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Das Wolkenlamm

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Looma merkte, dass die Zeit der Geburt nahte. Sie suchte sich einen versteckten Platz hinter einigen Büschen ganz am Rand der Weide. Hier würde der Bauer sie während seines Rundganges hoffentlich nicht finden.
Looma war etwas genierlich und hatte nicht gerne einen Menschenmann dabei. Sie hatte schließlich schon so viele Töchter und Söhne zur Welt gebracht, dass sie genau wusste, was zu tun war.
Es gab auch eine Menschenfrau auf dem Hof. Die hätte Looma gern bei sich gehabt. Aber sie kam nie zum Lammen, denn ihre Aufgaben waren Gartenarbeit, Kochen und Melken. Warum konnten Siegward, der Bauer, und Margret, die Bäuerin, nicht einfach tauschen? Wussten sie nicht, dass eine Geburt Frauensache war?

Looma drehte sich ein paarmal im Kreis, bevor sie sich niederließ, um sich ganz auf das Lammen zu konzentrieren. Deshalb sah sie Siegward nicht, der über die Weide kam und sie entdeckte. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass es keinen Grund zur Sorge gab, lächelte er zufrieden und ließ sie in Ruhe. Er kannte seine Looma, die in diesem Augenblick am liebsten allein gelassen werden wollte.

Kurze Zeit später war Jonka geboren. Looma leckte sie liebevoll, um sie auf der Welt willkommen zu heißen. Dann wandte sie sich wieder den Vorgängen in ihrem Körper zu. Ein zweites Lämmchen schlüpfte aus ihrem Leib. Looma sah erschrocken auf Nujan, ihren gerade geborenen Sohn. Wie winzig er war! Viel zu klein zum Leben! Aber Looma war entschlossen, ihm zu helfen. Sanft, aber unmissverständlich, schob sie Jonka, die nach ihrer Zitze suchte, zur Seite. „Später! Erst ist dein Brüderchen dran! Es braucht dringender Stärkung als du!“ Sie beugte sich zu Nujan hinunter und versuchte, ihn zum Trinken zu bewegen. Er nuckelte kurz, gab dann aber erschöpft auf. „Wir versuchen es nachher noch einmal. Ruh dich ein wenig aus“, sagte Looma. Sie war selbst müde von den Anstrengungen der Geburt, musste sich aber zuerst um ihren Nachwuchs kümmern. Nach drei weiteren Versuchen, Nujan etwas Milch einzuflößen, blökte sie nach Aggja, die sofort gelaufen kam. Ihre älteste Tochter, die in den nächsten Tagen auch lammen sollte, sah Jonka an, die bereits aufgestanden war und ungestüm bei der Mutter saugte.
„Nur eins?“, fragte sie erstaunt. Looma rückte ein wenig zur Seite, um den Blick auf Nujan freizugeben.
„Ach du gelbes Gras!“, rief Aggja, „So ein Winzling! Den wird der Menschenmann dir wegnehmen und wir sehen deinen Sohn nie wieder!“
Looma nickte. „Ich weiß“, seufzte sie, „und deshalb brauche ich deine Hilfe. Deine und die der anderen Schafe!“
Sie weihte ihre Tochter in ihren Plan ein und diese machte sich sofort daran, den übrigen Mutterschafen Anweisungen zu geben.

Von nun an stand immer eines der Schafe in der Nähe des Gatters, um beim Auftauchen des Bauern eine Warnung zu blöken. Sofort trabten dann alle Schafe und Lämmer in die Ecke, die am weitesten von Nujans Platz entfernt lag. So kam Siegward nicht auf die Idee, dort hinzugehen. Auch Looma und Jonka gesellten sich zu ihren Artgenossinnen, während immer im Wechsel ein anderes Schaf bei dem kleinen Lamm blieb.

„Na, Looma, hast du es mal wieder allein geschafft?“, fragte der Bauer und kraulte ihr dickes Fell. „Nur eins dieses Mal?“
Das Mutterschaf sah zu Boden, da es befürchtete, Siegward könnte ihm den Schwindel an den Augen ablesen.
„Das ist aber ein besonderes Prachtexemplar“, lobte der Mann und hob Jonka auf, die heftig zappelte. „Na, du Racker, du hast ja schon ganz schön Kraft! Gleich darfst du wieder herumtollen, aber erst muss ich dir noch so einen Ohrring verpassen, wie deine Mama einen hat!“
Jonka blökte laut auf, als sie den kurzen Schmerz in ihrem Ohr verspürte. Wieder freigelassen, machte sie drei Bocksprünge, bevor sie sich unter dem Bauch ihrer Mutter verkroch. Auf den Schrecken brauchte sie erst mal ein wenig Milch!

Mehrere Tage vergingen. Looma fütterte ihr Sorgenkind mit vielen kleinen Portionen. Doch Nujan wollte noch immer nicht aufstehen, so sehr sie und die anderen Mutterschafe ihn auch ermunterten. Er lag meist mit geschlossenen Augen im Gras, blökte kaum vernehmlich und schien keine Fortschritte zu machen.

Doch eines Tages öffnete er die Augen, weil er eine Stimme vernommen hatte, die er noch nicht kannte. Sie schien von weit her zu kommen. Nujan sah nach links und rechts, blickte aber nur in bekannte Gesichter. Dann aber drehte er den Kopf ein wenig nach oben und sah etwas Erstaunliches: Am Himmel tummelte sich eine ganze Schafherde! Dicke und dünne Schafe, kleine und große und dazwischen viele Lämmer. Das allerkleinste Lamm zwinkerte ihm zu! Nujan wollte seinen Augen kaum trauen. Da vernahm er wieder die Stimme ganz deutlich:
„Nujan, steh auf!“
Aufstehen? Nein, das konnte er nicht. Ganz unmöglich! Da, schon wieder:
„Nujan, steh auf! Ich helfe dir!“
Und schon machte das kleine Wolkenlamm einen Hopser und stand plötzlich auf der Erdenweide.
„Ich bin Wolli. Ich habe dich schon ein paar Tage beobachtet. Du musst aufstehen, sonst kannst du kein großes Schaf werden!“
Nujan schüttelte nur traurig den Kopf.
„Meine Beine sind zu schwach! Es geht nicht!“
Aber Wolli hatte schon seinen Kopf unter Nujans Bauch geschoben.
„Los“, rief er dumpf.
Nujan strengte sich an. Er versuchte, sich aufzurichten und stemmte seine kleinen Hufe in die Erde. Wolli drückte von unten, und siehe da, nach ein paar Minuten hatte Nujan es geschafft: Er stand! Dann aber zog Wolli seinen Kopf weg und Nujans dünne Beinchen knickten ein. Mit einem Plumps! lag er wieder im Gras.
„Das war schon gut für den Anfang!“, lobte Wolli, „Komm, wir versuchen es gleich noch einmal!“
Diesmal stand Nujan ein paar Sekunden ganz ohne Hilfe auf seinen wackeligen Beinchen.
„Ich kann es! Es geht!“, jubelte er.
„Genug für heute“, entschied Wolli. „Morgen komme ich wieder!“
Mit diesen Worten sprang das Wolkenlamm zurück auf seinen Platz am Himmel.

Von nun an übte Nujan mit Wollis Hilfe jeden Tag und konnte bald schon ein paar Schritte laufen. Die anderen Schafe wussten nichts von seinen Fortschritten, da er und sein neuer Freund sich immer heimlich trafen. An dem Tag aber, als er seinen ersten Bocksprung schaffte, ohne hinzufallen, rief er alle Schafe der Weide zusammen. Was für eine Überraschung das war! Looma schmiegte sich an ihren Sohn und liebkoste ihn.
„Du hast es geschafft! Du hast es geschafft!“, jubelte sie immer wieder.
Nujan sah zum Himmel hinauf und zwinkerte Wolli dankbar zu.

Am nächsten Tag kam Siegward auf die Weide und rieb sich erstaunt die Augen. Wo kam denn plötzlich Loomas zweites Lamm her? Es war zwar deutlich kleiner als Jonka, ja, es war das winzigste Lamm, das er je gesehen hatte, aber es schien ihm nichts zu fehlen.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Schafe sich in der letzten Zeit immer in jener Ecke der Weide aufgehalten hatten, die weit entfernt von dem Platz lag, den Looma sich für die Geburt ausgesucht hatte. Da ging ihm endlich ein Licht auf! Er tätschelte Looma lachend und sagte:
„Na, da habt ihr mich aber ganz schön an der Nase herumgeführt, ihr Gauner! Und ich weiß auch, was ihr mir damit zeigen wolltet. Von nun an werde ich allen schwachen und kleinen Lämmern eine Chance zum Leben geben, das verspreche ich. Ihr habt mir die Augen geöffnet!“

Weit oben am Himmel machte ein kleines Wolkenlamm ein paar übermütige Bocksprünge vor Freude.

Quelle: Abingdon

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