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Das Elend

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Es war einmal ein Edelmann, der einen Sohn hatte, den nichts mehr befremdete, als wenn er die Leute sagen hörte: »O welches Elend! o Elend!« Er verlangte kennen zu lernen, was Elend sei, und bat seinen Vater um die Erlaubnis, in die weite Welt hinausgehen zu dürfen, um es zu erfahren. Alle Gegenvorstellungen des Vaters waren fruchtlos, und der Jüngling machte sich denn mit einem schweren Beutel versehen auf den Weg. Lange ritt er dorfaus, dorfein herum, fragte, suchte, spähete, forschte nach dem Elend, aber alles ohne Erfolg. Da ritt er einmal an einem grossen, grossen Teiche vorüber, wo er ein steinaltes Mütterchen Wäsche waschen sah. »Guten Tag!« sprach zum Weibe der junge Edelmann, »habt ihr nirgends das Elend gesehen.« »Ja«, erwiderte sie, »dort in dem Schilf treibt es sein Unwesen.« Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, denn der Jüngling stieg gleich vom Pferde, warf eilig seine Kleider von sich, stürzte in den Teich und schwamm dem Schilfe zu. Dort stiess er auf eine Brut wilder Enten. In wilder Hast setzte der Jüngling ihnen nach, trieb sich im Schilf lange herum, verkratzte und verschnitt sich den Leib bis zum Bluten und konnte das vermeintliche Elend doch nicht erwischen. Es ward Abend, und er dachte ans Herauskommen. An das Ufer gelangt, wunderte er sich nicht wenig, das Pferd und alle seine Kleider nicht zu finden. Das alte Mütterchen kannte seine Leute und hatte diese Gelegenheit benutzt, sich in den Besitz einer nahmhaften Summe samt Pferd und guten Kleidungsstücken zu setzen. Der arme Junge kauerte sich in einem Winkel am Ufer und, weil ein kühler Herbstabend war, hatte er nichts, womit er sich in dieser Einsamkeit hätte Kurzweil schaffen können, als Schnattern und Zähneklappen. Jetzt rief er aus: »Wie elend bin ich worden!«
Der Abend war inzwischen hereingebrochen und der Jüngling benützte die Dunkelheit der Nacht, um in ein in der Nähe des Teiches gelegenes Haus unbemerkt zu schleichen. Der Wirt war vom Felde noch nicht heimgekehrt und die Hausfrau melkte eben die Kühe. Husch! war der junge Edelmann unter das Bett geschlüpft. Das Weib war heute recht geschäftig, gute Speisen zu bereiten, denn die liebe Hausfrau erwartete ihren Buhlen, der auch wirklich nicht lange auf sich warten liess. Nun ging es recht herzlich zu! Manch guter Bissen ward verzehrt, manches Glas geleert, alles durch einen Kuss verzuckert. Dem Edelmann unter dem Bette mochte es gar wunderlich zu Mute gewesen sein; er musste sich aber in seinem Elende mit dem warmen Verstecke zufriedenstellen. Der Saus und Braus des zärtlichen Liebespaares währte nicht lange, denn man hörte im Hofe des Hausherrn Stimme, der den Kettenhund beschwichtigte. In der Eile wusste das Weib nicht, wie ihr geschah, und ohne sich lange zu besinnen, wies sie ihrem Liebsten ein Versteck unter dem Bette an. Der Jüngling hatte jetzt Gesellschaft. Der Hausherr trat ins Haus und verlangte sein Nachtessen. »Ich war unwohl«, entschuldigte sich das Weib, »und konnte Dir nichts zum Essen bereiten.« Sie holte Brot und Käse hervor und legte es dem Manne vor. Dieser langte nach seiner Tasche, brachte eine Flasche mit Branntwein heraus, trank selbst und gab auch dem Weibe zu trinken, das krankheitshalber sich ins Bett gelegt hatte. Die liebe Frau trank nicht selbst, sondern steckte es dem Liebsten unter dem Bette zu. Der Jüngling war aber geschäftiger, erwischte selbst das Gläschen und leerte es bis auf den Grund. So ging es auch zum zweiten- und auch zum drittenmale. Der junge Edelmann, der sich dadurch einen Rausch zugezogen, sagte hierauf zu seinem Leidensgefährten: »Ich will singen.« »Bist Du von Sinnen«, antwortete ihm dieser, wir würden beide sehr schlimm dran sein.« »Gieb mir Deine Wäsche, sonst singe ich.« Der Buhle, dem es mit der Sache ernst war, zog sein Hemd vom Leibe und gab es ihm, um nur Ruhe zu haben. Nach einer Weile sagte der Jüngling: »Ich will pfeifen.« »Schweig Besoffener!« »Gieb mir Deine Kleidung, oder ich pfeife aus Leibeskräften!« »So nimm sie, Du Narr!« Jetzt war der Jüngling bekleidet. Der Mann, von der Tagesarbeit müde, war inzwischen fest eingeschlafen. Das Weib nahm den jungen Edelmann, den sie für den Geliebten hielt, bei der Hand und führte ihn aus dem Hause.
Der Jüngling fing jetzt im Freien eine Nachteule, nahm sie unter den Arm und trat ans Fenster des Hauses, in dem es ihm nach Herzenswunsch gegangen war. Hier klopfte er an und bat um Nachtherberge. Der Mann verweigerte, so sehr sich auch das Weib dagegen sträubte, ihm nicht den Einlass, tischte ihm selbst auf und bewirtete ihn nach Möglichkeit auf das Beste. Der Edelmann drückte nun die Nachteule unter dem Arme so unsanft, dass sie schrie. Der Bauer fragte ihn: »Was hast Du?« »Meinen Wahrsager führe ich mit mir.« »Und was hat er jetzt gesagt?« fragte der Bauer weiter. »Er meint, in jener Truhe wäre eine vollgefüllte Schnapsflasche.« Der Bauer suchte nach und fand die Flasche. Das Weib sah dies nicht gern und entschuldigte sich, dass die Flasche für den Mann bestimmt gewesen, dass sie aber wegen des Kopfwehes darauf vergessen hätte. Der Hausherr und der Gast machten sich an die Flasche mit dem festen Vorsatze, sie zu leeren. Der Edelmann wollte aber auch was Gutes essen, und weil er vorher gesehen hatte, wo das Weib in Eile, um vom Manne nicht überrascht zu werden, die Speisen versteckt hatte, drückte er seinen Vogel wieder. Dieser schrie, der Bauer fragte wieder und erhielt zur Antwort: »Wie der Wahrsager meint, soll im Backofen ein recht guter Braten sich befinden.« Der Bauer suchte und fand. Beide liessen sich es gut schmecken. Als der Edelmann satt war, drückte er wieder die Nachteule. Sie schrie und der Jüngling stand wie erschrocken auf, nahm seine Mütze und schickte sich an, fortzugehen. Als ihn der Hausherr nach der Ursache fragte, antwortete er: »Der Vogel widerrät mir unter Deinem Dache zu übernachten, denn Du hast ein Ungeheuer im Hause.« Der Bauer starrte ihn an und bat ihn, er möchte ihm doch einen Rat erteilen, wie er des Ungeheuers los werden könnte. Der Edelmann war hierzu bereit, liess Feuer machen und in grossen Töpfen Wasser erhitzen. Als es schon recht gut zu sieden begann, sammelte er aus allen Winkeln der Stube Lumpen zusammen, hiess den Hausherrn mit einem Prügel bei der Thüre wachen, tauchte die Lumpen in siedendes Wasser und besprengte das Haus nach allen vier Winden und auch den Liebsten unter dem Bette. Dieser seufzte kaum hörbar und kauerte sich in den Winkel. »Hier muss das Ungeheuer sein«, sagte der Edelmann und wies unter das Bett. »Man muss es heraustreiben«, sprach der Bauer. Der Jüngling tauchte die Lumpen recht tief ins siedende Wasser und besprengte den Armen in seinem Verstecke so gewaltig, dass er vor Schmerzen sich auf die Flucht machte. Er wollte zur Thür hinaus, aber der flinke Wirt hieb so fleissig drein, dass das Ungeheuer mit blauem Leibe davonkam. Das Weib war durch diesen Vorfall von ihren Liebeshändeln geheilt. Der Edelmann fuhr aber am nächsten Morgen zum Vater zurück und hatte nicht mehr Lust, länger herumzustreichen und zu erfahren, was Elend bedeute.

[Ukraine: Raimund Friedrich Kaindl: Ruthenische Märchen und Mythen aus der Bukowina]

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