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Das arbeitsscheue Glück

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Ein Armer hatte fünf Kinder, eines feiner als das andere. Er schuftete von früh bis spät und mußte trotzdem oft mit leerem Magen schlafen gehen. In der Erntezeit ging er mit den anderen Tagelöhnern hinaus. Sie stellten sich am Rain in einer Reihe auf und zogen mähend übers Feld; aber jedesmal, wenn sie am anderen Ende angelangt waren, mußten die übrigen auf den Armen warten. Er schämte sich, daß er hinter ihnen zurückblieb und sie ihn wegen seiner Schwäche verspotteten, aber er konnte nichts dagegen machen, denn der ständige Hunger hatte ihm alle Kraft geraubt. Am Abend, als die Schnitter heimgingen, merkte er auf halbem Wege, daß er seine Sense auf dem Feld vergessen hatte, und kehrte um, sie zu holen, denn ohne Sense konnte er am nächsten Tage doch nicht arbeiten und mithin auch kein Geld verdienen. Es war schon fast dunkel, als er, zu Tode erschöpft, auf dem Feld anlangte, aber er konnte noch erkennen, daß ein Unbekannter auf dem Feld umherging und die Ähren auflas. Dabei murmelte er etwas vor sich hin. Der Arme spitzte die Ohren. „Wahrlich, ich habe für meinen eigenen Herrn genug zu tun, und nun muß ich obendrein die Ähren auflesen, die der Schnitter mit dem arbeitsscheuen Glück fallen ließ!“
Als der Arme das hörte, lief er hinzu und hielt den Unbekannten an. „Wer bist du?“ fragte er. „Das Glück des Feldbesitzers!“ gab dieser zur Antwort. „Ich lese die Ähren auf, die du fallen ließest. Warum bist du denn zurückgekommen? Alle ehrsamen Leute sitzen augenblicklich daheim beim Abendessen!“ — „Ach, Bruder“, erwiderte der Arme, „ich habe meine Sense vergessen und will sie holen.“ — „Deine Sense? Die trägst du doch an der Schulter! In der Tat, faul ist dein Glück, wenn es dich nicht einmal auf die Sense an deiner Schulter aufmerksam macht!“ — „Mein Glück?“ — „Natürlich! Weißt du nicht, daß jeder Mensch ein Glück besitzt, das mit ihm auf die Welt kommt? Du hast zufällig ein arbeitsscheues erwischt. Es sitzt den ganzen Tag hinter deinem breiten Gürtel und spielt auf der Schellentrommel. Daher kommt es auch, daß du mit leerem Magen zu Bett gehen mußt! Und ich werde dir noch etwas verraten: Dein Glück hat vor, dir einen schlimmen Schabernack zu spielen. Morgen früh, wenn du zu mähen beginnst, will es sich in einen aufgescheuchten Hasen verwandeln und dir zwischen den Beinen hindurchlaufen, damit du dir mit der Sense das Bein verkrüppelst. Dann könntest du nicht mehr arbeiten und müßtest betteln gehen. Deshalb mache es so: Nimm einen langen Sack und binde ihn dir dergestalt an den Gürtel, daß sich die Öffnung zwischen den Knien befindet. Wenn dein Glück dir zwischen den Beinen hindurchflitzen will, wird es in den Sack geraten. Dann sei auf der Hut, fange es ein und prügele es tüchtig durch. Du wirst sehen, daß es sich bessert und dich zum reichen Mann macht.“
Am nächsten Morgen folgte der Arme dem Rat, fing sein Glück ein, lud den Sack auf die Schultern und machte sich auf den Heimweg. Zu Hause verschloß er sämtliche Fenster und Türen und verprügelte sein Glück. „Wie kommst du dazu, allezeit hinter meinem Gürtel zu hocken und auf der Schellentrommel zu spielen? Und was ist das für ein. Schabernack, den du mir spielen wolltest? Verkrüppeln sollte ich mich? Elend zugrunde gehen?“ Und er schwang den Knüppel und schimpfte, daß es nur so eine Art hatte. Das Glück bat ihn jammernd um Verzeihung und schwor, ihn in kürzester Zeit zum reichen Mann zu machen, wenn er es am Leben ließe. Aber der Arme ließ sich nicht beirren und ließ das Glück erst aus dem Sack, nachdem er es gründlich durchgewalkt hatte. „Sag mir sofort, was ich machen soll, um reich zu werden!“ befahl er. „Und solange ich arm bin, wirst du ebenfalls darben! Ich werde dir beibringen, was Hunger ist!“ Vor Wut holte er wieder mit dem Knüppel aus, und womöglich hätte er sein Glück totgeschlagen, wenn sein Weib nicht dazwischen getreten wäre und ihm die Hand festgehalten hätte.
Das Glück wußte vor Angst nicht mehr aus noch ein. „Höre endlich auf, mich zu schlagen!“ schluchzte es. „Denn wenn ich sterbe, wirst du für immer ein armer Mann bleiben. Läßt du mich aber am Leben, dann führe ich dich morgen früh auf einen hohen Berg zu einem Nußbaum, unter dem eine Quelle entspringt. Mit dem Wasser, das du aus der Quelle schöpfst, gehst du dann zum König und empfiehlst dich ihm als Arzt, der alle Krankheiten heilt. Er hat eine kranke Tochter, wenn du die mit dem Wasser bespritzt, wird sie sogleich gesund, und du erhältst vom König eine Menge Geld. Mit jenem Wunderwasser kannst du auch die Krankheiten anderer Menschen heilen, und sie werden dich ebenfalls reichlich entlohnen. Aber merke dir: Siehst du den Engel des Kranken zu seinen Füßen stehen, dann kannst du ihn heilen. Steht der Engel jedoch zu Häuptern, dann hat das Wunderwasser .keine Wirkung, und der Kranke muß sterben. Falls du meinen Worten keinen Glauben schenkst, brauchst du mich erst freizugeben, nachdem du auf jenem Berge und bei der Tochter des Königs gewesen bist.“
Unterdessen trug die Frau das karge Essen auf — Roggenbrot, Salz und Wassersuppe mit Zwiebeln. „Herr, segne unser Mahl“, betete der Arme, „wenn es auch ein Bettleressen ist. Aber Hunger ist der beste Koch, und uns würden sogar Holz und Kieselsteine schmecken.“ Er brach das Brot, bestreute ein Stück mit Salz und gab es dem Glück. „Koste!“ sagte er. „Und dein Versprechen werde ich gleich morgen nachprüfen. Hast du die Wahrheit gesprochen, dann lasse ich dich frei, hast du mich aber betrogen, dann schlage ich dich tot wie einen räudigen Hund.“ Er begann zu essen und achtete dabei darauf, daß seine Kinder nicht allzuviel Salz nahmen, hatte er doch kein Geld, um neues zu kaufen, wenn sie alles aufgegessen hatten. „Siehst du nun, Glück, welch große Not wir leiden?“ fragte das Weib des Armen. „Hast du nicht wenigstens mit unseren Kindern Mitleid?“ — „Trockne deine Tränen, Hausfrau“, antwortete das Glück. „Das Elend liegt hinter euch, das Wohlergehen liegt vor euch. Falls ich heute nacht nicht an den Prügeln sterbe, die mir dein Mann verabfolgt hat, wirst du morgen das Geld scheffeln. Ich aber will mein Faulenzerdasein aufgeben und meine Schellentrommel zerbrechen, denn sie ist die Ursache eures Elends.“ Und bevor sie zur Ruhe gingen, schloß der Arme sein Glück in der Stube ein, damit es ihm nicht entwischte.
Als dann am nächsten Morgen der Tag graute, ging er in die Berge, füllte seinen Krug mit dem Wunderwasser und brachte es in die Stadt. „He, wo wird ein Arzt gebraucht, der alle Krankheiten heilt?“ rief er vor dem Königspalast. Das hörte der König, ließ ihn holen und fragte, ob er vielleicht auch seine Tochter von ihrer schlimmen Krankheit heilen könnte. „Freilich!“ antwortete der Arme und bespritzte sie mit dem Wunderwasser. Da war ihre Krankheit wie fortgeblasen, sie strahlte vor Glück, und ihr Vater gab ihm zwei Säcke voll Geld zur Belohnung. Die schleppte der Arme nach Hause; anschließend ging er auf den Markt, kaufte die schönsten Speisen und Getränke ein und veranstaltete zu Ehren seines Glücks ein üppiges Festessen. Danach schenkte er ihm ein neues Gewand und entließ es in allen Ehren. Bald wurde überall bekannt, daß er imstande war, sämtliche Krankheiten zu heilen, und er verdiente soviel, daß seine Familie in Wohlstand leben konnte. Auch das Glück war nicht länger arbeitsscheu. Es zerbrach seine Schellentrommel und führte von nun an ein nützliches Dasein.

Quelle:

(Märchen aus Jugoslawien)

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