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Der alte Esel

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Es war einmal ein Müller. Ihm diente seit vielen Jahren treu ein Esel. Das Grautier buckelte das ganze Jahr hindurch Mehlsäcke in den Lagerraum, arbeitete im Frühjahr hart auf dem Feld oder zog in der Erntezeit den mit Getreide schwer beladenen Wagen zur Mühle. Nie beklagte es sich, sondern fügte sich geduldig in sein Schicksal.
Eines Tages sagte der Meister zu seinem Gesellen: „Wir brauchen einen neuen Esel. Unser altes Vieh kann sich ja kaum selber noch auf den Beinen halten. Wozu noch füttern? Wir werden ihn an einen Fleischer verkaufen, der kann Wurst aus ihm machen und ich bekomme sogar noch ein paar Dukaten.
Das hörte der Esel, denn er verstand die Menschensprache. An Schlaf war nicht zu denken. Traurig dachte über sein bisheriges, mühevolles Leben nach. „Bis jetzt habe ich alles für den Müller getan, sogar getragen habe ich ihn, wenn er nicht laufen wollte. Nach so vielen Jahren will er Wurst aus mir machen lassen. Das habe ich nicht verdient. Nein, ich will noch nicht sterben!“, schimpfte er vor sich hin stakste entschlossen zur Stalltür. Welch ein Glück, der Müller hatte wohl vor lauter Hunger vergessen, sie ordentlich zu verriegeln. Der Esel besann sich nicht lange, drehte sich um und versetzte der Tür einen ordentlicher Tritt mit dem rechten Hinterhuf. Tief durchatmend trat er in die kühle Nacht.

Drei Tage und Nächte trappelte das Grautier durchs Land, ohne sich umzuschauen. Die Hornschicht seiner Hufe war fast abgelaufen. Am dritten Tag wusste er, der böse Müller kann ihn nicht mehr finden. Daraufhin verlangsamte er sein Tempo und schaute sich die Welt an. Sie gefiel ihm außerordentlich gut und auf den Wiesen wuchs kräftiges, sattes Gras. Es schmeckte vorzüglich, ebenso die Blätter und erreichbaren Früchte der Bäume.
An einem Bach trank er frisches, klares Wasser, wohltuend für seine ausgedörrte Kehle. Als er so trank, sah er eine Forelle vorbeischwimmen und rief: „He, du da, wer bist du?“
„Ich bin eine Bachforelle“, bekam er zur Antwort.
„Wer ist dein Müller?“, fragte der alte Esel.
„Was soll ich mit einem Müller? Ich bin mein eigener Herr und frei. Kann schwimmen, wohin ich will.“ Platsch war die Forelle weg!
„Was ist frei?“, dachte der Esel, schüttelte den Kopf und ging nachdenklich weiter. Kurz darauf begegnete er einem Reh, stutzte und fragte: „Wer bist du denn?“
„Ich bin ein Reh!“
„Wer ist dein Müller?“, wollte der Esel wiederum wissen.
„Was soll ich mit einem Müller? Ich lebe glücklich und zufrieden in meiner Herde“, antwortete das Reh und schaute dem Esel belustigt in die Augen. „Du weißt wohl nicht, was eine Herde bedeutet, oder? Na, dann komm einfach mit“, bot es ihm an und der Esel zögerte keine Minute.

Drei Tage blieb er dort. Dann verabschiedete er sich dankbar: „Es war schön bei euch. Ihr müsst niemandem gehorchen. Doch jetzt muss ich weiter, denn ich will mir die Welt ansehen“, und ging Richtung Norden. Hier gab es Felder und Äcker, die er nur allzu gut kannte und ihn an sein unglückseliges Leben bei seinem Herrn erinnerte.
Am Feldrand hoppelte ein Hase entlang.
„Wer bist du?“, fragte der Esel den lustigen Kerl.
„Ich bin der Hase Langohr und hopple dahin, wohin ich will.“
„Wer ist dein Müller?“, wollte das Grautier wissen.
„Was soll ich mit einem Müller? Ich diene niemandem, bin frei und suche mir mein Fressen selber“, lachte der Hase, wackelte noch einmal kurz mit seinen langen Ohren und machte sich auf und davon.
Was ist frei, überlegte der alte Esel wieder einmal.
In den letzten Tagen hatte er so viel erlebt und wollte sich nun erst einmal richtig ausruhen. Total erschöpft legte er sich am Feldrand ins grüne Gras und schlief sehr schnell ein.
Die ganze Nacht und fast den halben Tag schnarchte er, als plötzlich eine Menschenstimme in seine Ohren drang. Noch schlaftrunken mühte sich der Esel ängstlich auf seine Hufe und glaubte, der böse Müller hätte ihn gefunden. Nur schnell weg, dachte er. Doch an einem Hinterbein war ein Strick geknotet und dieser an einen nahe stehenden Baum gebunden. In diesem Moment wusste er, was frei und was nicht frei war. Wütend begann er fürchterlich zu schreien, bis er erschöpft inne hielt und einen lustig angezogen Mann mit einem federgeschmückten Hütchen auf dem Kopf neben sich im Gras sitzen sah. Dieser war jedoch nur ein Vagabund, hatte nichts Böses im Sinn und als er den Esel erblickte, freute er sich, von nun an nicht mehr laufen zu müssen.
„Ia, warum hast du mich festgebunden?“, schrie der Esel böse.
Der Vagabund erschrak, weil der noch nie einem sprechenden Esel begegnet war. Als er sich wieder gefangen hatte, fragte er: „Seit wann können Esel reden? Oder bist du gar ein verwünschter Jüngling?“
Doch der Esel forderte: „Ia, lass mich wieder frei, binde sofort den Strick ab! Und was soll der Unsinn mit dem verwünschten Jüngling? Ich bin, was du siehst!“
„Ist ja schon gut. Wenn’s weiter nichts ist“, meinte der Vagabund, „das hab ich gleich gemacht. Aber laufe nicht weg, ich habe noch nie einen sprechenden Esel gesehen oder gehört und möchte mich mit dir unterhalten.“
Er band das Tier vom Baum, löste den Strick vom Bein und erzählte dabei: „Ich bin ein Vagabund, streife durch die Welt und genieße die Freiheit. Na ja, ich war schon mehrmals eingesperrt, meistens wegen Mundraub. Freiheit ist das höchste Gut auf der Erde. Doch auch diese kann man verspielen, wenn man sich nicht an Regeln und Gesetze hält. Aber wie steht es mit dir?“Nun erzählte der Esel seine Geschichte. Als er endete machte ihm der Vagabund einen Vorschlag: „Lass uns gemeinsam ziehen. Bestimmt kommen wir gut miteinander aus. Wir verdienen uns Geld auf den Märkten der Dörfer und Städte, indem wir den Leuten kleine Kunststücke zeigen. So brauchen wir nicht zu stehlen und leben auf ehrliche Weise. Du könntest auf Fragen mit Kopfnicken, Schwanzwedeln und Kopfschütteln antworten, denn es braucht niemand zu wissen, dass du ein sprechender Esel bist. Da hättest du deine Freiheit ganz sicher schnell wieder verwirkt. Ich singe zu meiner Laute Lieder. Vielleicht lernst du sogar, mit deinem Vorderfuß die Pauke zu schlagen und begleitest meine Musik. Was hältst du davon?“
Der Esel antwortete: „Ia! Ich bin einverstanden, aber bind mich nie wieder irgendwo an!“
„Natürlich mach ich so etwas nie wieder. Entschuldige bitte“, grinste der Vagabund.

So entstand eine tiefe Freundschaft zwischen dem alten Esel und dem Vagabunden. Sie gingen gemeinsam auf die Märkte der Städte und Dörfer, hatten großen Erfolg und wurden berühmt. Und wenn sie nicht gestorben sind, kann man sie noch heute in irgendeiner Stadt sehen und hören.

 
Quelle: Friedrich Buchmann

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