Es nahte die Zeit Chenoas, der Nebelhexe. Gemütlich waberte sie über Land und Felder. Sie schwebte über Wiesen, durchdrang Wälder, strich um die einfachen Hütten der Menschen und warf ab und zu einen Blick durch die hell erleuchteten Fenster. Die Menschen bereiteten sich auf ihr Tagewerk vor.
Nachdem Chenoa ihre Neugier gestillt hatte, schlich sie sich durch die Gassen bis zu ihrem Lieblingsplatz, dem See. Dort breitete sie sich aus, um zu ruhen. Plötzlich hörte Chenoa den Wind heranstürmen. Er blies ihr kräftig ins Gesicht und schrie: „Chenoa… Chenoa… wach auf! Schnell! Du musst mitkommen! Deine Freundin, die Eishexe, hat einen ganzen Landstrich verwüstet. Sie hat viel zu früh Einzug gehalten. Es gibt nichts zu ernten. Die armen Menschen werden den Winter nicht überleben!“
Chenoa brauste auf: „Nenn die Eishexe bloß nicht meine Freundin. Wir haben seit hundert Jahren kein Wort mehr gewechselt! Wo sie auftaucht, zerstört sie das Land. Wenn immer es möglich ist, gehen wir uns aus dem Wege!“
Der Wind stürmte so schnell voraus, dass Chenoa ihm kaum folgen konnte und völlig außer Puste geriet. Die Dörfer lagen vor ihnen wie ausgestorben. Erschrocken blickte sie auf die verwüsteten Felder, zu denen der Wind sie führte. Das Gemüse darauf roch faulig und hatte seine Farbe verloren. Das Getreide stand geknickt und mit leeren Ähren auf den Feldern. Kein Mehl konnte gemahlen werden und kein Brot gebacken. Unter den Bäumen verfaulte das Obst, vom heftigen Hagel zerschlagen. Es war ungenießbar geworden. Kühe und Ziegen standen abgemagert in ihren Ställen, zu schwach, um Milch zu geben. Aus traurigen Augen blickten sie Chenoa an. Die Nebelhexe war erschüttert. Der Hunger war schon jetzt über Mensch und Tier hereingebrochen. Hier musste schnell geholfen werden. Aber wie? Die Zeit wurde knapp, denn bald klappte der Winter sein Eisfenster über das Land.
Der Wind verhielt sich ruhig und wartete, um die Nebelhexe in ihren Gedanken nicht zu stören.
„Ich hab`s“, rief sie ihm plötzlich entschlossen zu, „aber ich brauche deine Hilfe. Eile zur Sonne und bitte sie, ihre eingelegte Ruhepause für ein paar Tage zu beenden. Wir brauchen dringend die Wärme des Sommers. Alles Weitere übernehme ich!“
Der Wind drehte ab und verschwand mit einem zischenden Pfeifton. Als er zurückkam, brachte er die Kunde, die Sonne würde am nächsten Morgen aufgehen.
Noch am gleichen Tag eilte eine alte Frau von Dorf zu Dorf. Es war die Nebelhexe, nunmehr in einer menschlichen Gestalt. Sie klopfte an jede Haustüre und bat: „Beeilt euch, ihr Menschen! Bestellt sofort eure Felder. Ich verspreche euch, dafür zu sorgen, dass ihr reiche Ernte habt, bevor der Winter Einzug hält.“
Die Menschen betrachteten sie ungläubig.
„Ach, Mütterchen“, jammerten sie, „du meinst es gut mit uns. Aber an Wunder glauben wir schon lange nicht mehr. Wir werden in diesen Winter wohl hungern müssen!“
„Ihr müsst an euch glauben“, sagte Chenoa, „sonst seid ihr verloren! Nur gemeinsam könnt ihr es schaffen!“
Nachdem sie alle Dörfer durchwandert hatte, nahm Chenoa wieder die Gestalt des Nebels an. Sie zog sich in den Wald zurück und beobachtete die Menschen, ob sie ihren Rat befolgen würden.
In den Häusern beratschlagten die Leute, ob sie der Alten glauben sollten. Kurz darauf, noch bevor der erste Hahn krähte, öffneten sich die Türen. Zuerst kamen sie vereinzelt, doch es wurden immer mehr. Eifrig begannen sie, ihre Felder zu bestellen. Chenoa sah es mit Freude. Jetzt begann sie ihr Werk. Sie wob eine dichte Nebelwand um die Dörfer, sodass die Eishexe nicht eindringen konnte. Nun schickte die Sonne ihre gebündelten Strahlen zur Erde und mit ihr kehrte die Hoffnung zurück. Nachts befeuchtete Chenoa mit dem Nebel sanft die Felder. Und das Wunder geschah! Überall schossen Pflänzchen empor, so schnell, dass das Auge kaum folgen konnte. Bald darauf ernteten die Menschen. Nun suchten sie die alte Frau, die ihnen aus der Not geholfen hatte. Doch sie blieb unauffindbar.
Auf dem Weg in ihr Nebelreich flog Chenoa an der Eishexe vorbei, doch sie würdigte die Alte keines Blickes.
Quelle: Marianne Schaefer