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Das Geschenk der Totems

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Hinter vier Bergen und vier Flüssen, am Strand des unendlichen Ozeans, stand ein Totemdorf. Es wurde so genannt, weil über jeder Wohnstätte ein hohes, schlankes Totem ragte, das über den Indianern wachte, wenn sie zum Walfischfang ausfuhren. Die Fischer verehrten diese bemalten, mit Schnitzarbeit versehenen Pfähle, weil sie glaubten, von ihnen vor jeder Gefahr geschützt zu werden. Nach jedem glücklichen Fang veranstalteten sie den Totems zu Ehren ein Fest.
In der Nacht vor einer solchen großen Feier geschah es, daß in der Nähe des Totemhaines ein Rabe auf einem Ast einschlief. Ob er nun etwas Böses geträumt hatte, oder ob er fror, kurz und gut, er wachte mitten in der Nacht auf. Und wie er so in die Finsternis starrte und darüber nachsann, was in so plötzlich aus dem Schlaf geschreckt haben konnte, da hörte er ein leises, seltsames Raunen, wie wenn die im Wind schaukelnde Äste Zwiesprache miteinander hielten. Er neigte ein wenig den Kopf, um besser zu hören. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Die hölzernen Totemsäulen hielten Rat miteinander: „Und was hast du dazu zu sagen,o Höchster der Totems?“
„Der Geist des Großen Stockfisches hat mir berichtet, daß die Indianer ein Geschenk erhalten sollen, ein Metall, gelb und glänzend wie Gold. Ist es nicht so, Ältester der Totems?“
„Der Geist des Weisen Herings hat mir verraten, daß dieses Metall nicht so hart wie Gold sein darf, damit die Herzen der Rothäute nicht hart werden.
Bist du auch dieser Meinung, Klügster des Totems?“
„Ja, denn der Geist des Vaters Walfisch hat mir anvertraut, daß die Indianer aus diesem Metall die Spitzen ihrer Lanzen und Speere fertigen werden.“

Der Rabe mochte seine Ohren anstrengen wie er wollte, er verstand kein Wort mehr von dem, was die Totems miteinander zu flüstern hatten. Gut, daß ich wenigstens einen Teil gehört habe, tröstete er sich und nahm sich vor, am folgenden Tag besonders scharf aufzupassen. Von dem Geschenk muß auch etwas für mich abfallen, dachte er. Ich kann doch nicht zulassen, daß die dummen Indianer alles bekommen und ich nichts….

Am nächsten Tag war die Sonne noch nicht bis in die Mitte der Himmelskugel gerollt, als das Fest seinen Anfang nahm. Schon seit dem frühen Morgen waren die Indianer mit ihren scharfbugigen Booten gekommen und hatten kostbare Geschenke mitgebracht: bunte Steine, blitzende Waffen und erlesene Weine. Nachdem sich die Gäste in dem Hain vor den Totempfählen verneigt und sich feierlich im Kreise niedergelassen hatten, geschah etwas Außergewöhnliches: Die Luft erzitterte unter einem sonderbaren Rauschen, als würde sie von vielen tausend Vogelfittichen durchschnitten. Das Meer bäumte sich, und in der Ferne blitzte ein merkwürdiger Gegenstand auf. der immer näher geflogen kam.

Da sprach der Höchste der Totems zu den Indianern mit menschlicher Stimme: „Gute Geister bringen euch ein wertvolles Geschenk. Es ist das Kupfer, und ihr könnt daraus Spitzen eurer Pfeile, Lanzen und Speere schmieden. Es wird euch viel bessere Dienste leisten als der Feuerstein.“

Der Höchste der Totems hatte noch nicht ausgesprochen, als über den Köpfen der Indianer ein Rabe auftauchte und der leuchtenden Kugel entgegenflog, um sich ihrer zu bemächtigen.
Geblendet von dem Glanz und sprachlos über die Unverschämtheit des Vogels, der sich anschickte, die Kugel in seine Krallen zu haschen und damit davonzufliegen, blickten alle nach oben. Die unsichtbaren Geister aber waren auf der Hut, und ließen sich ihr Geschenk nicht rauben. Schon schien es, als sollte alles ein gutes Ende nehmen.
Der Rabe hatte seine vergeblichen Versuche aufgegeben und war davongeflogen. Aber da kam er auf einmal zurück, entriß den überrumpelten Geistern die blitzende Kupferkugel und wollte die Flucht ergreifen. Das Kupfer war schwer. Es gelang dem Raben zwar, es ein Stückchen fortzutragen, aber schließlich mußte er es doch ins Meer fallen lassen, und die Flut riß das kostbare Geschenk in die Tiefe.

„Was jetzt?“ flüsterten die Indianer und wandten sich ratsuchend an die Totems. Aber die wunderwirkenden Pfähle standen starr und stumm vor ihnen.

„Vielleicht findet sich ein geschickter und verständiger Fischer, der bereit ist, mit seiner Harpune das verlorene Geschenk aus der Tiefe zu holen“, sagte der Häuptling in die Stille ringsum.
„Wenn es gelingt, der soll meine einzige Tochter zur Frau erhalten.“

Als das Mädchen seinen Vater reden hörte, traten ihr die Tränen in die Augen, denn sie hatte sich schon seit langem heimlich einen kühnen Jäger aus ihrer Siedlung versprochen, dem sie all die lange Zeit, da er aufs weite Meer gefahren war, um ihr ein Hochzeitsgeschenk zu bringen, treu geblieben war. Ach, wo mochte er wohl jetzt sein?
Dem Entschluß des Vaters dürfte sie sich natürlich nicht widersetzen. Die Indianer hatten ihm alle zugestimmt, und einige standen sogar schon in ihren Booten und stießen vom Ufer ab.

Seeblüte, so hieß die junge Häuptlingstochter, ging betrübt in den Totemhain und fiel vor dem Weisesten der Totems auf die Knie: „Was soll ich beginnen? Ach, Weisester der Totems, kannst due mir nicht einen Rat geben?“ bat sie in ihrer Verzweiflung.

Das Totem wußte, daß ihr vor Weh beinahe das Herz brach, und es antwortete so leise, daß nur sie allein es hören konnte: „Ziehe dir Männerkleider an und wandere die Küste entlang, bis du an die Mündung des Lachsbaches kommst. Dort wirst du ein Kanu finden und darin eine Harpune. Fahre aufs Meer hinaus und achte nicht der Wellen, die mit deinem Boot ein so wildes Spiel treiben werden, daß du zum erstenmal in deinem Leben wissen wirst, was Angst ist. Das Kanu wird dich von selbst an die Stelle bringen, wo das Kupfer auf dem Meeresgrund liegt. Wenn das Boot stehen bleibt, nimmst du die Harpune und schleuderst sie mit aller Kraft, damit sie in dem Kupfer stecken bleibt. Wenn du unser Geschenk herausgefischt hast, fährst du an die Mündung des Lachsbaches zurück. Aber sieh dich vor: Wenn du meinem Gebot nicht in allen Stücken gehorchst, werden die Wellen dein Boot zerschmettern, und du wirst zugrunde gehen……Und nun säume nicht länger, sondern tue, wie ich dir gesagt habe. Howgh!

Seeblüte wartete nicht lange. Sie zog die Kleider eines ihrer Brüder an, schmierte sich eine Salbe ins Gesicht, um nicht erkannt zu werden, und eilte zur Mündung des Lachsbaches. Dort fand sie das Boot mit der Harpune und ruderte furchtlos aufs Meer hinaus. Erst als sie ein Stück von der Küste entfernt war, bemerkte sie, daß das Meer in Aufruhr war. Trügerische Wirbel taten sich vor ihr auf, eine turmhohe Welle stürzte über sie hinweg, aber das Kanu schwamm unbeirrt seinem Ziele zu.

Die Häuptlingstochter sah auf dem Wasser die gekenterten Boote derer schaukeln, die vor ihr aus gefahren waren. Keiner war ans Ziel gekommen, und jeder hatte seine Waghalsigkeit und sein Verlangen nach Seeblüte mit dem Leben bezahlt, und in der letzten Sekunde die Erkenntnis gewonnen, daß das Meer nie wieder herausgibt, was es einmal an sich gerissen.

Der Kanu blieb stehen. Als das Mädchen die Harpune hob, sah es den drohenden Seehund der rasenden Meeresflut vor sich. Ihre Hände zitterten, aber der Gedanke an den Geliebten half ihr, über den fürchterlichen Augenblick der Verzweiflung Herr zu werden und neuen Mut zu schöpfen. Weit ausholend schleuderte sie die Harpune mit aller Kraft in die Tiefe. Sobald sie fühlte, daß sich die hakenförmige Spitze festgestochen hatte, zog sie die Beute aus dem Wasser.

Die tosenden Wogen warfen die Boote aneinander zu wie einen Spielball, und sooft der Kupferklumpen sichtbar wurde, kannte die Wut des entfesselten Elementes keine Grenzen mehr.
Es brüllte und bäumte sich auf wie ein wilder Mustang, und das Mädchen glaubte jeden Augenblick in die Tiefe gerissen zu werden. Aber das Boot entkam immer wieder den haushoch schäumenden Wellen und landete schließlich unversehrt am Lachsbach.

Vom Ufer, wo sie bereits vom ganzen Dorf erwartet wurde, erklangen Jubelrufe. Der Häuptling beugte sich zu dem Boden des Kanus hinunter, nahm den Kupferklumpen heraus und hob ihn in die Höhe, um ihn dem versammelten Volke zu zeigen. Da kam wild krächzend der Rabe aus den Wolken herabgeschossen. Er riß den ahnungslosen Indianern das Kupfer aus den Händen und flog damit, als hätten ihm böse Mächte überirdische Kräfte verliehen, auf den höchsten Kieferbaum.

„Ha, ha – krah, krah!” spottete der Dieb und ließ dabei das Haha immer gerade in dem Augenblick hören, wenn ein Pfeil durch die Luft schwirrte, der ihm die flammende Beute aus den Klauen schießen sollte. Auch Seeblüte versuchte den Vogel mit ihrem Pfeil zu treffen. Jetzt wußten schon alle, wer sie war, denn das Federdiadem war ihr vom Kopf gerutscht, und das blauschwarze Haar floß ihr über den Rücken hinab. Aber auch ihr Pfeil ging fehl.

Da hörte man von der Mündung des Lachsbaches her rasche Schritte. Leichtfüßig wie ein Hirsch kam ein Jüngling auf die Siedlung zugelaufen. Kaum war er so nahe, daß man ihn erkennen konnte, lief ihm das Mädchen entgegen und stürzte in seine Arme.

„Endlich bist du gekommen, Liebster“, rief sie, sich an ihn schmiegend. Dann erzählte sie ihm kurz, was sich ereignet hatte. Wellenflug – so hieß der Jüngling, weil er geschickt wie kein anderer das Kanu zu lenken verstand – nahm einen Pfeil aus dem Köcher und setzte ihn an die Sehne. Dann wartete er ab, bis der freche Vogel wieder einmal den Kopf hervorstreckte, und schoß. In diesem Augenblick gespannter Erwartung war nur das Gekrächze und der pfeifende Flügelschlag des Raben zu hören und unmittelbar darauf ein klirrender Fall. Die Klauen des Vogels, denen die blinkende Beute entfallen war, krallten sich krampfhaft in die Rinde der hohen Kiefer.

Das Kupfer war beim Auffallen in tausend Stücke zersprungen. Der Rabe hat uns nicht umsonst ausgelacht, dachten die Indianer. Er hat und das Geschenk gestohlen und es verdorben. Jetzt hat es keinen Wert mehr für uns.

„Ihr irrt euch“, ließ sich die Stimme des Weisesten der Totems vernehmen. „Gerade aus den kleinen Stückchen werdet ihr die schärfsten Spitzen und Klingen schmieden können.“ Während sich die Indianer das Kupfer von der Erde auflasen, wendete sich das Mädchen dem glücklichen Schützen zu.

Reichte ihm die Hand und fragte: „Hast du mir ein Geschenk mitgebracht, Liebster?“

„Ach, du wirst enttäuscht sein“, antwortete der Jüngling. „Ich habe zwar einen großen Walfisch erlegt, den größten vielleicht, den die Welt je gesehen hat, aber ich habe ihn den Indianern in der Walfischbucht geschenkt, die dem Hungertode nahe waren. Nur dies habe ich mir davon behalten – sie nennen es Ambra.“

Er reichte dem Mädchen ein hölzernes Kästchen, das mit einer wunderbar duftenden Salbe gefüllt war. Seeblüte rieb sich Gesicht und Hände damit ein und ging dann mit ihrem Geliebten in den Hain der Totems.

Dem glücklichen Paar folgte die Menge der versammelten Indianer, allen voran der Häuptling, der kein Auge von den beiden ließ. Die zunächst stehenden hörten, wie er vor sich hinflüsterte:
„Du hast eine gute Wahl getroffen, meine Tochter!
Wellenflug dir fürs ganze Leben ein guter und treuer Gatte sein.“

Märchen des Stammes Kathlamet

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