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Märchenbasar

Das Märchen von der grünen Schlange und der weißen Lilie

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Dagegen regte die Schlange desto emsiger. Sie schien auf Rettung zu sinnen, und wirklich dienten ihre sonderbaren Bewegungen wenigstens die nächsten schrecklichen Folgen des Unglücks auf eine Zeit zu hindern. Sie zog mit ihrem geschmeidigen Körper einen weiten Kreis um den Leichnam, fasste das Ende ihres Schwanzes mit den Zähnen und blieb ruhig liegen.
Nicht lange, so trat eine der schönen Dienerinnen Liliens hervor, brachte den elfenbeinernen Feldstuhl, und nötigte, mit freundlichen Gebärden, die Schöne sich zu setzen. Bald darauf kam die zweite, die einen feuerfarbigen Schleier trug und das Haupt ihrer Gebieterin damit mehr zierte als bedeckte. Die dritte übergab ihr die Harfe, und kaum hatte sie das prächtige Instrument an sich gedrückt, und einige Töne aus den Saiten hervorgelockt, als die erste mit einem hellen runden Spiegel zurückkam, sich der Schönen gegenüber stellte, ihre Blicke auffing und ihr das angenehmste Bild, das in der Natur zu finden war, darstellte. Der Schmerz erhöhte ihre Schönheit, der Schleier ihre Reize, die Harfe ihre Anmut, und so sehr man hoffte ihre traurige Lage verändert zu sehen, so sehr wünschte man ihr Bild ewig, wie es gegenwärtig erschien, festzuhalten.
Mit einem stillen Blick nach dem Spiegel lockte die bald schmelzende Töne aus den Saiten, bald schien ihr Schmerz zu steigen, und die Saiten antworteten gewaltsam mit ihrem Jammer. Einige Mal eröffnete sie den Mund zu singen, aber die Stimme versagte ihr, doch bald löste sich ihr Schmerz in Tränen auf, zwei Mädchen, fassten sie hilfreich in die Arme, die Harfe sank aus ihrem Schoße, kaum ergriff noch die schnelle Dienerin das Instrument und trug es beiseite.
„Wer schafft uns den Mann mit der Lampe, ehe die Sonne untergeht?“ zischte die Schlange leise, aber vernehmlich. Die Mädchen sahen einander an, und Liliens Tränen vermehrten sich. In diesem Augenblicke kam atemlos die Frau mit dem Korbe zurück. „Ich bin verloren und verstümmelt!“, rief sie aus. „Seht wie meine Hand beinahe ganz weggeschwunden ist. Weder der Fährmann noch der Riese wollten mich übersetzen, weil ich noch eine Schuldnerin des Wassers bin. Vergebens habe ich hundert Kohlhäupter und hundert Zwiebeln angeboten, man will nicht mehr als die drei Stücke, und keine Artischocke ist nun einmal in diesen Gegenden zu finden.“
„Vergesst Eure Not“, sagte die Schlange, „und sucht hier zu helfen. Vielleicht kann Euch zugleich mitgeholfen werden. Eilt was ihr könnt, die Irrlichter aufzusuchen. Es ist noch zu hell, sie zu sehen, aber vielleicht hört ihr sie lachen und flattern. Wenn sie eilen, so setzt sie der Riese noch über den Fluss, und sie können den Mann mit der Lampe finden und schicken.“
Das Weib eilte so viel sie konnte, und die Schlange schien ebenso ungeduldig als Lilie die Rückkunft der beiden zu erwarten. Leider vergoldete schon der Strahl der sinkenden Sonne nur den höchsten Gipfel der Bäume des Dickichts, und lange Schatten zogen sich über See und Wiese. Die Schlange bewegte sich ungeduldig und Lilie zerfloss in Tränen.
In dieser Not sah die Schlange sich überall um, denn sie fürchtete jeden Augenblick, die Sonne werde untergehen, die Fäulnis den magischen Kreis durchdringen und den schönen Jüngling unaufhaltsam anfallen. Endlich erblickte sie hoch in den Lüften, mit purpurroten Federn den Habicht, dessen Brust die letzten Strahlen der Sonne auffing. Sie schüttelte sich vor Freuden über das gute Zeichen, und sie betrog sich nicht. Denn kurz darauf sah man den Mann mit der Lampe über den See hergleiten, gleich als wenn er auf Schlittschuhen ginge.
Die Schlange veränderte nicht ihre Stelle, aber die Lilie stand auf und rief ihm zu: „Welcher gute Geist sendet dich in dem Augenblick, da wir so sehr nach dir verlangen und deiner so sehr bedürfen?“
„Der Geist meiner Lampe“, versetzte der Alte, „treibt mich und der Habicht führt mich hierher. Sie spratzelt wenn man meiner bedarf, und ich sehe mich nur in den Lüften nach einem Zeichen um. Irgendein Vogel oder Meteor zeigt mir die Himmelsgegend an, wohin ich mich wenden soll. Sei ruhig, schönstes Mädchen! Ob ich helfen kann weiß ich nicht, ein einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt. Aufschieben wollen wir und hoffen.“ „Halte deinen Kreis geschlossen“, fuhr er fort, indem er sich an die Schlange wendete, sich auf einen Erdhügel neben sie hinsetzte und den toten Körper beleuchtete. „Bringt den artigen Kanarienvogel auch her und leget ihn in den Kreis!“ Die Mädchen nahmen den kleinen Leichnam aus dem Korbe, den die Alte stehen ließ, und gehorchtem dem Manne.
Die Sonne war indessen untergegangen, und wie die Finsternis zunahm, fing nicht allein die Schlange und die Lampe des Mannes nach ihrer Weise zu leuchten an, sondern der Schleier Liliens gab auch ein sanftes Licht von sich, das wie eine zarte Morgenröte ihre blassen Wangen und ihr weißes Gewand mit einer unendlichen Anmut färbte. Man sah sich wechselweise mit stiller Betrachtung an, Sorge und Trauer waren durch eine sichere Hoffnung gemildert.
Nicht unangenehm erschien daher das alte Weib in Gesellschaft der beiden munteren Flammen, die zwar zeither sehr verschwendet haben mussten, denn sie waren weder äußerst mager geworden, aber sich nur desto artiger gegen die Prinzessin und die übrigen Frauenzimmer betrugen. Mit der größten Sicherheit und mit vielem Ausdruck sagten sie ziemlich gewöhnliche Sachen, besonders zeigten sie sich sehr empfänglich für den Reiz, den der leuchtende Schleier über Lilien und ihre Begleiterinnen verbreitete. Bescheiden schlugen die Frauenzimmer ihre Augen nieder und das Lob ihrer Schönheit verschönerte sie wirklich. Jedermann war zufrieden und ruhig bis auf die Alte. Ungeachtet der Versicherung ihres Mannes, dass ihre Hand nicht weiter abnehmen könne solange sie von seiner Lampe beschienen sei, behauptete sie mehr als einmal, dass, wenn es so fortgehe, noch vor Mitternacht dieses edle Glied völlig verschwinden werde.
Der Alte mit der Lampe hatte dem Gespräch der Irrlichter aufmerksam zugehört und war vergnügt, dass Lilie durch diese Unterhaltung zerstreut und aufgeheitert worden. Und wirklich war Mitternacht herbeigekommen man wusste nicht wie. Der Alte sah nach den Sternen und fing darauf zu reden an: „Wir sind zur glücklichen Stunde beisammen, jeder verrichte sein Amt, jeder tue seine Pflicht und ein allgemeines Glück wird die einzelnen Schmerzen in sich auflösen, wie ein allgemeines Unglück einzelne Freuden verzehrt.“
Nach diesen Worten entstand ein wunderbares Geräusch, denn alle gegenwärtigen Personen sprachen für sich und drückten laut aus was sie zu tun hätten, nur die drei Mädchen waren stille. Eingeschlafen war die eine neben der Harfe, die andere neben dem Sonnenschirm, die dritte neben dem Sessel, und man konnte es ihnen nicht verdenken, denn es war spät. Die flammenden Jünglinge hatten nach einigen vorübergehenden Höflichkeiten, die sie auch den Dienerinnen gewidmet, sich doch zuletzt nur an Lilien, als die Allerschönste, gehalten.
„Fasse“, sagte der Alte zum Habicht, „den Spiegel, und mit dem ersten Sonnenstrahl beleuchtete die Schläferinnen und weckte sie mit zurückgeworfenem Lichte aus der Höhe.“
Die Schlange fing nunmehr an sich zu bewegen, löste den Kreis auf und zog langsam in großen Ringen nach dem Fluse. Feierlich folgten ihr die beiden Irrlichter, und man hätte sie für die ernsthaftesten Flammen halten sollen. Die Alte und der Mann ergriffen den Korb, dessen sanftes Licht man bisher kaum bemerkt hatte, sie zogen von beiden Seiten daran, und er ward immer größer und leuchtender, sie hoben darauf den Leichnam des Jünglings hinein und legten ihm den Kanarienvogel auf die Brust, der Korb hob sich in die Höhe und schwebte über dem Haupte der Alten und sie folgte den Irrlichtern auf dem Fuße. Die schöne Lilie nahm den Mops auf ihren Arm und folgte der Alten, der Mann mit der Lampe beschloss den Zug, und die Gegend war von diesen vielerlei Lichtern auf das sonderbarste erhellt.
Aber mit nicht geringer Bewunderung sah die Gesellschaft, als sie zu dem Fluse gelangte, einen herrlichen Bogen über denselben hinübersteigen, wodurch die wohltätige Schlange ihnen einen glänzenden Weg bereitete. Hatte man bei Tage die durchsichtigen Edelsteine bewundert, woraus die Brücke zusammengesetzt schien, so erstaunte man bei Nacht über ihre leuchtende Herrlichkeit. Oberwärts schnitt sich der helle Kreis scharf an dem dunklen Himmel ab, aber unterwärts zuckten lebhafte Strahlen nach dem Mittelpunkte zu und zeigten die bewegliche Festigkeit des Gebäudes. Der Zug ging langsam hinüber, und der Fährmann, der von ferne aus seiner Hütte hervorsah, betrachtete mit Staunen den leuchtenden Kreis und die sonderbaren Lichter, die darüber zogen.
Kaum waren sie dem anderen Ufer angelangt, als der Bogen nach seiner Weise zu schwanken und sich wellenartig dem Wasser zu nähern anfing. Die Schlange bewegte sich bald darauf ans Land, der Korb setzte sich zur Erde nieder, und die Schlange zog aufs neue ihren Kreis umher, der Alte neigte sich vor ihr und sprach: „Was hast du beschlossen?“
„Mich aufzuopfern, ehe ich aufgeopfert werde“, versetzte die Schlange. „Versprich mir, dass du keinen Stein am Lande lassen willst.“
Der Alte versprach’s und sagte darauf zur schönen Lilie: „Rühre die Schlange mit der linken Hand an und deinen Geliebten mit der rechten.“ Lilie kniete nieder und berührte die Schlange und den Leichnam. Im Augenblicke schien dieser in das Leben überzugehen, er bewegte sich im Korbe, ja er richtete sich in die Höhe und saß. Lilie wollte ihn umarmen, allein der Alte hielt sie zurück, er half dagegen dem Jüngling aufstehen und leitete ihn, indem er aus dem Korbe und dem Kreise trat.
Der Jüngling stand, der Kanarienvogel flatterte auf seiner Schulter, es war wieder Leben in beiden, aber der Geist war noch nicht zurückgekehrt. Der schöne Freund hatte die Augen offen und sah nicht, wenigstens schien er alles ohne Teilnehmung anzusehen, und kaum hatte sich die Verwunderung über diese Begebenheit in etwas gemäßigt, als man erst bemerkte, wie sonderbar die Schlange sich verändert hatte. Ihr schöner schlanker Körper war in tausend und tausend leuchtende Edelsteine zerfallen. Unvorsichtig hatte die Alte, die nach ihrem Korbe greifen wollte, an sie gestoßen, und man sah nichts mehr von der Bildung der Schlange, nur ein schöner Kreis leuchtender Edelsteine lag im Grase.
Der Alte machte sogleich Anstalt, die Steine in den Korb zu fassen, wozu ihm seine Frau behilflich sein musste. Beide trugen darauf den Korb gegen das Ufer an einen erhabenen Ort, und er schüttete die ganze Ladung, nicht ohne Widerwillen der Schönen und seines Weibes, der gerne davon sich etwas ausgesucht hätten, in den Fluss. Wie leuchtende und blinkende Sterne schwammen die Steine mit den Wellen hin, und man konnte nicht unterscheiden, ob sie sich in der Ferne verloren oder untersanken.
„Meine Herren“, sagte darauf der Alte ehrerbietig zu den Irrlichtern, „nunmehr zeige ich Ihnen den Weg und eröffne den Gang, aber Sie leisten uns den größten Dienst, wenn Sie uns die Pforte des Heiligtums öffnen, durch die wir einmal eingehen müssen und die außer Ihnen niemand aufschließen kann.“
Die Irrlichter neigten sich anständig und blieben zurück. Der Alte mit der Lampe ging voraus in den Felsen, der sich vor ihm auftat. Der Jüngling folgte ihm, gleichsam mechanisch. Still und ungewiss hielt sich Lilie in einiger Entfernung hinter ihm. Die Alte wollte nicht gerne zurückbleiben und streckte ihre Hand aus, damit ja das Licht von ihres Mannes Lampe sie erleuchten könne. nun schlossen die Irrlichter den Zug, indem sie die Spitzen ihrer Flammen zusammenneigten und miteinander zu sprechen schienen.
Sie waren nicht lange gegangen, als der Zug sich vor einem großen ehernen Tore befand, dessen Flügel mit einem goldenen Schloss verschlossen waren. Der Alte rief sogleich die Irrlichter herbei, die sich nicht lange aufmuntern ließen, sondern geschäftig mit ihren spitzesten Flammen Schloss und Riegel aufzehrten.
Laut tönte das Erz, als die Pforten schnell aufsprangen und im Heiligtum die würdigen Bilder der Könige, durch die hereintretenden Lichter beleuchtet, erschienen. Jeder neigte sich vor den ehrwürdigen Herrschern, besonders ließen es die Irrlichter an krausen Verbeugungen nicht fehlen.
Nach einiger Pause fragte der goldene König: „Woher kommt ihr?“ – „Aus der Welt“, antwortete der Alte. „Wohin geht ihr?“ fragte der silberne König. – „In die Welt“, sagte die Alte. – „Was wollt ihr bei uns?“ fragte der eherne König. – „Euch begleiten“, sagte der Alte.
Der gemischte König wollte eben zu reden anfangen, als der goldne zu den Irrlichtern, die ihm zu nahe gekommen waren, sprach: „Hebet euch weg von mir, mein Gold ist nicht für euren Gaum.“ Sie wandten sich darauf zum silbernen und schmiegten sich an ihn, sein Gewand glänzte schön von ihrem gelblichen Widerschein. „Ihr seid mir willkommen“, sagte er, „aber ich kann euch nicht ernähren. Sättigt euch auswärts und bringt mir euer Licht.“ Sie entfernten sich und schlichen, bei dem ehernen vorbei, der sie nicht zu bemerken schien, auf den zusammengesetzten los. „Wer wird die Welt beherrschen?“ rief dieser mit stotternder Stimme. – „Wer auf seinen Füßen steht“, antwortete der Alte. – „Das bin ich!“ sagte der gemischte König. – „Es wird sich offenbaren“, sagte der Alte, „denn es ist an der Zeit.“
Die schöne Lilie fiel dem Alten um den Hals und küsste ihn aufs herzlichste. „Heiliger Vater“, sagte sie, „tausendmal dank‘ ich dir, denn ich höre das ahnungsvollste Wort zum dritten Mal.“ Sie hatte kaum ausgeredet, als sie sich noch fester an den Alten anhielt, denn der Boden fing unter ihnen an zu schwanken, die Alte und der Jüngling hielten sich auch aneinander, nur die beweglichen Irrlichter merkten nichts.
Man konnte deutlich fühlen, dass der ganze Tempel sich bewegte, wie ein Schiff das sich sanft aus dem Hafen entfernt, wenn die Anker gelichtet sind; die Tiefen der Erde schienen sich vor ihm aufzutun als er hindurch zog. Er stieß nirgends an, kein Felsen stand ihm in dem Weg.
Wenige Augenblicke schien ein feiner Regen durch die Öffnung der Kuppel hereinzurieseln. Der Alte hielt die schöne Lilie fester und sagte zu ihr: Wir sind unter dem Fluse und bald am Ziel. Nicht lange darauf glaubten sie stillzustehen, doch sie betrogen sich: der Tempel stieg aufwärts.
Nun entstand ein seltsames Getöse über ihrem Haupte. Bretter und Balken, in ungestalter Verbindung, begannen sich zu der Öffnung der Kuppel krachend hereinzudrängen. Lilie und der Alte sprangen zur Seite, der Mann mit der Lampe fasste den Jüngling und blieb stehen. Die kleine Hütte des Fährmanns, denn sie war es, die der Tempel, im Aufsteigen, vom Boden abgesondert und in sich aufgenommen hatte, sank allmählich herunter und bedeckte den Jüngling und den Alten.
Die Weiber schrieen laut, und der Tempel schütterte wie ein Schiff, das unvermutet ans Land stößt. Ängstlich irrten die Frauen in der Dämmerung um die Hütte, die Türe war verschlossen und auf ihr Pochen hörte niemand. Sie pochten heftiger und wunderten sich nicht wenig, als zuletzt das Holt zu klingen anfing. Durch die Kraft der verschlossenen Lampe war die Hütte von innen heraus zu Silber geworden. Nicht lange, so veränderte sie sogar ihre Gestalt; denn das edle Metall verließ die zufälligen Formen der Bretter, Pfosten und Balken, und dehnte sich zu einem herrlichen Gehäuse von getriebener Arbeit aus. Nun stand ein herrlicher kleiner Tempel in der Mitte des großen, oder wenn man will, ein Altar des Tempels würdig.
Durch eine Treppe, die von innen heraufging, trat nunmehr der edle Jüngling in die Höhe, der Mann mit der Lampe leuchtete ihm, und ein anderer schien ihn zu unterstützen, der in einem weißen kurzen Gewand hervorkam und ein silbernes Ruder in der Hand hielt. Man erkannte in ihm sogleich den Fährmann, den ehemaligen Bewohner der verwandelten Hütte.
Die schöne Lilie stieg die äußeren Stufen hinauf, die von dem Tempel auf den Altar führten, aber noch immer musste sie sich von ihrem Geliebten entfernt halten. Die alte, deren Hand, solange die Lampe verborgen gewesen, immer kleiner geworden war, rief: „Soll ich doch noch unglücklich werden?“ Ihr Mann deutete nach der offenen Pforte und sagte: „Siehe, der Tag bricht an, eile und bade dich im Fluse.“ – „Welch ein Rat!“ rief sie, „ich soll wohl ganz schwarz werden und ganz verschwinden, habe ich doch meine Schuld noch nicht bezahlt.“ – „Gehe“, sagte der Alte, „und folge mir! Alle Schulden sind abgetragen.“
Die Alte eilte weg, und in dem Augenblick erschien das Licht der aufgehenden Sonne an dem Kranze der Kuppel, der Alte trat zwischen den Jüngling und die Jungfrau und rief mit lauter Stimme: „Drei sind die da herrschen auf Erden: die Weisheit, der Schein und die Gewalt.“ Bei dem ersten Worte stand der goldne König auf, bei dem zweiten der silberne und bei dem dritten hatte sich der eherne langsam emporgehoben, als der zusammengesetzte König sich plötzlich ungeschickt niedersetzte.
Wer ihn sah, konnte sich, ungeachtet des feierlichen Augenblicks, kaum des Lachens enthalten, denn er saß nicht, er lag nicht, er lehnte sich nicht an, sondern er war förmlich zusammengesunken.
Die Irrlichter, die sich bisher um ihn beschäftigt hatten, traten zur Seite. Sie schienen, obgleich blass beim Morgenlichte, doch wieder gut genährt und wohl bei Flammen. Sie hatten auf eine geschickte Weise die goldenen Adern des kolossalen Bildes mit ihren spitzen Zungen bis aufs innerste herausgeleckt. Die unregelmäßigen leeren Räume, die dadurch entstanden waren, erhielten sich eine Zeitlang offen und die Figur blieb in ihrer vorigen Gestalt. Als aber auch zuletzt die zartesten Äderchen aufgezehrt waren, brach auf einmal das Bild zusammen und leider gerade an den Stellen, die ganz bleiben, wenn der Mensch sich setzt. Dagegen blieben die Gelenke, die sich hätten biegen sollen, steif. Wer nicht lachen konnte, musste seine Augen wegwenden. Das Mittelding zwischen Form und Klumpen war widerwärtig anzusehen.
Der Mann mit der Lampe führte nunmehr den schönen, aber immer noch starr vor sich hinblickenden Jüngling vom Altare herab und gerade auf den ehernen König los. Zu den Füßen des mächtigen Fürsten lag ein Schwert, in eherner Scheide. Der Jüngling gürtete sich. – „Das Schwert an der Linken, die Rechte frei!“ rief der gewaltige König. Sie gingen darauf zum silbernen, der sein Zepter gegen den Jüngling neigte. Dieser ergriff es mit der linken Hand, und der König sagte mit gefälliger Stimme: „Weide die Schafe!“ Als sie zum goldenen König kamen, drückte er mit väterlich segnender Gebärde den Jüngling den Eichenkranz aufs Haupt und sprach: „Erkenne das Höchste!“
Der Alte hatte während dieses Umgangs den Jüngling genau bemerkt. Nach umgürteten Schwert hob sich seine Brust, seine Arme regten sich und seine Füße traten fester auf. Indem er den Zepter in die Hand nahm, schien sich die Kraft zu mildern und durch einen unaussprechlichen Reiz noch mächtiger zu werden. Als aber der Eichenkranz seine Locken zierte, belebten sich seine Gesichtszüge, sein Auge glänzte von unaussprechlichem Geist, und das erste Wort seines Mundes war Lilie.
„Liebe Lilie!“ rief er, als ihr die silbernen Treppen hinauf entgegeneilte; denn sie hatte von der Zinne des Altars seiner Reise zugesehen: „liebe Lilie! was kann der Mann, ausgestattet mit allem, sich Köstlichers wünschen als die Unschuld und die stille Neigung, die mir dein Busen entgegenbringt?“ „O! mein Freund“, fuhr er fort, indem er sich zu der Alten wendete und die drei heiligen Bildsäulen ansah, „herrlich und sicher ist das reich unserer Väter, aber du hast die vierte Kraft vergessen, die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht, die Kraft der Liebe.“ Mit diesen Worten fiel er dem schönen Mädchen um den Hals. Sie hatte den Schleier weggeworfen und ihre Wangen färbten sich mit der schönsten unvergänglichen Röte.
Hierauf sagte der Alte lächelnd: „Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr.“
Über dieser Feierlichkeit, dem Glück, dem Entzücken hatte man nicht bemerkt, dass der Tag völlig angebrochen war, und nun fielen auf einmal durch die offene Pforte ganz unerwartete Gegenstände der Gesellschaft in die Augen. Ein großer mit Säulen umgebender Platz machte den Vorhof, an dessen Ende man eine lange und prächtige Brücke sah, die mit vielen Bogen über den Fluss hinüber reichte. Sie war an beiden Seiten mit Säulengängen für die Wanderer bequem und prächtig eingerichtet, deren sich schon viele Tausende eingefunden hatten, und emsig hin- und wiedergingen. Der große Weg in der Mitte war von Herden und Maultieren, Reitern und Wagen belebt, die an beiden Seiten, ohne sich zu hindern, stromweise hin- und herflossen. Sie schienen sich alle über die Bequemlichkeit und Pacht zu verwundern, und der neue König mit seiner Gemahlin war über die Bewegung und das Leben dieses großen Volkes so entzückt, als ihre wechselseitige Liebe sie glücklich machte.
„Gedenke der Schlange in Ehren“, sagte der Mann mit der Lampe, „du bist ihr das Leben, deine Völker sind ihr die Brücke schuldig, wodurch diese nachbarlichen Ufer erst zu Ländern belebt und verbunden werden. Jene schwimmenden und leuchtenden Edelsteine, die Reste ihrer aufgeopferten Körpers, sind die Grundpfeiler dieser herrlichen Brücke, auf ihnen hat sie sich selbst erbaut und wird sich selbst erhalten.“
Man wollte eben die Aufklärung dieses wunderbaren Geheimnisses von ihm verlangen, als vier schöne Mädchen zu der Pforte des Tempels hereintraten. An der Harfe, dem Sonnenschirm und dem Felsstuhl erkannte man sogleich die Begleiterinnen Liliens, aber die vierte, schöner als die drei, war eine Unbekannte, die scherzend schwesterlich mit ihnen durch den Tempel eilte und die silbernen Stufen hinanstieg.
„Wirst du mir künftig mehr glauben, liebes Weib?“ sagte der Mann mit der Lampe zu der Schönen. „Wohl dir und jedem Geschöpfe, das sich diesen Morgen im Fluse badet!“
Die verjüngte und verschönerte Alte, von deren Bildung keine Spur mehr übrig war, umfasste mit belebten jugendlichen Armen den Mann mit der Lampe, der ihre Liebkosungen mit Freundlichkeit aufnahm. „Wenn ich dir zu alt bin“, sagte er lächelnd, „so darfst du heute einen anderen Gatten wählen. Von heute an ist keine Ehe gültig, die nicht aufs neue geschlossen wird.“
„Weißt du denn nicht“, versetzte sie, „dass du auch jünger geworden bist?“ – „Es freut mich, wenn ich in deinen jungen Augen als ein wackrer Jüngling erscheine. Ich nehme deine Hand von neuem an, und mag gern mit dir in das folgende Jahrtausend hinüberleben.“
Die Königin bewillkommnte ihre neue Freundin und stieg mit ihren und den übrigen Gespielinnen in den Altar hinab, indes der König in der Mitte der beiden Männer nach der Brücke hinsah und aufmerksam das Gewimmel des Volks betrachtete.
Aber nicht lange dauerte seine Zufriedenheit, denn er sah einen Gegenstand, der ihm einen Augenblick Verdruss erregte. Der große Riese, der sich von seinem Morgenschlaf noch nicht erholt zu haben schien, taumelte über die Brücke her und verursachte daselbst große Unordnung. Er war, wie gewöhnlich schlaftrunken aufgestanden und gedachte sich in der bekannten Bucht des Flusses zu baden. Anstatt derselben fand er festes Land und tappte auf dem breiten Pflaster der Brücke hin. Ob er nun gleich zwischen Menschen und Vieh auf das ungeschickteste hineintrat, so ward doch seine Gegenwart zwar von allen angestaunt, doch von niemand gefühlt. Als ihm aber die Sonne in die Augen schien, und er die Hände aufhub sie auszuwischen, fuhr der Schatten seiner ungeheuren Fäuste hinter ihm so kräftig und ungeschickt unter der Menge hin und wider, dass Menschen und Tiere in großen Massen zusammenstürzten, beschädigt wurden und Gefahr liefen in den Fluss geschleudert zu werden.
Der König, als er diese Untat erblickte, fuhr mit einer unwillkürlichen Bewegung nach dem Schwerte, doch besann er sich und blickte erst ruhig sein Zepter, dann die Lampe und das Ruder seiner Gefährten an. „Ich errate deine Gedanken“, sagte der Mann mit der Lampe, „aber wir und unsere Kräfte sind gegen die Ohnmächtigen ohnmächtig.“ „Sei ruhig! Er schadet zum letzten Mal, und glücklicherweise ist sein Schatten von uns abgekehrt.“
Indessen war der Riese immer näher gekommen, hatte vor Verwunderung über das, was er mit offenen Augen sah, die Hände sinken lassen, tat keinem Schaden mehr, und trat gaffend in den Vorhof herein.
Gerade ging er auf die Türe des Tempels zu, als auf einmal in der Mitte des Hofes auf dem Boden festgehalten wurde. Er stand als eine kolossale mächtige Bildsäule, von rötlich glänzendem Steine, da, und sein Schatten zeigte die Stunden, die in einem Kreis auf dem Boden um ihn her, nicht in Zahlen, sondern in edlen und bedeutenden Bildern, eingelegt waren.
Nicht wenig erfreut war der König, den Schatten des Ungeheuers in nützlicher Richtung zu sehen. Nicht wenig verwundert war die Königin, die als sie mit größer Herrlichkeit geschmückt aus dem Altare, mit ihren Jungfrauen, heraufstieg, das seltsame Bild erblickte, das die Aussicht aus dem Tempel nach der Brücke fast zudeckte.
Indessen hatte sich das Volk dem Riesen nachgedrängt, da er stillstand, ihn umgeben und seine Verwandlung angestaunt. Von da wandte sich die Menge nach dem Tempel, den sie erst jetzt gewahr zu werden schien und drängte nach der Tür.
In diesem Augenblicke schwebte der Habicht mit dem Spiegel hoch über dem Dom, fing das Licht der Sonne auf und warf es über die auf dem Altar stehende Gruppe. Der König, die Königin und ihre Begleiter erschienen in dem dämmernden Gewölbe des Tempels, von einem himmlischen Glanze erleuchtet, und das Volk fiel auf sein Angesicht. Als die Menge sich wieder erholt hatte und aufstand, war der König mit den Seinigen in den Altar hinabgestiegen, um durch verborgene Hallen nach seinem Palaste zu gehen, und das Volk zerstreute sich in dem Tempel, seine Neugierde zu befriedigen. Es betrachtete die drei aufrecht stehenden Könige mit Staunen und Ehrfurcht, aber es ward desto begieriger zu wissen, was unter dem Teppiche in der vierten Nische für ein Klumpen verborgen sein möchte; denn, wer es auch mochte gewesen sein, wohlmeinende Bescheidenheit hatte eine prächtige Decke über den zusammengesunkenen König hingebreitet, die kein Auge zu durchdringen vermag und keine Hand wagen darf wegzuheben.
Das Volk hätte kein Ende seines Schauens und seiner Bewunderung gefunden, und die zudringende Menge hätte sich in dem Tempel selbst erdrückt, wäre nicht ihre Aufmerksamkeit nicht wieder auf den großen Platz gelenkt worden.
Unvermutet fielen Goldstücke, wie aus der Luft, klingend auf die marmornen Platten, die nächsten Wanderer stürzten darüber her, um sich ihrer zu bemächtigen, einzeln wiederholte sich dies Wunder, und zwar bald hier und bald da. Man begreift wohl, dass die abziehenden Irrlichter sich hier nochmals eine Lust machten und das Gold aus den Gliedern des zusammengesunkenen Königs auf eine lustige Weise vergeudeten. Begierig lief das Volk noch eine Zeitlang hin und wider, drängte und zerriss sich, auch noch da keine Goldstücke mehr herabfielen. Endlich verlief es sich allmählich, zog seine Straße, und bis auf den heutigen Tag wimmelt die Brücke von Wanderern, und der Tempel ist der besuchteste auf der ganzen Erde.

Quelle:
(Johann Wolfgang von Goehte)

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