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Märchenbasar

Bulemanns Haus

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In einer norddeutschen Stadt in der sogenannten Düsternstraße steht ein verfallenes Haus. Es ist nur schmal, aber drei Stockwerke hoch; in der Mitte desselben vom Boden bis fast an die Spitze des Giebels, springt die Mauer in einem eckerartigen Ausbau vor, welcher für jedes Stockwerk nach vorne und an den Seiten mit Fenstern versehen ist, so dass in hellen Nächten der Mond hineinscheinen kann. Seit Menschengedenken ist nieman in dieses Haus hinein – und niemand herausgegangen, der schwere Messingklopfer an der Haustür ist fast schwarz von Grünspan, zwischen den Rotzen der Treppensteine wächst jahraus, jahrein das Gras. Wenn ein Fremder fragt: „Was ist denn das für ein Haus?“, so erhält er gewiss zur Antwort: „Es ist Bulemanns Haus.“, wenn er aber weiter fragt: „Wer wohnt denn darin?“, so antwortet er eben gewiss: „Es wohnt so niemand darin.“ Die Kinder auf den Straßen und die Ammen an der Wiege singen:
„In Bulemanns Haus,
In Bulemanns Haus,
Da gucken die Mäuse
zum Fenster hinaus.“
Und wirklich wollen lustige Brüder, die von nächtlichen Schmäusen dort vorbeigekommen, ein Gequicke wie von unzähligen Mäusen hinter den dunkeln Fenstern gehört haben. Einer, der im Übermut den Türklopfer anschlug, um den Widerhall durch die öden Räume schollern zu hören, behauptet sogar, er habe drinnen auf den Treppen ganz deutlich das Springen großer Tiere gehört. „Fast“, pflegt er, dies erzählend hinzuzusetzen, „hörte es sich an wie die Sprünge der großen Raubtiere, welche in der Menageriebude auf dem Rathausmarkt gezeigt wurden.“ Das gegenüberstehende Haus ist um ein Stockwerk niedriger, so dass nachts das Mondlicht ungehindert in die oberen Fenster des alten Hauses fallen kann. Aus einer solchen Nacht hat auch der Wächter etwas zu erzählen; aber es ist nur ein kleines altes Menschenantlitz mit einer bunten Zipfelmütze, das er droben hinter den runden Erkerfenstern gesehen haben will. Die Nachbarn dagegen meinen, der Wächter sei wieder einmal betrunken gewesen; sie hätten drüben an den Fenstern niemals etwas gesehen, das einer Menschenseele gleich gewesen. Am meisten Auskunft scheint noch ein alter, in einem entfernten Stadtviertel lebenden Mann geben zu können, der vor Jahren Organist in der St. Magdalenenkirche gewesen ist. „Ich entsinne mich“, äußerte er, als er einmal darüber befragt wurde, „noch sehr wohl des hageren Mannes, der während meiner Knabenzeit allein mit einer alten Weibsperson in jenem Haus wohnte. Mit meinem Vater, der ein Trödler gewesen ist, stand er ein paar Jahre lang in lebhaftem Verkehr und ich bin derzeit manchesmal mit Bestellungen an ihn geschickt worden. Ich weiß auch noch, dass ich nicht gern diese Wege ging und oft allerlei Ausflucht suchte; den selbst bei Tage fürchtete ich mich, dort die schmalen dunklen Treppen zu Herrn Bulemanns Stube im dritten Stock hinaufzusteigen. Man nannte ihn unter den Leuten den „Seelenverkäufer“, und schon dieser Name erregte mir Angst, zumal daneben allerlei unheimlich Gerede über ihn im Schwange ging. Er war, ehe er nach seines Vaters Tode das alte Haus bezogen, viele Jahre als Supercargo auf Westindien gefahren. Dort sollte er sich mit einer Schwarzen verheiratet haben; als er aber heimgekommen, hatte man vergebens darauf gewartet, eines Tages auch jene Frau mit einigen dunklen Kindern anlangen zu sehen. Und bald hieß es, er habe auf der Rückfahrt ein Sklavenschiff getroffen und an den Kapitän desselben sein eigen Fleisch und Blut nebst ihrer Mutter um schnödes Gold verkauft. – „Was Wahres an solchen Reden gewesen, vermag ich nicht zu sagen“, pflegte der Greis hinzuzusezten; „denn ich will auch einem Toten nicht zu nahe treten; aber so viel ist gewiß, ein geiziger und menschenscheuer Kauz war es; und seine Augen blickten auch, als hätten sie böse Taten zugesehen. Kein Unglücklicher und Hilfesuchender durfte seine Schwelle betreten; und wann immer ich damals dortgewesen, stets war von innen die eiserne Kette vor die Tür gelegt. – „Wenn ich dann den schweren Klopfer wiederholt hatte anschlagen müssen, so hörte ich wohl von der obersten Treppe herab die scheltende Stimme des Hausherrn: „Frau Anken! Frau Anken! Ist sie taub! Hört sie nicht, es hat geklopft!“ Alsbald ließen sich aus dem Hinterhause über Pesel und Korridor die schlurfenden Schritte des alten Weibes vernehmen. Bevor sie aber öffnete, fragte sie hüstelnd: „Wer ist es denn?“, und erst, wenn ich geantwortet hatte: „Es ist der Leberecht!“
wurde die Kette drinnen abgehakt. Wenn ich dann die siebenundsiebzig Treppenstufen – denn ich habe sie einmal gezählt – hinaufgestiegen war, pflegte Herr Bulemann auf dem kleinen dämmerigen Flur vor seinem Zimmer schon auf mich zu warten; in dieses selbst hatte er mich nicht hineingelassen. Ich sehe ihn noch, wie er mit seinem gelbgeblümten Schlafrocke mit der spitzen Zipfelmütze vor mir stand, mit der einen Hand rücklings sie Klinke seiner Zimmertür haltend.
Während ich mein Gewerbe bestellte, pflegte er mich mit seinen grellen runden Augen ungeduldig anzusehen, und mich darauf hart und kurz abzufertigen. Am meisten erregte damals meine Aufmerksamkeit ein paar ungeheuere Katzen, eine gelbe und eine schwarze, die sich mitunter hinter ihm aus seiner Stube drängten und ihre dicken Köpfe an seinen Knien rieben. Nach einigen Jahren hörte indessen der Verkehr mit meinem Vater auf, und ich bin nicht mehr dort gewesen. –
Dies alles ist nun über siebzig Jahre her, und Herr Bulemann muss längst dahin getragen sein, von wannen niemand wiederkehrt.“ – Der Mann irrte sich, als er so sprach. Herr Bulemann ist nicht aus seinem Hause getragen worden; er lebt darin noch jetzt. Das aber ist so zugegangen. Vor ihm, dem letzten Besitzer, noch um die Zopf – und Haarbeutelzeit, wohnte in jenem Hause ein Pfandverleiher, ein altes verkümmertes Männchen. Da er sein Gewerbe mit Umsicht seit über fünf Jahrzehnte betrieben hatte und mit einem Weibe, das ihm seit dem Tode seiner Frau die Wirtschaft führte, aufs spärlichste lebte, so war er endlich ein reicher Mann geworden. Dieser Reichtum bestand aber zumeist in einer fast unübersehbaren Menge von Pretiosen, Geräten und seltsamstem Trödelkram, was er alles von Verschwendern oder Notleidenden im Laufe der Jahre als Pfand erhalten hatte und das dann, da die Rückzahlung des darauf gegebenen Darlehns nicht erfolgte, in seinem Besitz zurückgeblieben war. Da er bei einem Verkauf dieser Pfänder, welcher gesetzlich durch die Gerichte geschehen musste, den Überschuss des Erlöses an die Eigentümer hätte herausgeben müssen, so häufte er sie lieber in den großen Nussbaumschränken auf, mit denen zu diesem Zwecke nach und nach die Stuben des ersten und endlich auch des zweiten Stockwerks besetzt wurden. Nachts aber, wenn Frau Anken im Hinerhause in ihrem einsamen Kämmerchen schnarchte und die schwere Kette vor der Haustür lag, stieg er oft mit leisem Tritt die Treppen auf und ab. In seinem hechtgrauen Rockelor eingeknöpft, in der einen Hand die Lampe, in der andern das Schlüsselbund, öffnete er bald im ersten, bald im zweiten Stockwerke die Stuben – und Schranktüren, nahm hier eine goldene Repetieruhr, dort eine emaillierte Schnupftabakdose aus dem Versteck hervor und berechnete bei sich die Jahre ihres Besitzes und ob die ursprünglichen Eigentümer dieser Dinge wohl verkommen und verschollen seien oder ob sie noch einmal mit dem Gelde in der Hand wiederkehrten und ihre Pfänder zurückfordern könnten. Der Pfandverleiher war endlich im äußersten Greisenalter von seinen Schätzen weggestorben und hatte das Haus nebst den vollen Schränken seinem einzigen Sohn hinterlassen müssen, den er während seines Lebens auf jede Weise daraus fernzuhalten gewusst hatte.

Dieser Sohn war der von dem kleinen Leberecht gefürchtete Supercargo, welcher eben von seiner überseeischen Fahrt in seine Vaterstadt zurückgekehrt war. Nach dem Begräbnis des Vaters gab er seine früheren Geschäfte auf und bezog dessen Zimmer im
dritten Stock des alten Erkerhauses, wo nun statt des verkümmerten Männchens im hellgrauen Rockelor eine lange hagere Gestalt im gelbgeblümten Schlafrock und bunter Zipfelmütze auf und ab wandelte oder rechnend an dem kleinen Pulte des Verstorbenen stand. – Auf Herrn Bulemann hatte sich indessen das Behagen des alten Pfandverleihers an den aufgehäuften Kostbarkeiten nicht vererbt. Nachdem er bei geriegelten Türen den Inhalt der großen Nussbaumschränke untersucht hatte, ging er mit sich zu Rate, ob er den heimlichen Verkauf dieser Dinge wagen solle, die immer noch das Eigentum anderer waren und an deren Wert er nur auf Höhe der ererbten und, wie die Bücher ergaben, meist sehr geringen Darlehnsforderung einen Anspruch hatte. Aber Herr Bulemann war keiner von den Unentschlossenen. Schon in wenigen Tagen war die Verbindung mit einem in der äußersten Vorstadt wohnenden Trödler angeknüpft und nachdem ihm einige Pfänder aus den letzten Jahren zurückgesetzt hatte, wurde heimlich und vorsichtig der bunte Inhalt der großen Nussbaumschränke in gediegene Silbermünzen umgewandelt.

Das war die Zeit, wo der Knabe Leberecht ins Haus gekommen war. Das gelöste Geld tat Herr Bulemann in große, eisenbeschlagene Kasten, welche er nebeneinander in seine Schlafkammer setzen ließ; denn bei der Rechtlosigkeit seines Besitzes wagte er nicht, es auf Hypotheken auszutun oder sonst öffentlich anzulegen. Als er alles verkauft hatte, machte er sich daran, sämtliche für die mögliche Zeit seines Lebens denkbare Ausgaben zu berechnen. Er nahm dabei ein Alter von neunzig Jahren in Ansatz, und teilte dann das Geld in einzelne Päckchen je für eine Woche, indem er auf jedes Quartal auch noch ein Röllchen für unvorhergesehene Ausgaben dazulegte. Dieses Geld wurde für sich in einen Kasten gelegt, welcher nebenan im Wohnzimmer stand; und alle Sonnabendmorgen erschien Frau Anken, die alte Wirtschafterin, die er aus der Verlassenheit seines Vaters mit übernommen hatte, um ein neues Päckchen in Empfang zu nehmen und über die Verausgabung des vorigen Tages Rechenschaft zu geben. Wie schon erzählt, hatte Herr Bulemann Frau und Kinder nicht mitgebracht; dagegen waren zwei Katzen von besonderer Größe, eine gelbe und eine schwarze, am Tage nach der Beerdigung des alten Pfandverleihers durch einen Matrosen in einem fest zugebundenen Sacke von Bord des Schiffes ins Haus getragen worden. Diese Tiere waren bald die einzige Gesellschaft ihres Herrn. Sie erhielten mittags ihre eigene Schüssel, die Frau Anken unter verbissenem Ingrimm tagaus – und – ein für sie bereiten musste; nach dem Essen, während Herr Bulemann sein kurzes Mittagsschläfchen abtat, saßen sie gesättigt neben ihm auf dem Kanapee, ließen ein Läppchen Zunge hervorhängen und blinzelten ihn schläfrig aus ihren grünen Augen an. Waren sie in den unteren Räumen des Hauses auf der Mausjagd gewesen, was ihnen indessen immer einen heimlichen Fußtritt von dem Weibe eintrug, so brachten sie gewiß die gefangenen Mäuse zuerst ihrem Herrn im Maule hergeschleppt und zeigten sie ihm, ehe sie unter das Kanapee krochen und sie verzehrten. War dann die Nacht gekommen und hatte Herr Bulemann die bunte Zipfelmütze mit einer weißen vertauscht, so begab er sich mit seinen Katzen in das große Gardinenbett im Nebenkämmerchen, wo er sich durch die der gleichmäßigen Spinnen der zu seinen Füßen eingewühlten Tiere in den Schlaf bringen ließ.
Dieses friedliche Leben war indes nicht ohne Störung geblieben. Im Lauf der ersten Jahre waren dennoch einzelne Eigentümer der verkauften Pfänder gekommen und hatten gegen Rückzahlung des darauf erhaltenen Sümmchens die Auslieferung ihrer Pretiosen verlangt. Und Herr Bulemann, aus Furcht vor Prozessen wodurch sein Verfahren in die Öffentlichkeit hätte kommen können, griff in seinen großen Kasten und erkaufte sich durch größere oder kleinere Abfindungssummen das Schweigen der Beteiligten. Das machte ihn noch menschenfeindlicher und verbissener. Der Verkehr mit dem alten Trödler hatte längst aufgehört; einsam saß er auf seinem Erkerstübchen mit der Lösung eines schon oft gesuchten Problems, der Berechnung eines sichern Lotteriegewinnes beschäftigt, wodurch er dermaleinst seine Schätze ins Unermessliche zu vermehren dachte. Auch Graps und Schnores, die beiden großen Kater hatten jetzt unter seiner Laune zu leiden. Hatte er sie in dem einen Augenblicke mit seinen langen Fingern getätschelt, so konnten sie sich im andern, wenn etwa die Berechnung der Zahlentafel nicht stimmen wollte, eines Wurfs mit dem Sandfaß oder der Papierschere versehen, so dass sie heulend in die Ecke hinkten.

Herr Bulemann hatte eine Verwandte, eine Tochter seiner Mutter aus erster Ehe, welche indessen schon bei dem Tode dieser wegen ihrer Erbansprüche abgefunden war und daher an die von ihm ererbten Schätze keine Ansprüche hatte. Er kümmerte sich jedoch nicht um diese Halbschwester, obgleich sie in einem Vorstadtviertel in den dürftigsten Verhältnissen lebte; denn noch weniger als mit anderen Menschen liebte Herr Bulemann den Verkehr mit dürftigen Verwandten. Nur einmal, als sie kurz nach dem Tode ihres Mannes in schon vorgerücktem Alter ein kränkliches Kind geboren hatte, war sie hilfesuchend zu ihm gekommen. Frau Anken, die sie eingelassen, war horchend unten an der Treppe sitzen geblieben, und bald hatte sie von oben die scharfe Stimme ihres Herrn gehört, bis endlich die Tür aufgerissen worden und die Frau weinend die Treppe herabgekommen war. Noch an demselben Abend hatte Frau Anken die strenge Weisung erhalten, die Kette fürderhin nicht von der Haustür zu ziehen, falls etwa die Christine noch einmal wiederkommen sollte. Die Alte begann sich immer mehr vor der Harkennase und den grellen Eulenaugen ihres Herrn zu fürchten. Wenn er oben am Treppengeländer ihren Namen rief oder auch, wie er es vom Schiffe her gewohnt war, nur einen schrillen Pfiff auf seinen Fingern tat, so kam sie gewiß, in welchem Winkel sie auch sitzen mochte, eiligst hervorgekrochen, und stieg stöhnend, Schimpf – und Klageworte vor sich herplappernd, die schmalen Treppen hinauf.
Wie aber in dem dritten Stockwerke Herr Bulemann, so hatte in den unteren Zimmern Frau Anken ihre ebenfalls nicht ganz rechtlich erworbenen Schätze aufgespeichert. – Schon im dem ersten Jahre ihres Zusammenlebens war sie von einer Art kindlicher Angst befallen worden, ihr Herr könne einmal die Verausgabung des Wirtschaftsgeldes selbst übernehmen, und sie werde dann bei dem Geize desselben noch auf ihre alten Tage Not zu leiden haben. Um dieses abzuwenden, hatte sie ihm vorgelogen, der Weizen sei aufgeschlagen und demnächst die entsprechende Mehrsumme für den Brotbedarf gefordert. Der Supercargo, der eben seine Lebensrechnung begonnen, hatte scheltend seine Papiere zerrissen, und darauf seine Rechnung von vorn wieder aufgestellt und den Wochenrationen die verlangte Summe zugesetzt. Frau Anken aber, nachdem sie ihren Zweck erreicht, hatte zur Schonung ihres Gewissens und des Sprichworts gedenkend: „Geschleckt ist nicht gestohlen“, nun nicht die überschüssig empfangenen Schillinge, sondern regelmäßig nur die dafür gekauften Weizenbrötchen unterschlagen mit denen sie, da Herr Bulemann niemals die unteren Zimmer betrat, nach und nach die ihres kostbaren Inhalts beraubten großen Nussbaumschränke anfüllte.

So mochten etwa zehn Jahre verflossen sein. Herr Bulemann wurde immer hagerer und grauer, sein gelbgeblümter Schlafrock immer fadenscheiniger. Dabei vergingen oft Tage, ohne dass er den Mund zum Sprechen geöffnet hätte; denn er sah keine lebenden Wesen als die beiden Katzen und seine alte halb kindische Haushälterin. Nur mitunter, wenn er hörte, dass unten die Nachbarskinder auf den Prellsteinen vor seinem Hause ritten, steckte er den Kopf ein wenig aus dem Fenster und schalt mit seiner scharfen Stimme in die Gasse hinab. „Der Seelenverkäufer, der Seelenverkäufer!“ schrien dann die Kinder und stoben auseinander. Herr Bulemann aber fluchte und schimpfte noch ingrimmiger, bis er endlich schmetternd das Fenster zuschlug und drinnen Graps und Schnores seinen Zorn entgelten ließ. Um jede Verbindung mit der Nachbarschaft auszuschließen, musste Frau Anken schon seit geraumer Zeit ihre Wirtschaftseinkäufe in entlegene Straßen machen. Sie durfte jedoch erst mit dem Eintritt der Dunkelheit ausgehen und mußte dann die Haustür hinter sich verschließen.

Es mochte acht Tage vor Weihnachten sein, als die Alte wiederum eines Abends zu solchem Zwecke das Haus verlassen hatte. Trotz ihrer sonstigen Sorgfakt musste sie sich indessen diesmal einer Vergessenheit schuldig gemacht haben. Denn als Herr Bulemann eben mit dem Schwefelholz sein Talglicht angezündet hatte, hörte er zu seiner Verwunderung es draußen an den Stiegen poltern, und als er mit vorgehaltenem Lichte auf den Flur hinaustrat, sah er seine Halbschwester mit einem bleichen Knaben stehen. „Wie seid ihr ins Haus gekommen?“ herrschte er sie an, nachdem er sie einen Augenblick erstaunt und ingrimmig angestarrt hatte. „Die Tür war offen unten“, sagte die Frau schüchtern. Er murmelte einen fluch auf seine Wirtschafterin zwischen den Zähnen. „Was willst du?“ fragte er dann. „Sei doch nicht so hart, Bruder“, bat die Frau, „ich habe sonst nicht den Mut zu dir zu sprechen.“ „Ich wüßte nicht, was du mit mir zu sprechen hättest; du hast dein Teil bekommen, wir sind fertig miteinander.“ Die Schwester stand schweigend vor ihm und suchte vergebens nach den rechten Worte. – Drinnen wurde wiederholt ein Kratzen an der Stubentür vernehmbar. Als Herr Bulemann zurückgelangt und die Tür geöffnet hatte, sprangen die beiden großen Katzen auf den Flur hinaus und strichen spinnend an dem blassen Knaben herum, der sich furchtsam vor ihnen an die Wand zurückzog. Ihr Herr betrachtete ungeduldig, die noch immer schweigend vor ihm stehende Frau. „Nun, wird’s bald?“ fragte er. „Ich wollte dich um etwas bitten, Daniel“, hub sie endlich an.
„Dein Vater hat ein paar Jahre vor seinem Tode, da ich in bitterster Not war, ein silbern Becherlein von mir in Pfand genommen.“
„Mein Vater von dir?“ fragte Herr Bulemann. „Ja, Daniel, dein Vater; der Mann von unser beider Mutter. Hier ist der Pfandschein, er hat mir nicht zuviel darauf gegeben.“ „Weiter!“ sagte Herr Bulemann, der mit raschem Blicke die leeren Hände seiner Scwester gemustert hatte. „Vor einiger Zait“, fuhr sie zaghaft fort, „träumte mir, ich gehe mit meinem kranken Kinde auf dem Kirchhofe. Als wir an das Grab unserer Mutter kamen, saß sie auf ihrem Grabsteine unter einem Busch voll blühender weißer Rosen.
Sie hatte jenen kleinen Becher in der Hand, den ich einst als Kind von ihr erhalten; als wir aber näher gekommen waren, setzte sie ihn an die Lippen; und indem sie dem Knaben lächelnd zunickte, hörte ich sie deutlich sagen:
„Zur Gesundheit!“ Es war ihre sanfte Stimme, Daniel, wie im Leben, und diesen Traum habe ich drei Nächte nacheinander geträumt.“ „Was soll das!“ fragte Herr Bulemann. „Gib mir den Becher zurück, Bruder! Das Christfest ist nahe; leg ihn dem kranken Kinde auf seinen leeren Weihnachtsteller!“ Der hagere Mann in seinem gelbgeblümten Schlafrocke stand regungslos vor ihr und betrachtete sie mit seinen grellen runden Augen. „Hast du das Geld bei dir?“ fragte er.
„Mit Träumen löst man keine Pfänder ein.“ „Oh, Daniel!“ rief sie „glaub unsrer Mutter!
Er wird gesund, wenn er aus dem kleinen Becher trinkt. Sei barmherzig! es ist doch von deinem Blute.“ Sie hatte die Hände nach ihm ausgestreckt; aber er trat einen Schritt zurück. „Bleib mir vom Leibe“, sagte er. Dann rief er nach seinen Katzen. „Graps, alte Bestie! Schnores, mein Söhnchen!“ Und der große gelbe Kater sprang mit einem Satz auf den Arm seines Herrn und klauete mit seinen Krallen in der bunten Zipfelmütze, während das schwarze Tier mauzend in seine Knien hinaufstrebte, Der kranke Knabe war näher geschlichen. „Mutter“, sagte er, indem er sie heftig an dem Kleide zupfte, „ist das der böse Ohm, der seine schwarzen Kinder verkauft hat?“ Aber in demselben Augenblicke hatte auch Herr Bulemann die Katze herabgeworfen und den Arm des aufschreienden Knaben ergriffen. „Verfluchte Bettelbrut“, rief er, „Pfeifst du auch das tolle Lied?“
„Bruder, Bruder!“ jammerte die Frau. Doch schon lag der Knabe wimmernd drunten auf dem Treppenabsatz. Die Mutter sprang ihm nach und nahm ihn sanft auf ihren Arm; dann aber richtete sie sich hoch auf und den blutenden Kopf des Kindes an ihrer Brust, erhob sie die geballten Fäuste gegen ihren Bruder, der inzwischen seine spinnenden Katzen droben am Treppengeländer stand: „Verruchter, böser Mann!“ rief sie. „Mögest du verkommen bei deinen Bestien!“
„Fluche, soviel du Lust hast!“ erwiderte der Bruder, „aber mach, dass du aus dem Hause kommst.“ Dann, während das Weib mit dem weinenden Knaben die dunklen Treppen hinabstieg, lockte er seine Katzen und klappte die Stubentür hinter sich zu. – Er bedachte nicht, dass die Flüche der Armen gefährlich sind, wenn die Hartherzigkeit der Reichen sie hervorgerufen hat.

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