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Das Mädchen, das die Nachtigall liebte

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Eine Frau hatte eine Tochter von unvergleichlicher Schönheit. Sie wurde Belladonna genannt. Bei ihrer Geburt hatten ihr die Feen die verschiedensten Gaben verliehen, unter anderem die Macht, sich in jede gewünschte Gestalt zu verwandeln.
Eines Tages nun sprach Belladonna zu ihrer Mutter:
»Mutter, ich möchte heiraten.«
»Aber mein Kind, du bist ja erst fünfzehn Jahre alt.«
»Ich möchte aber unbedingt heiraten.«
»Also gut, wenn es dein Wille ist, dann nenne mir deinen Auserwählten.«
»Ich möchte die Nachtigall heiraten, die allmorgendlich in unserem Apfelbaum singt.«
»Du willst eine Nachtigall heiraten? Bist du von Sinnen, oder machst du dich über mich lustig?« »Du kannst sagen, was du willst, ich heirate den Vogel, denn ich liebe ihn.«
Die arme Mutter war sehr betrübt.
»Liebe Tochter, mein geliebtes Kind, nimm einen liebenswerten, schönen, reichen Mann, der dich glücklich macht und mit dem du leben kannst.«
»Ihr könnt mich nicht umstimmen, ich will die Nachtigall.«
»Ach, willst du in den Bäumen umherklettern? Du bist viel zu groß, als daß du ihr überallhin folgen kannst.«
»Habe ich denn nicht die Macht, mich in eine Nachtigall zu verwandeln ?«
Als die Mutter merkte, daß es ihr nicht gelingen würde, ihre Tochter zu überzeugen, schloß sie sie zweifach ein, aus Angst, sie könnte in irgendeiner Gestalt entwischen.
Eines Tages lud eine Verwandte die Mutter zu einem Fest in der Nachbarschaft ein, und Belladonna wurde der Obhut des Kaplans anvertraut.
Kaum hatte die Mutter das Haus verlassen, bat das junge Mädchen :
»Kaplan, guter Kaplan, laßt mich doch einen dieser herrlichen Granatäpfel pflücken, die vor unserer Haustür wachsen.«
»Nein, mein Kind, Eure Mutter hat mir verboten, Euch hinauszulassen.«
»Dann holt mir wcnigstens einen, damit ich ihn essen kann.«
»Das will ich gern tun.«
Und der Kaplan öffnete die Tür zu Belladonnas Zimmer. Sogleich sagte sie zu sich:
»Ich sei eine Fliege.«
Und schon flog sie aus dem Haus. Einmal nach draußcn gelangt, fand sie es schöner, ein Mädchcn zu sein und wünschte:
»Ich sei Belladonna.«
Und sie nahm ihre alte Gestalt an. Nun lief das Mädchen durch die Felder und suchte ihre Nachtigall.
Die Verwunderung des Kaplans, als er bei seiner Rückkehr Belladonna nicht mehr vorfand, könnt ihr euch sicher vorstellen. Vergebens fragte er sich, wo sie wohl geblieben sei, und überall suchte er sie, doch umsonst.
Als die Mutter vom Fest heimkehrte, war sie über das Verschwinden ihrer Tochter sehr erzürnt, mußte sich aber schließlich doch darein finden.
Der Kaplan machte sich auf die Suche nach der Flüchtigen. Nachdem er den ganzen Tag umhergeirrt war, sah er Belladonna, wie sie sich gerade am Ufer eines Flusses ausruhte.
»Belladonna, Belladonna, habt keine Angst, Eure Mutter wird Euch vergeben.«
Doch bei seinem Anblick verwandelte sich das Mädchen schnell in einen Aal und glitt in den Fluß. Suchend näherte sich der Kaplan dem Ufer, doch er sah nur einen Aal, der sich im Wasser schlängelte, keine Spur mehr von dem Mädchen.
Da die Nacht hereinbrach, wandte er sich heimwärts und berichtete der Mutter:
»Ich habe Eure Tochter nahe bei einem Fluß gesehen, habe sie auch angesprochen, aber als sie mich bemerkte, verschwand sie sofort, ohne daß ich sagen kann, wo sie geblieben ist. Nur ein Aal tummelte sich im Wasser.«
»Dieser Aal war meine Tochter. Wenn du ihn gefangen hättest, wäre sie in ihre alte Gestalt zurückverwandelt worden.«
Der Kaplan machte sich von neuern auf. In einer weiten Ebene erblickte er das Mädchen Von fern. Schnell wollte er zu ihr laufen, da stand plötzlich ein undurchdringlicher Wald vor ihm, in welchem sich der Kaplan verirrte.
Zur Heimkehr gezwungen, erzählte er der Mutter, was ihm widerfahren war.
»Hättest du nur einen Zweig von den Bäumen dieses Waldes gebrochen, wäre Belladonna gezwungen, dir zu folgen, und wir hätten meine Tochter wieder.«
Zum dritten Mal brach der Kaplan auf.
Am Eingang eines Dorfes sah er eine Kapelle, daneben stand ein Priester, der in seinem Brevier las.
»Habt Ihr nicht vor kurzem ein Mädchen vorbeigehen sehen?«
»Man liest gerade die Messe!«
»Das hatte ich Euch nicht gefragt. Habt Ihr ein Mädchen vorbeigehen sehen?«
»Tretet ein, Ihr kommt gerade noch rechtzeitig.«
»Der Teufel hole Euch samt Eurer Messe!«
Und unverrichteter Dinge mußte der Kaplan zur Mutter Belladonnas zurückkehren.
»Was hast du gesehen?«
»Ich sah eine Kapelle und einen Priester, der sein Brevier las.«
»Herrje, das war meine Tochter, hättest du ihn gepackt, hätte sie dir folgen müssen.«
»Aber wie konnte ich denn, er sah so würdevoll aus.«
»Ach schweige doch, du wirst es niemals fertigbringen. Ich will selbst losgehen.«
Und nun machte sich die Mutter auf den Weg. Nach mehr als dreitägiger Suche erblickte sie ihre Tochter, die unter einem Baum saß und mit ihrer geliebten Nachtigall plauderte.
Wie sie sich entdeckt sah, verwandelte sich die schöne Liebende in einen Rosenstock.
Doch dieses Mal hatte sie kein Glück. Ihre Mutter bemächtigte sich des vollerblühten Busches und nahm ihn mit nach Haus. Während des ganzen Heimwegs begleitete sie der traurige Gesang der Nachtigall :

»Gebt mir meine Geliebte wieder,
wir sind für immer vereint.
Bei der Hochzeit war die Lerche die Ehrenjungfrau,
Buchfink und Flieder die Zeugen.
Gebt mir meine Geliebte wieder,
wir liebten uns aus vollem Herzen.
Ihr Herz und meines sind nun ein einziges Herz,
und wenn sie stirbt,
so werde auch ich sterben.«

Aber die Mutter Belladonnas hörte nicht, sondern strebte nur noch eiliger dem Hause zu. Dort wollte sie so schnell wie möglich Belladonna zurückverwandeln, was sie mit Hilfe eines wundertätigen Wassers, das ihr eine befreundete Fee geschenkt hatte, vermochte. Doch der arme Rosenbusch begann zu sterben. Ein Blütenblatt fiel auf den Weg, dann ein zweites, ein drittes, bis er ganz entblättert war.
Als die Mutter endlich daheim anlangte, war der Rosenbusch ganz vertrocknet.
Die Nachtigall war der Geliebten gefolgt, drei Tage lang sang sie jeden Morgen traurig im Apfelbaum. Am vierten Tag sang die Nachtigall nicht mehr. Auch sie war vor Kummer gestorben.

Märchen aus Korsika

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