Suche

Das Holz

1
(1)

Es war einmal in einem fernen Land, zu einer anderen Zeit, da lebte ein kleines Mädchen mit seinen Eltern in einem verborgenen Tal. Das Tal war zu drei Seiten von hohen Bergen umgeben deren schneebedeckte Spitzen sich in den Nebeln der Wolken verloren. Grüne Wiesen zogen sich von einem Berg zum anderen und die Berge hinauf, um sich dann in einem Blau zu verlieren, das das Blau des Himmels zu sein schien und doch unter den Wolken lag. Blaue Bäche durchzogen das Grün der Wiesen und Blumen sprießten gelb, weiß und violett aus dem Grün.
An der vierten Seite jedoch war das Tal durch einen großen, dunklen Wald begrenzt. Hohe Tannen, deren natürliche Farbe, ein sattes Dunkelgrün, durch die Dichte in der sie standen zu Schwarz verschwamm, verstellten den Blick auf alles was vielleicht hinter diesem Wald hätte liegen können und so schien es dem kleinen Mädchen, als ob die Welt nur aus seinem Tal bestünde.
Der Vater des kleinen Mädchens war Holzfäller von Beruf. Jeden Morgen, nachdem er mit dem kleinen Mädchen und seiner Mutter eine Schale Haferbrei gegessen und einen Krug Milch getrunken hatte, ging er in den Wald, um Bäume zu schlagen, während die Mutter und das kleine Mädchen am Tisch der Hütte in der sie lebten zurückblieben.
Die Mutter des Mädchens war Spielzeugmacherin. Jeden Morgen, wenn der Vater in den Wald gegangen war, stand sie vom Frühstückstisch auf, schenkte dem Kind ein Lächeln und einen Kuss und ging in den kleinen Nebenraum der Hütte, der Ihre Werkstatt war. Dort blieb sie den ganzen Tag, bis der Vater abends wieder heim kehrte und erschuf die wunderbarsten, die geheimnisvollsten und die aufregendsten Spielsachen. Oft folgte ihr das kleine Mädchen, um sich auf dem Boden vor der Werkbank niederzulassen und seiner Mutter bei der Arbeit zuzusehen. Manchmal, wenn ihm ein Spielzeug besonders gefiel, warf es der Mutter einen flehenden Blick aus großen, schwarzen Augen zu. Oft lächelte diese dann, zeigte fragend auf das Spielzeug und wenn das kleine Mädchen dann eifrig nickte, drückte sie es ihm in die kleinen, ausgestreckten Hände. Sagen konnte sie nichts, denn sie war stumm, doch das kleine Mädchen wusste auch ohne Worte, dass es das Spielzeug nun behalten durfte. Es bat jedoch nicht oft um ein Spielzeug, denn es wusste auch, dass die Mutter nun ein neues herstellen musste: für das Kind eines reichen Händlers oder Bauern, der sich solch ein Geschenk für sein Kind leisten konnte.
Wenn es seiner Mutter eine Weile zugesehen hatte, lief das kleine Mädchen fast immer aus der Hütte hinaus und über die Wiesen hinweg zu einem kleinen, rauschenden Bach dessen Wasser so klar war, dass man die vielen, verschieden geformten Kieselsteine auf dem Grund sehen konnte. An diesem kleinen Gewässer spielte es besonders gerne. Es sah sich dann häufig die Kieselsteine auf dem Boden des Baches an und stellte sich vor, sie seien kleine Häuser zwischen denen winzige Straßen verliefen und vor deren Türen klitzekleine Menschen standen, wie in der Stadt von der der Vater ihm erzählt hatte oder sie seien kleine Berge, oder zierliche Ziegen, Pferde und Kühe, was immer sie in den Kieselsteinen sehen konnte. Eine Ziege, die in dem schlichten Stall hinter dem Haus schlief und tagsüber auf den Wiesen tobte, hatten sie selbst, genauso wie ein altes Zugpferd, dass der Vater einmal in jeder Woche vor den Karren spannte, um das Holz und die Spielsachen in die Stadt, die irgendwo hinter dem Wald lag zu bringen und das kleine Mädchen stellte sich gerne vor, dass beide nachts, wenn alle schliefen auf die Größe der Welt auf dem Grunde des Baches schrumpften und diese für die Dauer der Nacht besuchten.
Abends, wenn der Vater nach Hause kam, brachte er beständig kleine Holzstücke mit, die bei der Arbeit des Holzfällens und Zerkleinerns angefallen waren, damit die Mutter neue Spielsachen aus ihnen anfertigen konnte.
Nach dem Abendessen, das zumeist aus Kartoffeln von dem kleinen Acker hinter der Hütte und dem, was der Vater aus der Stadt mitgebracht hatte bestand, setzten sie sich alle gemeinsam um den Tisch, begutachteten die Stücke im Licht der einzigen Kerze und überlegten sich, welches neue, wunderbare Spielzeug sich wohl in jedem einzelnen von ihnen verbergen könnte.
Eines Tages brachte der Vater ein ganz besonderes Stück Holz aus dem Wald mit. Dieses Stück Holz war anders als all die anderen, die das kleine Mädchen bisher gesehen hatte und es hatte schon viele gesehen, jedes auf seine Art etwas Besonderes: große, kleine, dicke, dünne, helle, dunkle, zarte, starke und aus jedem war unter den Händen seiner Mutter etwas noch viel Einzigartigeres geworden. Doch dieses Holz war dennoch anders. Vielleicht lag es nicht so sehr daran wie es aussah, es war ein verknotetes, nicht sehr langes, aber kräftiges Stück von einem Ast, das keine eindeutige Farbe zu besitzen schien, sondern von weichen Brauntönen bis zu einem harten, hellen Elfenbeinschimmer eigentlich alle Farben aufwies, die einem Holzstück möglich sind. Nein, es war mehr die Weise in der es sich anfühlte. Das kleine Mädchen strich mit den Fingern über die unebene Form und spürte die Wärme des Holzes und die leise Bewegung, als ob der Ast langsam, unendlich langsam ein- und ausatmen würde. Es hob den Blick zu seiner Mutter und gestattete sich den selten verwendeten, flehenden Blick. Seine Mutter sah ihm in die Augen und erkannte das unausgesprochene, tiefe Sehnen des Kindes, dem es keinen Namen geben konnte. Ein Lächeln erhellte ihr dunkles, kräftiges Gesicht und sie tauschte einen Blick mit dem Vater, der das Mädchen zuvor ein wenig verwundert gemustert hatte. „Was findest Du an diesem Stück Holz?“, fragte er erstaunt, das Kind wieder ansehend und strich sich eine braune Locke aus der Stirn „ich wollte es eigentlich nicht einmal mitbringen, so hässlich wie es ist!“ Das kleine Mädchen sah ihn nur stumm und bittend an. Der Blick der Mutter aber, der noch auf dem Vater ruhte, wirkte nun überrascht, als könne sie die Frage nicht begreifen, wo die Antwort doch so offensichtlich war. Schließlich wandte sie sich dem Mädchen wieder zu, ein leises Lächeln spielte nun auf ihren Lippen und sie schloss die Augen kurz in einer Geste die „Ja“ hieß. Das kleine Mädchen wusste nun, die Mutter würde ihm aus genau diesem Stück Holz ein Spielzeug erschaffen. In einem Stoßseufzer ließ es die Luft, die es, ohne es selbst zu merken angehalten hatte entweichen und fing an aufgeregt in die Hände zu klatschen und mit den Beinen zu zappeln, dass sie an den Stuhlbeinen rüttelten. Der Vater warf ihm noch einmal einen erstaunten Blick zu, zuckte dann aber mit den Achseln und schmunzelte. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich“, sagte er und wandte sich dann dem nächsten, der auf dem Tisch verteilten Hölzer zu, um es sich genauer zu besehen. Das kleine Mädchen aber konnte sich für die übrigen Stücke nicht länger begeistern, zu sehr fieberte es seinem neuen Spielzeug aus dem wundersamen Holz entgegen. Was die Mutter wohl daraus entstehen lassen würde? Es träumte vor sich hin, bis es schon halb schlafend fühlte, wie zwei kräftige Arme es hochnahmen und zu dem kleinen Bett in der Nähe des Herdes trugen in dem es schlief.
Am nächsten Morgen, als die ersten Lichtstrahlen der Sonne durch die geschlossenen Holzläden des einzigen Fensters fielen, erwachte das Kind mit einem Gefühl der Vorfreude. Aufgeregt sah es sich in der Hütte um, ob die Eltern schon auf waren. Und wirklich! Da stand schon der Vater und goss Milch aus der Kanne, die er zuvor im Stall beim Melken der Ziege gefüllt hatte in die Trinkrüge auf dem Tisch und die Mutter rührte den Haferbrei in dem großen Topf auf dem Herd.
Die Augen des Vaters fielen auf das hellwach im Bett sitzende Kind und er musste lachen. „Wenn wir uns nur alle über einen neu heran brechenden Tag so freuen könnten wie Du!“. Das kleine Mädchen sah ihn etwas verdutzt an. Der Gedanke, die Erwachsenen könnten sich weniger auf einen neuen Tag freuen als es selbst, war ihm bisher noch nie gekommen. Doch dieser seltsame Gedanke verflog wie der Wind, als es an sein neues Spielzeug dachte, das die Mutter ihm heute anfertigen würde. „Es wird heute geboren“, dachte es, „was es wohl wird?“. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass der Gedanke ein Spielzeug würde geboren, die Erwachsenen etwas seltsam anmuten würde. Aber selbst wenn, wäre das nicht wichtig für das Kind gewesen. Erwachsene waren eben zu erwachsen, mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Später, als der Vater wie jeden Morgen in den Wald aufgebrochen war, erhob sich die Mutter wie üblich, um in Ihre Werkstatt zu gehen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie schmunzelnd das hinter ihr her hüpfende Kind.
Wie üblich, bevor die Mutter eine neue Arbeit begann, setzte sie sich zunächst einmal mit dem Holz aus dem das Spielzeug geformt werden sollte auf einen Hocker vor ihrer Werkbank, befühlte das Holz und versuchte sich vorzustellen, welches Spielzeug in ihm wohnte. Und wie so viele Tage zuvor, kauerte sich das kleine Mädchen auf dem Boden vor der Werkbank nieder und sah seiner Mutter in gespannter Erwartung zu. Nach einer Weile begann es kleine Ziegen und Pferde in den feinen Sägestaub zu zeichnen, der den Boden der Werkstatt gleichmäßig bedeckte. Es wusste, seine Mutter würde nicht sofort zu einer Entscheidung gelangen, es musste sich gedulden.
Schließlich nickte die Mutter bekräftigend, wie wenn sie einen Entschluss gefasst hätte und begann zu arbeiten. Das Kind folgte dem Schnitzmesser mit den Augen, sah wie kleine Masten und Bullaugen Gestalt annahmen und wie eine helle Kapitänsmütze unter den stetigen, kräftigen Schnitten des Messers erkennbar wurde. Unter der Mütze entstand ein hölzernes, elfenbeinfarbenes Köpfchen mit groben Locken, das bald auf einem schmalen, winzigen, bräunlichen Hals saß, der in einen, mit einer Kapitänsjacke in allen Brauntönen bekleideten, kräftigen Oberkörper überging. Stramme, schwarzbraun behoste Beine erschienen und gingen in noch dunklere Stiefel über, die fest mit dem dunkelbraunen Deck des kleinen Schiffes verbunden waren.
Der Rumpf des Schiffes war mit Holzringen und knorrigen Astansätzen überzogen, die die Mutter zu den verschiedenst geformten Muscheln schnitzte. Es schien dem Kind fast, als ob das Holz auf wundersame Weise Stück für Stück seine Verkleidung ablegte unter der ein Segelschiff erschien an dessen Steuerruder eine kleine Kapitänin stand.
Schließlich hatte die Mutter ihr Werk vollendet. Sie rückte das Schiff auf dem Werktisch noch einmal zurecht, um es von allen Seiten zu betrachten. Das kleine Mädchen saß noch immer auf dem Boden und sah das Schiff mit offen stehendem Mund an. Es war einfach wunderbar. Nach einem letzten Blick auf das Schiff hob die Mutter den Kopf und sah dem Mädchen ins Gesicht. Ihre Augen suchten die des Kindes, um ein verträumtes Strahlen darin zu finden. Da lächelte sie ihr warmes, verständnisvolles Lächeln und winkte das Kind zu sich heran. Langsam erhob sich das kleine Mädchen, fast so als hätte es Angst den Zauber des Augenblicks zu verscheuchen, und näherte sich dem Spielzeug auf der Werkbank. Dort angekommen streckte es vorsichtig die Arme nach dem Schiff aus, der Mutter einen schüchternen Seitenblick zuwerfend in dem es um Erlaubnis bat. Die Mutter nickte, immer noch lächelnd und so wagte es, die kleinen Hände um das Spielzeug zu schließen.
Bei der ersten Berührung hielt es den Atem an.
Die Oberfläche des Schiffes fühlte sich rau und doch warm an. Während das Kind es mit einer Hand an sich heranzog, strichen die Finger der anderen Hand bereits ehrfürchtig über das Holz und folgten der neuen Form. Wieder mutete es ihm an, als ob das Holz langsam und tief ein- und ausatmetet. Die kleine Kapitänin schien, sei es durch einen Zufall der Holzmaserung, sei es durch die Schnitzkunst der Mutter, verschmitzt zu lächeln. Die Kapitänsmütze saß ihr keck, ein wenig schief auf dem elfenbeinfarbenen Kopf. Eine winzige Hand umfasste das Steuerruder. Hinter ihr erhoben sich drei filigrane Masten, einer unterschiedlicher gemasert als der andere. Auf dem hinteren Teil des Decks war eine einfache Kajüte aus dem Holz gearbeitet mit je einem angedeuteten Fenster auf den Seiten und einer fein eingeschnitzten Tür an der Vorderseite. Das Deck selbst war ein wenig uneben, hier und da wölbten sich noch die Andeutungen von Astansätzen hervor.
Das kleine Mädchen drückte sich das Spielzeug an die Brust und sah seine Mutter strahlend an. Die Mutter warf dem Kind noch einen liebevollen Blick zu und strich ihm durch die unordentlichen, braunen Locken. Dann gab sie ihm einen Klaps auf die Kehrseite und deutete nach draußen. Das ließ sich das Kind nicht zweimal sagen. Das Spielzeug immer noch fest an sich gedrückt rannte es mit klopfendem Herzen nach draußen und weiter zu seinem kleinen Bach auf dessen Grund die Kieselsteinlandschaft lag. Dort angekommen, setzte es sich an das grasüberwachsene Ufer und musterte das Schiff noch einmal genau. Etwas war seltsam daran, doch das Kind konnte nicht sagen was es war.
Schließlich beschloss es, das Spielzeug auszuprobieren und ließ es vorsichtig ins Wasser gleiten. Bald sah es, verloren im Spiel, dem Schiff zu wie es auf den kleinen Wellen hüpfte, während die Kapitänin wacker das Steuerruder hielt. Es lief neben dem Schiff am Ufer her und träumte, es stünde neben der Kapitänin, die Füße fest gegen das Deck gestemmt, das Gesicht der Gischt zugewandt und einem unbekannten Ziel entgegen. So verging die Zeit und das Kind lief weiter und weiter. So fest war sein Blick auf das Schiff gerichtet, dass es nicht merkte wie aus den grünen Wiesen zu seinen Füßen erdiger Waldboden wurde, wie der blaue Himmel über ihm verschwand und durch dunkle, hohe Tannenspitzen abgelöst wurde. Es lief und lief, träumend von dem unbekannten Ziel zu dem das Schiff in der Welt des Spiels aufgebrochen war.
Mit der Zeit jedoch wurde es endlich müde und als es erschöpft innehielt, die Gedanken schon darauf gerichtet, wie es das Schiff jetzt aus dem Wasser bekäme, denn das schwamm ja in der Mitte des Baches, wurde es plötzlich gewahr, dass seine Umgebung sich verändert hatte. Ein eisiger Schreck durchfuhr es, als es die dunklen Tannen wahrnahm, die es nun von allen Seiten umgaben. So weit war es noch nie von zu Hause weg gewesen. Angstvoll begriff es, dass es sich nicht erinnern konnte, welchen Weg es genommen hatte. Wo ging es nach Hause? Mitten in seiner Furcht und Verwirrung jedoch sprach auch eine ganz kleine, leise Stimme in ihm: „und was, wenn Du weitergehen würdest? Was ist auf der anderen Seite des Waldes?“ Es wusste, da musste irgendwo eine Stadt sein, denn sein Vater fuhr ja einmal in jeder Woche zu diesem unbekannten Ort, brachte das Holz und die Spielsachen dorthin und kehrte mit Nahrungsmitteln zurück. Das Mädchen wusste aber nur aus den Erzählungen des Vaters, was eine Stadt überhaupt war. Es stellte sich viele kleine Hütten, wie die in der es wohnte vor und kleine Straßen, wie auf dem Grunde seines Baches. Der Vater hatte ihm von den Straßen der Stadt erzählt und von den vielen Menschen, andere Menschen als der Vater, die Mutter oder es selbst und doch auch wieder ähnlich. Geheimnisvoll und Furcht erregend zugleich war die Vorstellung von soviel Fremdem.
Die vertraute Hütte, die grünen Wiesen, die hohen Berge, die Hände der Mutter, wie sie an einem neuen Spielzeug arbeiteten, die schweren Schritte des Vaters, wenn er Abends nach getaner Arbeit aus dem Wald nach Hause kam, schienen ihm auf einmal unerreichbar fern und ein Gefühl der Verlorenheit bemächtigte sich seiner. „Ich weiß den Weg nach Hause nicht“, jammerte es leise, „bitte Vater, Mutter holt mich“.
Da hörte es auf einmal ein leises Lachen vom Bach herüberwehen. Mit verweinten Augen sah es sich erschreckt und suchend um. Es war jedoch niemand zu sehen. Noch einmal erklang das leise Lachen. „Hier bin ich, siehst Du mich denn nicht?“, sagte eine helle Stimme, die ganz deutlich aus der Richtung des Bachs kam. Das kleine Mädchen starrte auf den Bach, der, wie es schien, zu sprechen begonnen hatte. Sein Blick viel auf das Schiff, das noch immer in der Mitte des Bachs trieb, ohne sich jedoch entfernt zu haben. Das an sich war schon ein wenig merkwürdig, war das Schiff doch während des ganzen vorhergegangenen Spiels immer weiter den Bach entlang getrieben. Noch merkwürdiger war allerdings, dass die winzige Kapitänin nun nicht mehr nach vorne schauend, mit der linken Hand am Steuerruder stand, sondern sich dem Mädchen zugewandt hatte, den rechten Ellbogen lässig auf dem Steuerruder abgestützt. Dazu sah sie das Mädchen mit lachendem Gesicht an. Das Kind blickte stumm und fassungslos auf sein Spielzeug. Natürlich war es immer davon überzeugt gewesen, dass all seine Spielzeuge lebten, aber dies war das erste Mal, dass eines das ganz offen bestätigte. „Na, hast Du deine Zunge verschluckt?“, fragte die kleine Kapitänin belustigt. Das kleine Mädchen gab sich einen Ruck. Es wollte sich schließlich nicht ausgerechnet von einem Spielzeug verspotten lassen. „Warum kannst Du sprechen?“, fragte es mit piepsiger Stimme. „Warum, ist die Banane krumm?“, fragte die Kapitänin zurück. „Ich kann es eben!“ Das kleine Mädchen schluckte. Dann räusperte es sich und fragte „Und warum sprichst Du jetzt mit mir? Das hast Du doch vorher nicht getan.“. „Tja, vorher hast Du ja nicht mit mir reden wollen“, sagte die Kapitänin, „aber jetzt scheinst Du jemanden zum reden zu brauchen. Was bedrückt Dich denn so?“ Das Kind stutzte, beugte sich dann aber der Logik des Spielzeugs. Schließlich war es ja nur ein kleines Mädchen und was wusste es schon? „Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll“ jammerte es, nun wieder ganz von seinem Elend ergriffen. Die Kapitänin lachte wieder. „Das ist Dein ganzes Problem? Und nun soll ich Dir also den Weg weisen?“, fragte sie spöttisch. „Ja, da ich ihn selbst nicht weiß“, antwortete das kleine Mädchen verschüchtert. Die Kapitänin seufzte. „Nun gut“, sagte sie endlich, „Du bist wohl noch nicht so weit.“ Sie sah das kleine Mädchen an und deutete mit dem linken Händchen auf den Bach. „Denk doch mal nach. Du bist immer den Bach entlang gelaufen. Also?“. Sie hob die Stimme fragend an und machte eine Pause. Das Kind schaute verständnislos auf den Bach. Die Kapitänin seufzte erneut. „Also musst Du nur den Bach entlang zurück gehen.“, beendete sie ihren eigenen Satz. Das Mädchen sah die Spielzeugkapitänin verdutzt an. Dann viel es ihm wie Schuppen von den Augen und Erleichterung durchströmte seinen Körper. Es atmete tief aus. Jetzt wurde ihm klar, dass es vor lauter Angst nicht mehr hatte denken können. Die Antwort war doch ganz einfach gewesen. Aber dann viel ihm doch noch etwas ein: „Und wie hole ich Dich jetzt aus dem Wasser?“, fragte es „Du würdest Doch in die andere Richtung weitertreiben, wenn Du nicht merkwürdigerweise an dieser Stelle festsäßest.“ Die Kapitänin schmunzelte. „Das ist auch kein Problem“, gab sie zurück. „Siehst Du nicht, dass wir an einer Furt sind? Das Wasser ist überhaupt nicht tief! Du musst Dir nur Deine Schuhe und Strümpfe ausziehen und zu mir rüberwaten“. Überrascht schaute sich das Mädchen das Ufer des Baches und die Stelle an der das Schiff trieb genauer an. Es stimmte, das Wasser würde ihm gerade einmal bis zu den Knöcheln reichen. Nun kam es sich aber doch wirklich ein wenig dumm vor. Beherzt und entschlossen sich nicht wieder vor dem Spielzeug zu blamieren zog es Schuhe wie Strümpfe aus und watete in den Bach. Uh, war das Wasser eisig. Es klapperte mit den Zähnen. Dennoch zwang es sich stur weiter zu gehen. Bei dem Schiff angekommen hob es dieses hoch und trug es, die Luft wegen der Kälte anhaltend, auf den Armen aus dem Wasser heraus. Als sie wieder am Ufer angekommen waren, sah die Kapitänin verschmitzt zu dem Mädchen auf und sagte: „Lass Dich von meinem Spott nicht verdrießen, für Deinen ersten Ausflug in die große, weite Welt war das gar nicht so schlecht!“. Dann verstummte sie und vor den verwunderten Augen des Kindes wurde ihr Gesicht wieder so bewegungslos, wie es noch am selben Morgen, als die Mutter dem Kind das Spielzeug geschenkt hatte gewesen war. Auch ihr Körper stand nun wieder vorwärts gewandt, die Stiefel fest mit dem Deck verbunden, eine Hand am Steuerruder.
Das Mädchen stutzte und sah noch einmal genau hin. Es war die rechte Hand. Die Linke hing nun locker an der Seite herunter.
Nach einer Weile schüttelte das Mädchen den Kopf, setzte sich auf den weichen, etwas feuchten Waldboden am Ufer des Baches und zog sich Schuhe und Strümpfe wieder an. Dann packte es das Spielzeug und lief so schnell es nur konnte den blauen Bach entlang zurück nach Hause.
Die rote Sonne stand schon dicht über den Bergspitzen und die Schatten des herandämmernden Abends fielen auf die grünen Wiesen, als es endlich in seinem Tal ankam. Vor der Tür der Holzhütte sah es schon in der anbrechenden Dunkelheit die Eltern stehen, die besorgt und aufgeregt nach ihrem Kind Ausschau hielten. Das Mädchen rannte mit klopfendem Herzen, erlöst aber auch ein wenig schuldbewusst auf sie zu. „Wo warst Du denn nur“, rief der Vater, „wir haben uns solche Sorgen um Dich gemacht!“ Das Mädchen warf sich in seine Arme und er drückte es erleichtert an sich. Dann reichte der Vater das Kind der Mutter, die dem unschuldig blickenden Mädchen forschend ins Gesicht sah. Nach einer Weile nickte sie und sah ein bisschen drein, als ob sie innerlich seufzen würde. Dann drehte sie sich mit dem Mädchen auf dem Arm um und ging mir ihm, vom Vater begleitet zurück in die Hütte.
Später am Abend, als das Mädchen schon in dem kleinen Bett neben dem Herd lag, betrachtete es mit Augen, die vor Müdigkeit schon langsam zufielen noch einmal das Spielzeug, das im dämmernden Licht der verlöschenden Glut des Herdes auf einem kleinen, grob gezimmerten Tischchen neben seinem Bett stand. Seltsam war es schon, dass die winzige Kapitänin das Steuerruder nun mit der rechten Hand hielt. Sonst schien sich nichts verändert zu haben. Schließlich jedoch schloss das Kind ermattet die Augen. Auf dem Weg in die Welt des Schlummers folge ihm, gerade noch hörbar, eine leise, helle Stimme, die sagte: „Das nächste Mal gehen wir aber weiter!“

Quelle:
Emily Part

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content