Unter den Tschuktschen lebte einmal ein Mann, der eine einzige Tochter besaß.
Dieses Mädchen war des Vaters beste Stütze und Hilfe. Sommer für Sommer hütete sie die Rene weit fort vom Nomadenlager, Winter für Winter, zog sie noch weiter fort mit der Herde. Nur selten einmal fuhr sie mit ihrem Rentiergefährt ins Nomadenlager, um ein wenig Essen zu holen. Eines Nachts hob der Renbock vor ihrem Schlitten das Haupt, blickte zum Himmel auf und rief: „Schau, schau nur!“ Das Mädchen hob den Blick und sah, wie der Mond in einem Schlitten, vor den zwei Rene gespannt waren, vom Himmel niederkam. „Wohin will er? Weshalb?“ fragte das Mädchen. „Er will dich entführen!“ sprach der Renbock. Ängstlich fragte das Mädchen:
„Was soll ich tun? Er holt mich ganz gewiß zu sich!“ Der Renbock warf mit einem Huf den Schnee auf, bis sich eine Grube gebildet hatte, und gebot: Schlüpf rasch hinein!“
Das Mädchen gehorchte. Der Renbock deckte das Mädchen mit dem Schnee zu, bis es nicht mehr zu sehen war – nur ein kleiner Schneehügel zeichnete sich vom Boden ab.
Indessen war der Mond vom Himmel herabgeglitten, hielt seine Rene an und kletterte vom Schlitten. Er ging auf und ab und schaute sich aufmerksam nach allen Seiten um – er suchte das Mädchen. Doch er vermochte es nicht zu finden! Er ging auch zu dem Schneehügel, doch er erriet nicht, was da vor ihm lag. „Wie seltsam sprach der Mond, „wohin ist nur das Mädchen verschwunden?
Ich kann es nicht finden! Will mich lieber auf den Heimweg machen und ein andermal wiederkommen. Dann werde ich das schöne Kind ganz gewiß sehen und mit mir nehmen!“
Er stieg in seinen Schlitten, und die Rene brachten ihn in den Himmel zurück. Kaum war der Mond verschwunden, da scharrte der Renbock den Schnee beiseite. Das Mädchen sprang aus der Grube und bat: „ Laß uns so rasch wie möglich zum Nomadenlager fahren! Sonst erblickt mich der Mond und kommt abermals zu uns herab. Diesmal werde ich mich nicht mehr verstecken können.“
Das Mädchen stieg in den Schlitten und das Ren jagte davon, so schnell es seine Kräfte zuließen. Sie langten am Nomadenlager an.
Das Mädchen lief in den Tschum, doch der Vater war nicht da. Wer würde ihm helfen?
Der Renbock warnte das holde Kind: „Du mußt dich verstecken, sonst kommt der Mond auf unsere Spur!“ „Wo soll ich mich verstecken?“ „Ich will dich verwandeln! Vielleicht in einen Steinklotz. „Er wird mich erkennen!“ „Dann will ich euch in einen Hammer verwandeln!“ „Er wird mich erkennen!“ Dann mache ich dich zu einer Stange im Tschum.“ „Er wird mich erkennen!“
„Ich mache dich zu einem Härchen im Bettvorhang.“ „Er wird mich erkennen, er wird mich erkennen!“ „Was wollen wir nur tun?“ Will dich in einen Leuchter verwandeln!“
„O ja, das ist schön!“ „Setz dich!“ Das Mädchen gehorchte. Der Renbock pochte mit dem Huf auf den Boden, und alsbald verwandelte sich die Maid in einen Leuchter.
Er brannte hell und erleuchtete das Zelt.
Kaum hatte sich das Mädchen in einen Leuchter verwandelt, da hatte der Mond abermals die Herde der Jungfrau entdeckt und jagte ins Nomadenlager. Er band seine Rene fest und trat in den Tschum. Alsogleich fing er zu suchen an. Lange suchte er, vermochte jedoch nichts zu finden. Er schaute zwischen den Stangen hindurch, durchwühlte alle Gerätschaften, untersuchte jedes Härchen in den Fellen, jedes Würzelchen unter den Betten, fühlte jede Handbreit Erde im Zelt ab, doch das Mädchen blieb verschwunden!
Den Leuchter aber bemerkte er nicht, denn der leuchtete genauso hell wie der Mond selbst.
„Seltsam!“ sprach der Mond. Wo steckt sie nur? Ich muß mich wohl doch auf den Heimweg machen.“ Er verließ den Tschum, band die Rene los und stieg in seinen Schlitten. Als er gerade davonfahren wollte, kam das Mädchen angerannt, lugte unter dem Vorhang hervor, lachte und rief dem Mond zu:
„Hier bin ich doch! Hier bin ich doch!“
Der Mond ließ die Rene stehen und kehrte in den Tschum zurück. Das Mädchen aber hatte sich schon wieder in einen Leuchter verwandelt.
Abermals hub der Mond zu suchen an. Er suchte zwischen den Wurzeln und Blättern, zwischen Wollfäden und Erdkrumen, doch das Mädchen blieb verschwunden! „Was für ein Wunder! Wo steckte sie nur? Wohin ist sie verschwunden? Muß wohl unverrichteter Dinge zurückkehren!“ Kaum hatte er den Tschum verlassen und begann seine Rene loszubinden, da lugte das lose Mädchen unter dem Vorhang hervor, lachte und rief: „Hier bin ich doch!
Hier bin ich doch!“ Der Mond stürzte zurück in den Tschum und hub zu suchen an.
Er suchte lange, er durchwühlte alles, stülpte alles um, vermochte aber nichts zu finden….
Vom vielen Suchen wurde er müde, dünn und schwach. Er konnte nur noch mit größter Mühe seine Füße setzen und die Arme heben.
Da verging des Mädchens Angst. Es nahm seine frühere Gestalt an, sprang aus dem Tschum, warf den Mond auf den Rücken und fesselte ihn an Händen und Füßen. „Oho!“
sprach der Mond. „Willst du mich töten! Immmerzu, töte mich, hab ja selber Schuld, wollte dich von der Erde entführen.
Aber wickle mich, bevor ich sterben muß in den Vorhang ein, damit ich mich erwärmen kann, denn mich friert….“ Diese Worte erstaunten das Mädchen zutiefst: „Wieso frierst du? Du lebst immer in der Freiheit, besitzest kein Zelt und kein Haus. Drum bleib auch fürderhin draußen! Was willst du mit einem Vorhang?“ Flehte der Mond das Mädchen an: „Da ich auf ewig ein Heimatloser bin, entlaß mich ins Freie. Will deinem Volk zur Freude dienen. Laß mich frei, will deinem Volk die Wege weisen! Laß mich frei, will die Nacht zum Tage euch machen! Laß mich frei, will deinem Volk das Jahr messen! Will erst Mond des alten Stiers sein, alsdann der Mond der Kälber, der Mond der Gewässer, der Mond der Blätter, der Mond der Wärme, der Mond des Verlustes der Geweihe, der Mond der Liebe der wilden Rene, der Mond des ersten Winters, der Mond der kürzesten Tage….“
„Wenn ich dich nun freilasse, wenn du zu Kräften kommst, wenn deine Hände und Füße erstarken, versprichst du selbst dann, mich nie mehr zu holen?“ „Ja, ich verspreche es! Will niemals mehr von meinem Weg abweichen!
Laß mich frei, will euch in der Finsternis leuchten!“ Das Mädchen ließ ihn frei.
Seither leuchtet der Mond in der Finsternis.
*
Tschuktschen – Märchen