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Der blaue Diamant

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In den Bergen, weitab vom Dorf lebte Angelina mit ihrer gebrechlichen Mutter.
Das Mädchen besaß nur einige Ziegen und Hühner. Im Garten wuchsen ertragreiche Obstbäume. Mit Vergnügen bearbeitete Angelina ihre Blumen- und Gemüsebeete und sang dabei lustige Lieder. Die Vögel des Waldes hüpften in den Zweigen der Bäume auf und ab. Dabei beobachteten sie das fleißige und liebenswerte Wesen.

Nicht weit entfernt von der einfachen Hütte stürzte das Wasser von den hohen Felsen. Angelina hatte mit bloßen Händen ein Auffangbecken gegraben, Steine aufgeschichtet, um das Wasser zu sammeln. Über einen Abfluss gelangte das überschüssige Nass ins Tal und speiste den Bach.

Die Sonne brannte schon heiß vom Himmel, da schleppte sich Angelina zum Tümpel. Ihr Gesicht war Tränen überströmt und von Schmerz verzerrt. Mühsam versuchte das Mädchen den blutenden Arm im Wasser zu kühlen. Plötzlich rutschte Angelina aus und fiel mit einem Aufschrei hinein.
Angenehme Kühle umschmeichelte ihren Körper. Augenblicklich hörte die Wunde zu brennen auf. Erleichtert genoss Angelina für Minuten das angenehme Wasser. Flink sprang sie aus dem Tümpel und eilte heimwärts.
Dort angekommen, öffnete sie die Tür und rief ungestüm nach ihrer Mutter. Die alte gebrechliche Frau kam langsam näher und fragte: ,,Mein Kind, warum bist du nur so aufgeregt? Was ist geschehen? Komm beruhige dich doch!“
Atemlos erzählte Angelina von ihrem Unfall: ,,Mein Mütterlein. Ich kann es noch gar nicht fassen. Beim Holzhacken schwang ich ungeschickt das Beil und traf meinen Arm. Ach wie schmerzte mich die Wunde. Doch nun sieh! Ich tauchte meinen Arm in das Wasser und, oh Wunder, meine Haut ist glatt und heil. Komm mein Mütterlein! Ich will dich zu dieser Wasserstelle führen, vielleicht…!“

Fürsorglich und langsam geleitete das Mädchen seine Mutter zum Wasserbecken. Behutsam half Angelina ihrer Mutter hinein. Als die alte Frau vorsichtig ins kühle Nass glitt, fühlte sie angenehme, erquickende Frische. Einige Minuten verweilte sie im prickelnden Nass. Ohne die Hilfe ihrer Tochter kletterte sie wieder über den Wasserrand. Wohlig dehnte und streckte sich die alte Frau und fiel ihrer Tochter lachend um den Hals: „ Mein Kind, ich fühle mich so leicht und unbeschwert. Frei von Pein und Schmerzen, um Jahre jünger!“ Die beiden Frauen fielen auf die Knie und dankten für ihre Heilung.

In Windeseile verbreitete sich die Kunde von der sagenhaften Wasserstelle. Vorbei war es mit der Stille der Bergwelt. In Scharen strömten die Menschen mit ihren Gebrechen zu dem heilsamen Wasser.
Nur abends, wenn die Sonne unterging, scharten sich die Tiere um den Tümpel. Fuchs und Reh löschten ihren Durst. Überrascht spürte Angelina den Frieden und die Harmonie, die dieser Ort ausstrahlte.

Ein sagenhaft reicher Kaufmann mit seinen drei Söhnen wohnte im prächtigen Stadthaus.
Frederik, der Älteste der Söhne, war wegen seiner Grausamkeit gefürchtet. Tollkühn ritt er stets durch die Stadt. Alte, Kinder und Frauen flohen vor den todbringenden Hufen des Pferdes. Der stattliche junge Mann amüsierte sich köstlich über ihre Angst.

Hero war ein wunderschöner, junger Hengst. Durch einen unglücklichen Unfall verlor das Pferd sein Augenlicht. Auch zu Frederik drang die Kunde von der heilenden Wasserstelle. Zu Fuß schritt der stolze Kaufmannssohn und führte seinen blinden Hengst am Halfter mit sich.

Viele Menschen stellten sich beim Wasserbecken an, geduldig warteten diese, bis sie ins Wasser steigen konnten.
Frederik tobte, rücksichtslos drängte er sich nach vorne. Ungestüm stieß er die wartenden Menschen zur Seite. Sein kranker Hengst sträubte sich, doch der zornige Mann schob das zitternde Tier ins Wasser.

Blitzschnell zogen dunkle Gewitterwolken auf. Der Sturm peitschte die Bäume und Sträucher. Sand wirbelte durch die Luft. Blitze zuckten am Himmel.
Einer schlug in die mächtige Buche neben dem Wasserbecken ein. Ein lauter Donnerschlag ließ die Leute zu Boden stürzen.
Bewegungslos lag Frederik am Boden. Endlich richtete sich der einst so stolze Mann auf. Doch was war nur mit ihm geschehen? Graue Haare hingen Frederik wirr ins Gesicht, sein Blick war leer: Von dieser Stunde an war der Wüstling blind.
Die Menge tobte, schon wollten sich die Menschen auf Frederik stürzen. Angelina eilte ihm zu Hilfe und rief mit lauter Stimme: ,,Ich verstehe euren Zorn und auch die Wut. Lasst Frederik nun in Ruhe. Seine Strafe ist hart. Ihr aber geht in Frieden und schändet nicht den heilsamen Ort!“

Fürsorglich führte sie sogleich den verwirrten Mann in ihre Hütte.
Mit freundlicher Stimme lockte Angelina das verstörte Pferd. Endlich beruhigte sich das Tier und folgte dem Mädchen in den Stall. Mit Verwunderung blickte Angelina in die wachen Augen des Tieres. Hero war nicht länger blind.

Angelina eilte zum Wasserbecken. Vielleicht konnte sie den Fluch von Frederik wenden und ihn mit dem Wasser heilen. Doch nicht ein Tropfen war in dem Becken, das Wasser war versiegt. Heftiger Schmerz durchzuckte das junge Mädchen. Was wurde nun aus Frederik und all den anderen? Angelinas Gedanken eilten zu den Fischen im Bach, an die Mühle, die nun kein Korn für die Bauern mahlen konnte. Womit sollten die Menschen und Tiere ihren Durst stillen? Welche Mühsal erwartete die Frauen beim Wäsche waschen? Die nächste Wasserstelle lag weit entfernt. Der Wasserfall war versiegt und würde den Bach nicht mehr mit Wasser speisen. Voller Verzweiflung sank Angelina ins Gras und begann bitterlich zu weinen.

Da vernahm sie eine leise Stimme: „Nur die Wasserfee kann dir helfen. Doch der Weg ist weit und gefährlich, sehr gefährlich!“
Als Angelina aufblickte, sah sie einen kleinen Kobold, der sich in den Zweigen der Föhre schaukelte. Er hielt eine Flöte in seinen Händen.
Jetzt lächelte er und gab sie dem jungen Mädchen: „ Nimm diese Flöte und spiele darauf, wenn du in Gefahr bist. Sie wird dir helfen!
Reite eilends zum roten Felsen. Den Wald und die Wüste davor musst du durchqueren. Dann wirst du die Wasserfee finden. Doch gib Acht“, eindringlich und ernst sah sie jetzt der Kobold an, ,,dort in der Wüste musst du mit der Flöte den roten Berg berühren. Lass dich nicht ablenken! Hero, der junge Hengst, wird dich führen. Beeile dich!“

Angelina stürzte nach Hause. Eilends packte sie Wasser und Brot. Flink schnürte sie das Bündel. Ihrer Freundin Julia anvertraute sie die Mutter, Frederik und ihre Tiere. Schon sattelte Angelina das Pferd und ritt im scharfen Galopp fort.

Bald erreichten sie den dichten, dunklen Wald. Bedrohlich wirkten plötzlich die mächtigen Baumriesen. Es war, als würden sie sich bewegen, zusammenrücken. So, als ob sie den Weg versperren wollten. Hero tänzelte und begann angstvoll zu schnauben. Der Boden war mit kleinen Steinen übersät. Dunstwolken versperrten plötzlich die Sicht. Ächzend taten sich Spalten auf. Das Pferd begann zu tänzeln und schnaubte voll Angst. Donner grollte und ein spitzer, hoher Fels wuchs aus dem Waldboden. Eine riesige, rot gezackte Schlange schlängelte sich hervor und sperrte den Rachen auf.
Hero war kaum noch zu beruhigen. Angstvoll stieg er in die Höhe und schlug mit den Hufen aus. Angelina blies blitzschnell in die Flöte. Sogleich wirbelte ein heftiger Windstoß Pferd und Reiter hoch in die Luft. Durch Zauberhand schwebten sie über den unheilvollen Wald. Sanft landeten sie im weichen, weißen Sand. Gerettet, doch…
heiß brannte nun die Sonne vom Himmel. Kein Baum oder Strauch, der Schatten spendete. Nur riesige Felsbrocken lagen in der Wüste. Elende Aasgeier saßen darauf und starrten sie mit blutroten Augen an.
Die Stille durchbrach plötzlich ein Schrei, dann, wie aus tausend Kehlen, pflanzte sich der unheilvolle Ton fort. Es war die Stimme des Krieges, getränkt mit Hass, Wut, Zorn und Gier.

Angelina packte das Grauen, ihr Herz raste und das Blut rauschte dröhnend in den Ohren. Ihr ganzer Körper bebte vor Angst. Hero schäumte, biss und schlug aus. Selbst das Pferd zitterte wie Espenlaub. Das Mädchen sprang aus dem Sattel und legte schützend die Arme um das verängstigte Tier, sprach beruhigend und führte es. Schon war der rote Felsen zu sehen. Dorthin mussten sie beide. Schritt für Schritt kämpften sich das Mädchen und das zitternde Tier durch den heißen Sand. Meter für Meter wurden zur Qual, die Sekunden zu nicht endenden Stunden. Jeder einzelne Muskel schmerzte, der Mund ausgedörrt. Mit übermenschlicher Kraft erreichten Angelina und Hero den roten, hohen Felsen. Das Mädchen hob den Arm und berührte mit der Flöte den magischen Stein.
Eine Wolke verdeckte blitzschnell die Sonne und unheimliche Stille machte sich breit.

Da, ein dünner Wasserstrahl sprudelte aus dem heißen Sand. Immer stärker bahnte er sich den Weg durch die Wüste. Schon sprossen Gras und Blumen hervor.
Gleich einem grünen Teppich breitete sich dieser aus. Angelina lag am Boden und kühlte ihr Gesicht mit erfrischendem Wasser. Hero war zusammengebrochen. Das Mädchen zog sein Kleid aus, tränkte es im Wasser und wusch damit den Pferdekopf. Dann tropfte Angelina das Nass auf sein ausgetrocknetes Maul. Jetzt kam Hero schwankend auf die Beine und begann vorsichtig zu saufen.
Über dem roten Felsen toste und brauste ein Wasserfall, betörende Musik erklang. Inmitten des Wasserschleiers stand eine junge Frau mit langen, blonden Haaren.
Auf ihrer Stirn funkelte ein blauer Diamant. Angelina fiel auf die Knie und begrüßte die Fee. Diese begann mit singender Stimme zu sprechen: „ Weit bist du geritten und alle Gefahren hast du lobenswert gemeistert. Ich weiß, worum du mich bitten willst. Dein Wunsch ist dir bereits erfüllt!“
Sogleich löste sie einen Stein aus dem blauen Diamanten und überreichte diesen Angelina. „Mit diesem Edelstein berührst du das ausgetrocknete Wasserbecken und du wirst sehen, was geschieht!“

Voll Dankbarkeit überreichte Angelina der schönen Fee ihre Flöte. Doch diese wehrte ab und sagte: „ Behalte sie und erfreue die Menschen mit deiner Musik. Frederik darfst du damit retten. Leb wohl, Angelina!“
„Tausend Dank, liebe Fee“, rief Angelina. Schon schwang sie sich auf ihr Pferd und jagte heimwärts.

Vor dem ausgetrockneten Wasserbecken warteten viele Menschen. Angelina erschrak zutiefst, als sie die Menge sah. Julia stand inmitten der Leute und stützte Frederik. Wie schauderhaft hatte sich der Jüngling verändert. Bleich das Angesicht, weiß die Haare, zitternd die gebrechliche Gestalt. Der Blick der Augen dumpf und leer. Kaum Leben regte sich in dem einstmals so herrischen Mann.

Angelina bahnte sich einen Weg durch die Menge. Andächtig kniete sie nieder und legte den blauen Diamanten in das trockene Becken. Dann zog sie die Flöte aus ihrer Tasche und begann zu spielen. Die Melodie erzählte von ihrem Abenteuer. Vom Wald mit seinen Gefahren, der heißen, todbringenden Wüste, dem Schrecken und Schmerz der kriegslüsternen Schreie. Wild und schrill klang die Musik und dann wieder leicht und verzaubernd.
Die Menschen lauschten andächtig und viele von ihnen weinten bitterlich.

Da erfüllte Tosen und Brausen die Luft. Wasser stürzte von den hohen Felsen und ein feiner Wasserschleier legte sich über die Menschen. Zugleich erschien die Wasserfee und sprach mit singender Stimme: „Angelina, ich verspreche dir, dass dieser Wasserfall nie mehr versiegen wird. Die Kraft des Wassers wird euch helfen. Achtet und ehrt dieses Geschenk. Nun führe Frederik in das heilende Nass! Leb wohl“, dann verschwand die Erscheinung.

Jetzt war es wieder still. Sanftes, leises Plätschern und Gurgeln ertönte. Unaufhörlich strömte das Wasser über den Felsen und füllte das Becken. Angelina tat, wie ihr die Fee befohlen hatte. Mit des Mädchens Hilfe gelangte der gebrochene Mann ins Wasser. Schnell tauchte er unter und verweilte dort. Die Menschen drängten neugierig näher: Was würde nun geschehen? Als Frederik endlich wieder auftauchte, sprang er jubelnd über die aufgeschichteten Steine. Jung und stattlich von Gestalt stand er vor der gaffenden Menge.
Schluchzend stürzte der Mann auf die Knie, dann hob er die Hände und schrie mit lauter Stimme: „Dem Himmel sei Dank, ich kann wieder sehen. Angelina, verzeih! Holdes Mädchen, wie kann ich dir nur danken? Jetzt erst erkenne ich, wie grausam ich zu meinem Mitmenschen war. Wie kann ich nur vergangenes Unrecht sühnen? Bitte sage es mir“, so flehte der Jüngling.

Angelina nahm seine Hand und antwortete: „Lasst es gut sein. Ich spüre, dass Ihr euch ändern wollt. Eurer Herz ist nun frei von Hochmut und Zorn.“
Frederik blickte das Mädchen voller Liebe und Hochachtung an und bat mit erstickter Stimme: „Liebste Angelina, werde meine Frau. Nur an deiner Seite wird mein Leben voll Glück und Frohsinn sein.“

Schon bald wurde Hochzeit gefeiert. Zum herrlichen Fest wurden auch der Vater und die Brüder geladen. Diese staunten über das schöne, junge Paar. All zu groß war ihre Überraschung als sie die Verwandlung vom Unhold zum freundlichen und mitfühlenden Mann spürten.
Die junge Braut hatte den blauen Diamanten in ihr Haar gesteckt. Immer wieder hörte Angelina das Rauschen des Wassers und die singende Stimme der Wasserfee und spürte ihre Gegenwart.

Das junge Paar lebte glücklich und zufrieden. Frederik hielt sein Versprechen, durch seine feine und rücksichtsvolle Art eroberte er nicht nur das Herz seiner Frau – auch die Bewohner des Landes liebten und schätzten ihn.

Der Wasserfall speiste munter das Wasserbecken mit kühlendem Nass und brachte den von Schmerzen geplagten Menschen immerdar Heil und Gesundheit.

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