Es war einmal eine Magd, die lebte bei einem gutmütigen Bauern. Dieser hatte sie schon als kleines Waisenkind an seinem Hof aufgenommen und ihr Arbeit und eine Unterkunft gegeben. Dafür arbeitete sie jeden Tag fleißig und ging ihm bei der schweren Landarbeit zur Hand, wie sie nur konnte. So entwickelte sich eine tiefe Zuneigung zwischen dem Landwirt und der jungen Frau, dass er sie wie seine eigene Tochter behandelte und aufzog.
Eines Tages jedoch, zum Frühlingsbeginn, als die ersten Sonnenstrahlen das Land erwärmten, kam der Bauer vom Feld zurück und fand seine Magd betrübt vor dem Haus sitzen.
So traurig sah sie aus, dass er sich besorgt neben sie auf die Bank hockte.
„Elise, mein Kind, warum schaust du so unglücklich? Bedrückt dich etwas?“
„Ach, lieber Bauer, ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll.“ Elise sah dabei noch viel betrüblicher aus. „Wie du weißt, bin ich schon viele Jahre bei dir und mir hat es nie an etwas gemangelt. Ich bin glücklich, hier bei dir auf dem Hof. Und doch treibt es mich in die Welt hinaus. Ich möchte sehen, was das Leben noch so an Überraschungen für mich bereit hält, alles Mögliche entdecken und Neues lernen.“
„Mein liebes Kind, für jeden kommt einmal die Zeit, dass er sein Heim verlassen möchte, um die Welt zu erfahren. Da bist du keine Ausnahme. Auch wenn mein Herz schwer wird bei dem Gedanken daran, den Hof ohne dich führen zu müssen, so will ich dich doch ziehen lassen. Du wirst dein Glück schon machen. Du weißt doch, es gibt hier immer einen Platz, zu dem du zurückkehren kannst.“
Da drückte Elise den Bauer herzlich an sich und vor Freude lief ihr eine Träne über die Wange.
„Damit du dich aber nicht alleine auf den Weg machen musst, habe ich noch ein Geschenk für dich.“ Mit diesen Worten erhob sich der Bauer und ging in das Haus hinein. Nach einigen Minuten kam er wieder heraus, einen unförmigen Gegenstand unter den Arm geklemmt.
Verschmitzt übergab er ihn der Magd.
„Ohh, das ist ja ein hölzernes Zicklein. Wie schön es anzuschauen ist.“
„Dieses Zicklein ist ein ganz besonderes Geschenk, meine liebe Elise, denn es vermag dir jeden dringenden Wunsch zu erfüllen. Wenn du der Hilfe bedarfst, dann stell es einfach vor dich hin und sag:
Zicklein, Zicklein mit hölzerner Haut,
ich geb´ dir kein Gras und auch kein Kraut.
Verwehr´ dir sogar den blauen Punsch,
erfüllst du mir nicht den wicht´gen Wunsch.
Dann musst du nur noch deinen Wunsch aussprechen und das Zicklein wird dir helfen. Aber nutze es weise, denn schon so mancher Wunsch hat mehr Unbill über einen gebracht, als er geholfen hätte. Und noch eines musst du bedenken. Das Zicklein darf immer nur verschenkt werden, wenn es seine Wünsche erfüllen soll.“
„Mein lieber Bauer, ich danke dir für diese liebe Gabe. Ich werde sie immer gerecht benutzen.“
Am nächsten Morgen machte sich Elise dann auf den Weg. Im Gepäck hatte sie einen Beutel mit Brot und Käse, den der Bauer ihr mit auf den Weg gegeben hatte, und natürlich das Zicklein. Während sie so eine lange Zeit gewandert war, erreichte sie den Rand eines dichten Waldes.
„Es wird gut sein, wenn ich zunächst eine Pause mache, bevor ich den dunklen Wald durchquere. Ich bin vom Laufen ein wenig erschöpft und wer weiß, wie weit sich dieses Gehölz erstreckt.“ Sprach´s und ließ sich dort für eine Weile nieder.
Kurz darauf ergab es sich, dass die Königin auf einem edlen Ross zum Waldesrand geritten kam, um dort einen Ausflug zu machen. Kaum hatte sie die Bäume erreicht, krachte und polterte es im Unterholz und ein riesiger, schwarzer Eber schoss hervor. Mit seinem wilden Schnaufen und den rollenden Augen erschreckte er das arme Pferd so sehr, dass es scheute und die Monarchin abwarf. Dann verschwanden beide auf Nimmerwiedersehen, der Eber zurück ins Dickicht und das Pferd auf dem Weg, den es zuvor gekommen war.
Da lag sie nun und konnte sich nicht mehr rühren, denn beim Sturz hatte sie sich den Knöchel verstaucht.
Sofort sprang Elise auf und eilte ihr zu Hilfe. Geschickt hob sie die Königin an, sodass sie wenigstens auf einem Bein stehen und sich auf Elises Schulter stützen konnte. Nur so gab es kein Fortkommen für die beiden, denn mit dem schlimmen Fuß vermochte die Königin nicht zu laufen, allenthalben ein wenig humpeln. Trotzdem musste sie zurück zum Schloss geschafft werden, damit sich der Hofarzt um ihre Verletzung kümmern konnte.
Da stellte Elise das Zicklein vor sich auf den Boden und sprach:
„Zicklein, Zicklein mit hölzerner Haut,
ich geb´ dir kein Gras und auch kein Kraut.
Verwehr´ dir sogar den blauen Punsch,
erfüllst du mir nicht den wicht´gen Wunsch.“
Das Zicklein blickte Elise an und sagte: „Deinen Wunsch musst du mir benennen, dann werde ich auch das Ziel wohl kennen.“
„Oh, liebes Zicklein, die Königin ist verletzt und ich kann sie nicht tragen. Bitte lass sie doch auf deinen Rücken steigen, damit wir sie zusammen zurück zum Schloss bringen.“
Kaum hatte sie ihren Wunsch ausgesprochen, wuchs das Zicklein auf die Größe eines Pferdes an. Flugs half Elise der Verletzten auf den Rücken des Tieres und schon ging auf dem kürzesten Weg zum Fürstenhaus.
Während des Ritts seufzte die Monarchin immer wieder schwer vor sich hin.
„Ach, wenn es doch nur mehr von solch hilfreichen Geschöpfen gäbe, dann müsste es meinem armen Sohn nicht so schlecht ergehen.“
„Aber Majestät, was fehlt denn Eurem Sohn, dass Ihr so schwermütig seid?“
„Wenn ich nur jemand fände, der mir helfen könnte, dann wäre es mir schon viel wohler ums Herz. Mein Sohn Leopold, der Prinz, ist vor einiger Zeit von einem bösen Hexenmeister entführt worden, denn er will mir damit mein Königreich abpressen. Seine Macht ist so schrecklich und grauenhaft, dass er von allen nur furchtsam Der schwarze Ralaban genannt wird. Niemand, der bisher auszog, um den Prinzen zu retten, ist jemals zurückgekehrt, nicht einmal der König und seine Ritter.
Es heißt, dass Ralaban von keinem Wesen aus Fleisch und Blut besiegt werden kann. Wie sollte ich da glücklich sein?“
„Nun, Majestät, wenn Ihr wollt, würde ich es versuchen. Mit Hilfe des Zickleins sollte mir das schon gelingen. Ich werde Euch den Prinzen zurückbringen.“
„Das würdest du tun? Verlangen kann ich es nicht von dir, wohlwissend welchem Schicksal du entgegen gehst. Du kannst dir aber sicher sein, dass ich dich reich belohnen werde, solltest du es wirklich schaffen. In Gold lasse ich dich aufwiegen.
Aber ich muss dich warnen, der Weg zum dunklen Verlies des Hexenmeisters ist sehr riskant und steckt voller Gefahren.“
„Das versprochene Gold rührt mich nicht. Ich werde sehen, was ich tun kann.“
So lud Elise die Königin am Schloss ab und machte sich auf den Weg zum Verlies des Hexenmeisters.
Nach einer Weile kam sie an den Rand einer großen Wüste. Dort war es furchtbar heiß und so trocken, dass nicht ein Pflänzchen aus dem Boden heraus wachsen wollte. Darüber hinaus krochen und schlängelten giftige Nattern und Skorpione über den Grund, dass niemand die Wüste passieren konnte, ohne von tödlichen Zähnen oder Stacheln getroffen zu werden und tot zu Boden zu stürzen.
Da stellte Elise das Zicklein vor sich hin und sprach:
„Zicklein, Zicklein mit hölzerner Haut,
ich geb´ dir kein Gras und auch kein Kraut.
Verwehr´ dir sogar den blauen Punsch,
erfüllst du mir nicht den wicht´gen Wunsch.“
Das Zicklein blickte Elise mit ihren Augen an und sagte: „Deinen Wunsch musst du mir benennen, dann werde ich auch das Ziel wohl kennen.“
„Liebes Zicklein, die Wüste ist voller hässlichem Gewürm. Nie und nimmer würde ich hier lebend auch nur einen Schritt tun. Kannst du mich hindurch tragen?“
Kaum hatte sie ihren Wunsch ausgesprochen, wuchs das kleine Zicklein auf die Größe eines Pferdes an. Elise stieg auf seinen Rücken und geschwind wurde sie auf die andere Seite der Wüste gebracht. Dort schrumpfte das Zicklein wieder auf die normale Größe und beide setzten ihren Weg fort.
Nach einem langen, schweren Fußmarsch gelangte die Magd an einen riesigen und tiefen See. Er war so groß, dass man das andere Ufer nicht einmal mehr sehen konnte. Im Wasser tummelten sich unzählige, gefräßige Fische mit spitzen Zähnen, so dass an ein Hinüberschwimmen nicht zu denken war. Weit und breit lag kein Boot am Ufer, mit dem man hätte übersetzen können.
Wieder stellte Elise das Zicklein vor sich hin und sprach:
„Zicklein, Zicklein mit hölzerner Haut,
ich geb´ dir kein Gras und auch kein Kraut.
Verwehr´ dir sogar den blauen Punsch,
erfüllst du mir nicht den wicht´gen Wunsch.“
Das Zicklein blickte Elise an und sagte: „Deinen Wunsch musst du mir benennen, dann werde ich auch das Ziel wohl kennen.“
„Liebes Zicklein, das Wasser ist so tief und voller hungriger Fische. Keinen Meter könnte ich hier schwimmen, ohne dass mir etwas zustöße. Vermagst du mich dort ans andere Ufer zu tragen?“
Kaum hatte sie ihren Wunsch ausgesprochen, wuchs das hölzerne Tier, bis es groß genug war, dass sich Elise darauf setzen konnte. Dann durchschwamm es mit ihr den unbegrenzten See. Am anderen Ufer schrumpfte es wieder und Elise setzte ihren Weg fort.
Als sie wieder eine lange Zeit gelaufen war, kam sie endlich an eine große Schlucht, die sich von einem Horizont bis zum anderen erstreckte. Gegenüber erhob sich düster die Burg des Hexenmeisters. Dort würden sich das dunkle Verlies und auch Prinz Leopold finden lassen.
Doch der Grund der Schlucht war so tief und die Wände derart abschüssig, dass an ein Hinunterklettern nicht zu denken war und eine Brücke gab es nicht. Wie sehr sie es auch bedachte, es gab einfach kein Hinüberkommen.
Daher stellte Elise das Zicklein wieder vor sich hin und sprach:
„Zicklein, Zicklein mit hölzerner Haut,
ich geb´ dir kein Gras und auch kein Kraut.
Verwehr´ dir sogar den blauen Punsch,
erfüllst du mir nicht den wicht´gen Wunsch.“
Das Zicklein blickte Elise erneut an und sagte: „Deinen Wunsch musst du mir benennen, dann werde ich auch das Ziel wohl kennen.“
„Liebes Zicklein, die Schlucht ist viel zu tief und die Wände viel zu glatt. Ich würde hinabstürzen, würde ich versuchen über den Abgrund zu kommen. Kannst du mich nicht hinüber bringen?“
Kaum hatte sie ihren Wunsch ausgesprochen, wuchs es wieder auf eine stattliche Größe an. Elise kletterte auf seinen Rücken, klammerte sich an den Hörnern fest und mit einem gewaltigen Satz sprang das Tier über die Schlucht hinweg. Drüben angekommen, schrumpfte es wieder und die Magd stand vor dem Tor des dunklen Verlieses.
Behutsam drückte sie gegen das schwere Tor und öffnete es einen Spalt. Vorsichtig lugte sie hindurch, doch niemand war auf dem Burghof zu sehen. Daher drückte sie sich durch die Öffnung und lief auf den Eingang des Verlieses zu. Just als sie diesen erreichen wollte, sauste eine Gestalt herbei, fasste sie und hielt sie unbarmherzig fest. Der schwarze Ralaban hatte sie gefangen.
„Du hast wohl geglaubt, du könntest mich, den größten Hexenmeister aller Zeiten, übertölpeln, du törichtes Kind. Das hat noch niemand vollbracht.“ Dabei glotzte er sie mit glühenden Augen aus seinem knochigen Schädel an. Denn Ralaban war kein Mensch mehr, sondern nur noch ein unheimliches, lebendiges Knochengerippe. Daher hatte ihn auch noch niemand besiegen können. Mit einem Ruck entriss er Elise das hölzerne Zicklein.
„Ich habe dich auf deinem Weg genau beobachtet, deshalb weiß ich, was du für ein Wunderding mit dir herum trägst. Ich werde es sogleich einmal ausprobieren.“ Flugs stellte er es vor sich hin und sprach:
„Zicklein, Zicklein mit hölzerner Haut,
ich geb´ dir kein Gras und auch kein Kraut.
Verwehr` dir sogar den blauen Punsch,
erfüllst du mir nicht den wicht´gen Wunsch.“
Da blickte das Zicklein den schwarzen Ralaban an und sagte: „Von dir lass ich mich nicht gern fragen, die Folgen musst du nun selber tragen.“ Dabei wuchs es solange an, bis es Ralaban bei weitem überragte.
Dann begann es, den Hexenmeister mit seinen Hörnern solange zu stoßen und zu knuffen, bis von dem Knochengerippe nur noch Mehl übrig geblieben war.
Wie nun so der Bösewicht vernichtet war, konnte die Magd Elise den Prinzen Leopold befreien. Gemeinsam und frohgemut kehrten sie zum Schloss der Königin zurück. Dort feierten sie Hochzeit und lebten glücklich bis an ihr Lebensende.
Quelle: Carsten Steenbergen