelreich zu kommen. Dort setzte auch sie sich mitten auf dem Dorfplatz auf die Erde. Alles geschah, wie die Schwester es erzählt hatte. Ungeduldig wartete sie, dass Huschel sie endlich über die Menschen ausfragen würde. Und das tat er auch.
„Wie verbringt ihr das Jahr? Ist es bei euch genauso wie bei uns? Erzähl uns ein wenig davon!“
„Nun, im Winter frieren wir erbärmlich. Die Straßen sind glatt und voll Schnee. Wir müssen in der Stube bleiben und langweilen uns. Der Frühling begreift einfach nicht, dass er warm zu sein hat. Er führt sich meist auf wie der Winter. Der Sommer lässt uns mit seiner Hitze beinahe ersticken. Und wenn wir uns endlich an die Hitze gewöhnt haben, kommt der Herbst. Dann fallen die Blätter von den Bäumen. Alles ist grau. Selten scheint die Sonne. Ach, es ist ein Graus!“, schimpfte Tilla drauflos.
„Danke“, sagte Huschel. „hier haben wir ein Geschenk für dich. Es ist nicht viel, nur ein Krug voll Milch für deine fünf Kinder!“
Er brachte sie bis zum Waldesrand und wünschte ihr viel Glück für den Heimweg.
Tilla konnte nicht schnell genug nach Hause kommen. Sie zog alle Gardinen zu, damit ja niemand von ihrem Reichtum erfuhr. Gierig öffnete sie die Kanne. Ihr Wutanfall war im ganzen Dorf zu hören, denn statt Goldtaler hüpften hunderte von grünen Fröschen heraus. Sie begannen so laut zu quaken, dass Tilla schnell alle Fenster und Türen öffnete, damit die Frösche das Weite suchen konnten. Mit ihrer Schwester wechselte sie ob der Schande kein einziges Wort mehr.