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Märchenbasar

Das Märchen vom Niagara

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Seit unbedenklichen Zeiten stürzten die Wasser des Niagaras in den tiefen Abgrund, und seine tosenden Fluten verschlingen unwiederbringlich alles, was sie einmal mit sich gerissen haben. Aber die Indianer, die das dröhnende Lied des Wasserfalles auf ihren weiten Wegen begleitet, fürchten sich nicht vor dem Niagara, weil sie ein Märchen von ihm kennen.
Einmal lebte in einem Indianerdorf ein wunderschönes Mädchen. Obzwar viele gutherzige, tüchtige und mutige Jünglinge um sie anhielten, verheirateten sie ihre Eltern mit einem reichen alten Mann, der sie nach der Hochzeit auf alle erdenkliche Weise quälte und sogar schlug. Er gab ihr niemals genug zu essen und ließ sie vom frühen Morgen bis späten Abend die schwersten Arbeiten verrichten. Der geizige Alte scharte zusammen, was er konnte, und hütete seine Wampumen wie seinen Augapfel. So war es denn nicht zu wundern, daß das Mädchen auf Schritt und Tritt bittere Tränen weinte. Schon ein paarmal hatte sie versucht, dem Alten davonzulaufen, der aber hatte sie immer wieder gefunden und zurückgebracht, und ihr Los war nach jedem solchen Fluchtversuch nur noch bedauernswerter geworden.
Eines Tages dachte sie: Lieber sterben, als noch länger seine Schläge ertragen!
Das war an einem Abend, gerade als die Kanus der Jäger heimkehrten, das Mädchen ließ sie nicht aus den Augen, und als am Ufer keine Seele mehr zu sehen war, sprang sie entschlossen in eines der Boote. Der Strom trug sie rasch dem Wasserfall entgegen. Bald brach sich der ebene Wasserspiegel und stürtzte in den Abgrund. Das Kanu sauste hinunter. Das Mädchen schloß vor Angst die Augen, denn es glaubte sich verloren. Aber was war das? Statt zu zerschellen, landete das Boot, wie von einer Riesenhand gehalten, sanft und lautlos auf dem Wasserspiegel.
Das überraschte Mädchen fand sich samt seinem Kanu in einer großen Höhle wieder, deren Ausgang durch die undurchdringlichen
Wände des Wasserfalls versperrt war.
„Paddle zu mir, paddle zu mir!“ hörte sie eine freundliche Stimme, die sie wie mit einem Schlage von aller Angst befreite. Sie wandte den Kopf nach der Richtung, aus der die Stimme kam, und erblickte einen Mann, der so groß war, daß schon ein bloßer Finger von ihm die Länge ihres Kanus erreichte.
„Wer bist du?“ fragte sie ihn.
„Ich bin Hinun, ein guter Riese, und will dir helfen. Vom Niagara habe ich erfahren, daß du auf dem Weg zu mir bist. Du kannst in meiner Behausung so lange wohnen, bis der alte Geizhals tot ist.“ Das Mädchen blieb von Herzen gern in der Höhle des Riesen, wo es ihm an nichts fehlte. Hinun berichtete ihr alles, was sich im Lager ereignete, und wie sie der Geizhals vergebens suchte. Eines Tages aber kehrte er mit finsterem Gesicht in die Höhle zurück. „Dein Mann ist böse und habgierig“, sagte er,…..“und um so viel Wampumen als möglich zusammenscharen, kauft er den Bleichgesichtern ihr Feuerwasser ab und verkauft es mit großem Gewinn an die Indianer. Er weiß daß das Feuerwasser eine große Gefahr für die Rothäute bedeutet, aber das kümmert ihn wenig. Er hat nur eines im Kopf: Reicher und immer reicher zu werden….“
„Was kannst du dagegen tun, Hinun?“
„Ich werde mit ihm kämpfen!“ entgegnete der Riese, und noch ehe das Mädchen eine weitere Frage stellen konnte, war er verschwunden.

Der Geizhals saß in seinem Wigwam auf der Erde und konnte die Augen nicht von den schillernden Wampumen lassen, die in mehreren Haufen vor ihm lagen.
„Meine Muschelchen, meine lieben Muschelchen“, flüsterten seine blutleeren Lippen, „ach, ich hätte doch mehr, mehr……..!“
In den Anblick seines Schatzes verloren, merkte er gar nicht, daß sich draußen ein starker Wind erhoben hatte. Erst als die Wände des Wigwams den immer heftiger werdenden Windstößen nachzugeben begannen, schrak der Alte zusammen und rief mit zitternder Stimme: „Was ist denn, was ist denn?“ Da krachte ein Donnerschlag. Der Geizhals stürzte hinaus und geradewegs Hinun in die Hände, der ihn mit zornrotem Gesicht und drohend erhobener Faust zurief:
„Ich bin gekommen, um dich für deine Übeltaten zu bestrafen!“
„Ha,ha“ , lachte der Alte krächzend, „die bösen Geister sind stärker als du!“ Er hob die Arme über den Kopf und bewegte sie wie Flügel, wobei er einige unverständliche Worte ausstieß. Plötzlich wurde sein Gesicht schwarz und versteinerte. Auch seine Arme und Beine und sein ganzer Körper wurden allmählich zu Stein. Das steinerne Ungeheuer setzte sich in Bewegung, und die Erde erbebte unter seinen Schritten. Hinun schoß ein Pfeil nach dem anderen in den steinernen Leib, aber vergebens.
„Ha, ha, deine Pfeile können mir nichts anhaben“, krächzte der grausige Alte und zerbrach mit seinen steinernen Fingern Pfeil um Pfeil. Hinun mußte fliehen. Der Alte trabte ihm nach. Der Riese hatte mit einem einzigen Sprung den hohen Felsen über dem Wasserfall erreicht und stieg hinauf. Der Alte folgte ihm. Endlich hatte Hinun den Gipfel erklommen. Er richtete sich auf, und sein Kopf stieß bis in die Wolken hinein; so groß war er. Aber der Feind hatte ihn bald eingeholt, und versuchte ihn gegen den Rand des Abgrundes zu drängen. Der Riese leistete ihm mit allen Kräften Widerstand, aber er war zu schwach.
Erst als er schon über dem Abgrund hing und jeden Augenblick abstürzen konnte, gelang es ihm, sich aus der todbringenden Umarmung des Ungeheuers, dessen Atem er brennend auf seiner Haut fühlte, zu befreien und wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Auch der Alte wollte sich durch einen Sprung von der gefährlichen Stelle auf den sicheren Felsen retten, aber er war so scher, daß der Felsrand unter ihm nachgab und ihn mit sich in die Tiefe riß. Ein Donnern und Dröhnen, der steinerne Koloß zersprang in tausend Stücke, und die bösen Geister, die bis zu diesem Augenblick ihre schützende Hand über ihn gehalten hatten, suchten entsetzt das Weite.
Dabei ließen sie ein lautes Jammergeschrei hören:
„O weh, o weh! Einer von uns! Und das Echo, das in den Felsen wohnt, schickte ihr Klagelied in die ganze Gegend: „O weh, o weh!“ Auch bis zu dem Mädchen drang die freudige Kunde. Sie wartete voller Ungeduld auf die Rückkehr des Riesen, und als er kam,
sagte sie: „Ich habe schon erfahren, daß du den Bösewicht besiegt hast und werde dir dafür mein Leben lang dankbar sein. Jetzt kann ich wieder heimkehren, aber ich muß dich noch bitten, mir durch den Wasserfall zu helfen.“
„Setz dich in dein Kanu“, gebot ihr Hinun. Sie gehorchte, er nahm wieder das ganze Boot in seine Hand, hielt mit der anderen den Wasserfall an, um das Mädchen vor den wilden Fluten zu schützen, und stellte dann das Kanu behutsam ans Ufer.
„Nun braucht dir vor dem alten Geizhals nicht mehr bange sein“, sagte er beim Abschied, „und wenn wieder einmal jemand Lust haben sollte, dich zu quälen, dann schicke ihn zu mir in den Felsen!“ Nach diesen Worten sah er sich noch einmal um und trat in die stürzenden Wasser des Niagara, wo er für immer verschwand.
Das Mädchen blickte um sich. Es war ihr, als wäre alles, was ie erlebt hatte, ein bloßer Traum gewesen. Ach, hier war ja der Pfad, der sie ins Lager zurückführen würde…….Ich muß mir Gewißheit verschaffen, ob ich das alles nur geträumt habe, oder ob es Wirklichkeit ist, dachte sie. Sie suchte den alten Bösewicht im ganzen Lager. Als sie ihn nirgends finden konnte, nahm sie einige Indianer in die Felsen mit, und dort überzeugten sich alle mit eigenen Augen, daß das Erlebnis des Mädchens kein Traum gewesen war. An einer Stelle lagen schwarze Steine verstreut, die an einen menschlichen Leichnam erinnerten.
Dem Mädchen fielen die Worte des guten Riesen ein, und es sagte: „Dies sind die Überreste des alten Geizhalses, und sie mögen für die Zukunft allen Indianern, die es nach Gewinn und Reichtum gelüstet, ein abschreckendes Beispiel sein!“

Quelle: Märchen der Indianerstämme: Seneka-Tuscarora
Nordamerika

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