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Märchenbasar

Der Zauberring

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In der Zeit vor dem Einfall der Sarazenen lebten sechs Brüder mit ihrer Schwester in tiefster Armut, denn ihre Eltern waren krank und konnten nicht mehr arbeiten.
Eines Tages gingen sie in einen nahe gelegenen Wald Kastanien suchen, und als sie nur wenige fanden, sprach der Jüngste zu seinen Brüdern :
»Ich werde in die Welt ziehen und versuchen, das Glück zu finden. Nach Ablauf einer Woche komme ich zurück und erzähle euch, wie es mir ergangen ist.«

Nach diesen Worten machte sich der jüngste Bruder auf den Weg. Einige Tage war er schon unterwegs, da erblickte er mitten im Wald ein kleines Haus.
»Endlich«, sprach er zu sich, »kann ich einen Augenblick verschnaufen und ein Stück Brot essen.«
Er klopfte an.
»Wer ist da?« rief es von drinnen.
»Ich bin es« , antwortete der Bruder .
Die Herrin des Hauses war aber eine Fee, und wie sie sah, daß draußen ein Mensch stand, ließ sie wie aus Versehen ihren Ring fallen.
»Ah, welch schöner Ring«, rief der kleine Bruder , hob ihn auf und steckte ihn sich an den Finger .
Da bedeckte sich sein Körper mit Fell, zwei Hörner wuchsen ihm, seine Ohren wurden länger und länger, und seine Hände verwandelten sich in Bocksfüße. Er war ganz und gar zu einem Ziegenbock geworden.
»Mäh, mäh, mäh« , machte der kleine Bruder, doch nichts konnte ihm seine ursprüngliche Gestalt zurückgeben.
Die Fee band ihn fest, zog ihn in den Keller und brachte ihm frisches Gras.
Nachdem sie vergebens auf ihren Bruder gewartet hatten, machten sich die anderen fünf der Reihe nach auf die Suche. Doch am Haus der Fee steckten sich alle den Ring, den diese ihnen zuwarf, an den Finger und erlitten das gleiche Schicksal wie der Jüngste.

Nun begab sich auch die Schwester auf die Suche. Sie war schön von Angesicht und Gestalt. Ihr Name war Milia. Unterwegs sah das Mädchen einen großen Vogel, der sich in einem Strauch verfangen hatte und sich vergeblich mühte, freizukommen.
Das Mädchen nahm sein Messer, zerhieb das Dornengestrüpp und gab dem Vogel die Freiheit wieder. Beim Davonfliegen rief dieser ihr zu:
»Danke Milia, danke, tausendmal Danke !«
Milia ging weiter, und als die Nacht hereinbrach setzte sie sich unter einen Baum, um ein Stück Brot zu essen. Wie sie so aß, sah sie eine arme alte Frau, die sich mühsam vorwärtsschleppte. Milia lief ihr entgegen und bot ihr ihre Hilfe an.
»Mein gutes Mütterchen, nehmt meinen Arm, ruht Euch ein Weilchen aus und teilt das Stück Brot mit mir, das ich noch übrig habe.«
Milia hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sie wie geblendet stehenblieb. Die alte Frau war plötzlich zu einer wunderschönen Fee geworden. Sie trug ein prächtiges, golddurchwirktes blau-rosa Kleid und am Hals einen herrlichen Perlenschmuck.
»Wünsche dir etwas, denn ich bin so mächtig, daß ich deinen Wunsch erfüllen kann.«
»Ich möchte wissen, wo meine Brüder sind, ob sie tot sind oder am Leben.«
»Deine Brüder leben noch, aber du wirst es schwer haben, sie wiederzuerkennen. Um zu ihnen zu gelangen, brauchst du nur geradeaus weiterzugehen. Sie sind in dem ersten Haus, an das dich dein Weg führen wird, eingesperrt.«
»Danke, gute Fee.«
Und wieder wanderte Milia weiter. Stunden um Stunden war sie schon gelaufen, da sah sie ein kleines Haus.
»Dort werden sie ganz gewiß sein«, sagte sich das Mädchen und lief schneller.
Sie war bis auf etwa fünfzig Schritt an das Haus herangekommen, da erblickte die böse Fee das Mädchen. Geschwind warf sie ihren Zauberring, aber ein großer Vogel stieß hernieder und trug ihn in seinem Schnabel davon. Es war derselbe Vogel, den Milia befreit hatte.
Milia klopfte an die Tür und trat ins Haus.
»Setz dich doch erst einmal« , forderte die Alte sie auf, »du mußt doch müde sein, ich werde etwas zu essen holen.«
Und sie verließ das Zimmer.
Da pochte der Vogel ans Fenster:
»Milia, nimm nichts von dieser bösen Frau, oder du wirst zu Stein werden. Deine Brüder wurden zu Ziegenböcken verwandelt und im Keller eingeschlossen. «
Nun kam die alte Fee zurück.
»Hier, iß ein Stück von diesem Kuchen und trink einen Schluck von diesem ausgezeichneten Wein.«
»Vielen Dank, aber ich habe weder Hunger noch Durst.«
»Nanu, nach einer so langen Reise?«
»Ich brauche nichts. Wenn Ihr mir einen Gefallen erweisen wollt, so laßt mich ruhig in dieser Ecke schlafen.«
»Wie du wünschst« , erwiderte die Fee und dachte : >Diese Kleine darf mir nicht entwischen., ich muß sie um jeden Preis haben.<
Sie holte eine goldene Kette und Kleider, die in allen Himmelsfarben leuchteten.
»Wenn du schon weder essen noch trinken willst, so nimm wenigstens diese Dinge. Jeder, der bei mir rastet, nimmt ein Zeichen meiner Güte mit sich.«
»Was soll ich armes Mädchen mit diesen kostbaren Gewändern anfangen ? Auf den engen, struppigen Pfaden werden Kleider und Geschmeide schnell verderben.«
.Als sie einsah, daß alle ihre Kniffe umsonst waren, legte sich die hinterlistige Fee in ihr Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.

Wieder klopfte der Vogel ans Fenster:
»Milia, wach auf, wach auf, Milia.«
»Was willst du?«
»Töte diese böse Fee, sonst findet sie ein Mittel, dich zu vernichten. Nimm dann das Hemd, welches sie trägt, und ziehe es selbst an, so wirst du ihre Zauberkraft erlangen.«
Milia erhob sich lautlos, nahm das Messer, das auf dem Tisch lag, und schnitt der bösen Fee den Hals durch. Danach zog sie ihr die Kleider aus und streifte sich das Hemd über. Im gleichen Moment wurden ihr eine Menge Dinge bewußt, und sie verstand auf einmal, was ihr zuvor ein undurchdringliches Geheimnis schien.
Bevor sie ihre Zauberkraft probierte, sah sich Milia das ganze Haus an. In einem Raum standen viele Statuen, zwei davon abgesondert in einer Nische. Das waren ein König und eine Königin, die von der Fee verzaubert worden waren.
Dann stieg Milia in den Keller. Dort sah sie sechs Ziegenböcke, die entsetzlich mager waren, obwohl im Überfluß zu fressen dalag.
»Ach, die armen Tiere, und das sollen meine Brüder sein?«
Und die gute Schwester begann zu weinen.
Gleich wollte sie sie zurückverwandeln, aber sie wußte nicht, wie sie es anstellen sollte. Zum Glück erinnerte sie sich, was auf dem Hemd der Fee geschrieben stand:
»Hemd, Hemd, bis zum Tod gehorche mir bei allem, was ich will.«
Milia sprach diese Worte und dachte dabei:
> Hemd, Hemd, mach, daß diese Böcke wieder Menschen werden wie zuvor.<
Und sogleich verloren die Böcke ihr Fell, ihre Hörner fielen ab, und ihre Bocksfüße verwandelten sich wieder in zwei menschliche Hände und Füße.
Stellt euch Milias Freude vor. Sie fiel ihren Brüdern, die sie gleich wiedererkannt hatte, um den Hals, und sie wollten gar nicht aufhören, sich zu umarmen.
»Wo ist die alte Fee, die uns in Tiere verwandelt hat ?«
»Sie ist tot, und ich habe all ihre Zauberkraft.«
»Wie ist das möglich, worin besteht diese Macht?«
»Ich kann euch mein Geheimnis nicht verraten. Jetzt muß ich noch alle anderen befreien, die in diesem Schloß sind.«
Das war schnell getan.
Der König, die Königin und die vielen anderen dankten Milia herzlich, wie ihr euch denken könnt. Sie wollten ihr Schlösser und Städte schenken, doch Milia lehnte alles ab. Hatte sie nicht das Hemd der Fee, um sich alle Wünsche zu erfüllen? Das Mädchen ließ mit ihrer Zauberkraft schöne goldene Kutschen aus der Erde hervorwachsen und verteilte sie an alle, die dort waren, damit sie nach Hause zurückkehren konnten.
Sie selbst nahm auch eine und spannte zwei schöne Pferde davor, die schneller liefen als der Wind.
Und so gelangte sie bei ihren Eltern an. Diese waren ganz verwundert, als sie Milia mit ihren Brüdern in einem solchen Gefährt sahen.
>Unsere Tochter hat das Glück gefunden<, dachten sie und waren zufrieden.

Doch eines Tages wurde das Hemd schmutzig, so schmutzig, daß Milia es zum Waschen geben wollte. Man breitete es zum Trocknen in der Sonne aus. Ein Landstreicher sah es, nahm es an sich und ergriff die Flucht. So konnte man lange danach suchen, das Hemd fand sich nicht wieder .
Untröstlich, das kostbare Hemd und damit ihre Zauberkraft verloren zu haben, starb Milia bald darauf .
Was ihre Brüder anbelangt, so machten sich diese auf die Suche nach dem Dieb, und man hat nie wieder von ihnen gehört. Sollte ich etwas von ihnen erfahren, werde ich es euch gewiß erzählen.

Märchen aus Korsika

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