Da lebten einst ein altes Bettlerweib und ein kleiner Junge und wenn sie ihre Taschen in der Stadt gefüllt hatten, gingen sie über die Berge nach Hause. Als sie den Berg etwa zur Hälfte erklommen hatten, kamen sie an eine Kreuzung und dort lag ein blauer Gürtel. Der Junge wollte den Gürtel aufheben, aber seine Mutter sagte: „Nein! Er könnte verhext sein.“ Und so zog sie ihn hinter sich her.
Aber als sie ein Stück weiter waren, sagte der Junge, er müsse mal einen Moment in den Wald. Seine Mutter setzte sich inzwischen auf einen Baumstumpf und wartete. Doch der Junge ging soweit in den Wald hinein, bis ihn die alte Frau nicht mehr sehen konnte und dann rannte er zurück zu der Stelle, wo der Gürtel lag, nahm ihn, schnallte ihn sich um seinen Leib und plötzlich fühlte er sich so stark, dass er einen ganzen Berg anheben konnte.
Als er zurückkam, war die alte Frau sehr verärgert und sie wollte wissen, wo er so lange gewesen sei. „Du hast die ganze Zeit getrödelt, obwohl du weißt, dass die Nacht heranbricht. Und wir müssen noch den Berg überqueren, bevor es dunkel wird!“, sagte sie. So gingen sie weiter, aber als sie den Weg zur Hälfte geschafft hatten, wurde die alte Frau müde und sie musste sich unter einem Baum ausruhen.
„Liebe Mutter“, sagte der Junge, „darf ich auf die Felsspitze klettern, um zu sehen, ob es hier eine Hütte gibt, in der wir übernachten können?“ Sie erlaubte es ihm. Als er die Felsspitze erreichte, sah er im Norden ein Licht schimmern. Schnell rannte er zurück und erzählte es seiner Mutter. „Wir müssen weitergehen, Mutter! In der Nähe ist eine Hütte, ich habe ein Licht im Norden gesehen.“
So stand sie auf, schulterte ihre Tasche und sie gingen los. Sie waren nicht weit gekommen, als ihnen der Weg durch eine große Felsklippe versperrt wurde. „Das habe ich mir gedacht“, sagte die alte Frau, „jetzt können wir keinen Schritt weitergehen. Ein schönes Bett haben wir hier!“ Der Junge klemmte sich die Tasche unter den einen Arm und seine Mutter unter den anderen und rannte so über die steile Klippe. „Sieh doch“, sagte er, „dort ist eine Hütte. Siehst du nicht das helle Licht?“
Die alte Frau antwortete: „Das sind keine Christen, sondern Trolle.“ Sie kannte nämlich alle Ecken und Winkel im Wald und sie wusste, dass nur auf der anderen Seite des Bergkamms Menschen wohnten. Aber sie ging weiter und nach einer Weile kamen sie an ein großes, rot angestrichenes Haus.
„Wir sollten nicht wagen hineinzugehen, es könnten Trolle dort leben“, sagte die alte Frau. Aber der Junge antwortete: „Wir müssen hineingehen. Wo das Licht so scheint, müssen auch Menschen leben!“ So ging er hinein und seine Mutter folgte ihm. Aber als er gerade die Tür ein Stück geöffnet hatte, fiel sie in Ohnmacht, denn sie sah einen mindestens sechs Meter großen, kräftigen Mann im Haus auf einer Bank sitzen.
„Guten Abend, Großvater!“, sagte der Junge. „Seit dreihundert Jahren sitze ich hier“, sagte der Mann auf der Bank, „aber niemals ist jemand hereingekommen und hat mich Großvater genannt“. Der Junge setzte sich zu dem Mann auf die Bank und sprach mit ihm als wären sie alte Bekannte.
„Aber was ist denn mit deiner Mutter passiert?“, fragte der Mann, nachdem sie sich eine Weile unterhalten hatten. „Ich glaube sie ist in Ohnmacht gefallen, du solltest dich um sie kümmern.“ Der Junge trug die alte Frau an den Kamin. Das brachte sie wieder zu sich und sie trat und kratzte und warf sich herum, aber schließlich setzte sie sich auf einen Stapel Feuerholz in der Ecke, doch sie war so verängstigt, dass sie kaum wagte, jemandem in die Augen zu sehen.
Später fragte der Junge, ob er mit seiner Mutter die Nacht in dem Haus verbringen kann. „Aber sicher“, antwortete der Mann. Sie unterhielten sich weiter und mit der Zeit wurde der Junge hungrig; er fragte, ob er auch etwas zu essen bekommen könne. „Freilich“, sagte der Mann, „zu essen gibt es genug“, und er stand auf und warf drei große Fichtenscheite auf das Feuer. Das erfüllte die alte Frau mit noch mehr Furcht. „Er wird uns bei lebendigem Leibe braten“, sagte sie. Aber als das Feuer zu glühenden Resten heruntergebrannt war, stand der Mann auf und verließ das Haus.
„Der Himmel helfe uns! Du bist so einfältig“, sagte die alte Frau, „siehst du denn nicht, dass wir hier bei den Trollen sind?“ Doch der Junge wollte davon nichts wissen. „Unsinn“, sagte er, „wir haben nichts zu befürchten“.
Da kam der Mann wieder herein. Er hatte einen Ochsen bei sich, der so groß und fett war, wie der Junge noch nie einen gesehen hatte. Der Mann versetzte dem Ochsen einen Faustschlag unter das Ohr, worauf der Ochse auf der Stelle tot umfiel. Er fasste den Ochsen an allen vier Beinen und legte ihn auf die glühenden Holzscheite und drehte und wendete ihn bis er gar war und legte den Ochsen auf ein riesiges silbernes Tablett. Er holte ein Fass Wein aus dem Keller, schlug den Deckel heraus und stellte es auf den Tisch. Dann legte er noch ein paar zwei Meter lange Messer dazu.
Der Mann bat die Frau und den Jungen zu Tisch, aber die Frau wimmerte und klagte, da sie mit solch riesigen Messern nichts anfangen konnte. Der Junge packte eins der Messer und schnitt für seine Mutter ein paar Stücke von der Ochsenkeule ab. Nachdem sie gegessen hatten, nahm er das Fass mit beiden Händen und hob es bis an die Zimmerdecke. Er bat seine Mutter zu trinken, doch das Fass war so hoch, dass die es unmöglich erreichen konnte. Also hob er seine Mutter an den Rand des Fasses. Als sie ihren Durst gestillt hatten, dankten sie dem Mann für das großartige Essen.
Nach dem Essen unterhielten sie sich wieder, doch der Mann wurde schnell wieder hungrig. Er verschlang den ganzen Ochsen mit Hufen und Hörnern und presste den letzten Tropfen Wein aus dem Fass.
„Ich habe nicht für jeden ein Bett“, sagte der Mann, „ich habe nur ein Bett und eine Wiege. Du könntest in der Wiege schlafen und deine Mutter in dem Bett da drüben. Ich selbst bin nicht müde.“
„Das ist eine gute Idee“, sagte der Junge und zog seine Kleidung aus und legte sich in die Wiege; aber um die Wahrheit zu sagen, die Wiege war so groß wie vier normale Betten. Die alte Frau folgte dem Mann, der sie zum Bett führte, doch sie war immer noch außer sich vor Furcht.
„Ich bin überhaupt nicht müde“, sagte der Junge zu sich selbst. „Ich werde wach bleiben und den Geräuschen der Nacht lauschen.“
Nach einer geraumen Weile begann der Mann mit der alten Frau zu tuscheln und schließlich sagte er zu ihr: „Wir könnten hier glücklich zusammen leben, wenn nur dein Sohn nicht hier wäre.“ „Aber hast du daran gedacht, wie du das bewerkstelligen willst?“, fragte die Frau. „Ganz einfach“, antwortete der Mann. Er würde einfach sagen, dass die Frau ein oder zwei Tage bei ihm bleiben solle, dann würde er den Jungen mit in den Steinbruch am Berg nehmen und würde einen großen Felsbrocken auf ihn rollen. Wie sie so sprachen, lag der Junge still und hörte jedes einzelne Wort.
Am nächsten Tag fragte der Troll (es war ein Troll, das war jetzt sonnenklar) die Frau, ob sie ein paar Tage bei ihm bleiben wolle, um ihm das Haus zu führen. Die Frau willigte ein und blieb. Später holte er eine riesige eiserne Brechstange und fragte den Jungen, ob er mit ihm zum Berg kommen wolle, um Steine zu brechen. Der Junge war gespannt, wie der Troll es anstellen würde im Steinbruch und so ging er mit. Nachdem sie im Steinbruch angekommen waren und eine zeitlang Steine gespalten hatten, bat der Troll den Jungen, nach unten zu gehen und nach Rissen im Felsen zu suchen. Während der Junge nach unten lief, arbeitete der Troll mit der Brechstange weiter und löste die ganze Felsspitze vom Berg ab und ließ sie nach unten rollen. Der Junge aber fing den Felsen auf, sprang zur Seite und ließ den Brocken nach unten rollen.
„Oh“, sagte der Junge zu dem Troll, „jetzt sehe ich, was du vorhast.“Du willst mich erschlagen! Geh du jetzt nach unten, um nach Rissen und Spalten zu suchen und ich werde oben weiterarbeiten.“ Der Troll wagte nicht zu widersprechen und nun ließ der Junge einen großen Felsklumpen auf den Troll fallen, der ihm ein Bein brach.
„So, nun bist du in einer schlimmen Lage“, sagte der Junge, als er den Berg hinunter gerannt war, und er befreite den Troll von dem Felsbrocken. Dann nahm er den Troll huckepack und trug ihn nach Hause und er lief so schnell wie ein Pferd und schüttelte ihn durch, so dass der Troll brüllte und schrie, denn ihm kam es vor als ob ein Messer in ihn fährt. Als sie zu Hause ankamen, legten sie den Troll auf das Bett. Da lag er nun, der geschlagene Hüne!
Die Nacht brach an und der Troll flüsterte wieder mit der Frau und fragte sie, wie sie den Jungen loswerden könnten. „Lass du dir nur einen Plan einfallen“, sagte die Frau. Der Troll antwortete: „Ich habe zwölf Löwen im Garten. Wenn sich der Junge ihnen nur nähern würde, dann reißen sie ihn in Stücke.“
„Das ist einfach“, sagte die alte Frau. Sie würde sich krank stellen und sagen, dass sie sich schlecht fühle, und nichts würde ihr helfen außer Löwenmilch. All das hörte der Junge und als er am Morgen aufstand, sagte seine Mutter, ihr ginge es sehr schlecht und sie glaube, sie werde nie wieder gesund, wenn sie keine Löwenmilch bekäme.
„Es tut mir so leid, dass du krank bist“, antwortete der Junge, „aber ich weiß nicht, wo ich welche herbekommen soll“. „Wenn das alles ist“, sagte der Troll, „wir haben genug Löwenmilch, wenn nur jemand mutig genug ist, die Löwen zu melken“. Und er erzählte, dass sein Bruder einen Garten mit zwölf Löwen hat und dass der Junge den Schlüssel zum Garten haben könne, wenn er einen Trick kennt, wie man die Löwen melken könnte. Der Junge nahm den Schlüssel und einen Melkeimer und machte sich auf den Weg.
Als er das Gartentor aufschloss und in den Garten trat, da standen alle zwölf Löwen auf ihren Hinterpfoten und brüllten ihn wütend an. Der Junge aber packte den größten Löwen an den Vorderpfoten und schmetterte ihn gegen Steine und Knüppel bis nichts mehr von dem Löwen übrig war als die beiden Pfoten. Als die anderen das sahen, verkrochen sie sich vor Furcht und legten sich auf ihre Pfoten, wie kleine Hunde es tun. Fortan folgten ihm die Löwen überallhin, und als er nach Hause ging, trotteten sie ihm nach und legten ihre Vorderpfoten auf die Türschwelle.
„Jetzt wirst du wieder gesund, Mutter“, sagte der Junge beim Eintreten, „ich habe dir Löwenmilch mitgebracht. Und er zeigte ihr den randvollen Melkeimer. Aber der Troll lag im Bett und schwor, dass das eine Lüge ist; er war sicher, dass der Junge nicht derjenige ist, der Löwen melken konnte.
Da öffnete der Junge die Tür und die Löwen sprangen den Troll an und der Junge hatte Mühe, dass sie von ihm abließen.
In der Nacht sprach der Troll wieder mit der alten Frau: „Ich habe keine Ahnung, wie wir den Jungen aus dem Weg schaffen können. Er ist so furchtbar stark! Hast du nicht eine Idee?“ „Nein“, sagte die alte Frau, „wenn du keine hast, dann habe ich auch keine“. „Ich habe zwei Brüder“, sagte der Troll. „Sie leben in einem Schloss und sie sind zwölf Mal so stark wie ich. Nahe am Schloss steht ein Apfelbaum, der trägt ganz besondere Früchte, denn wer die Äpfel isst, der schläft drei Tage und drei Nächte. Wenn wir den Jungen nach Äpfeln schicken würden, dann könnte er der Versuchung sicher nicht widerstehen und würde einen probieren. Und sobald er einschläft, würden ihn meine Brüder töten.“
Die alte Frau sagte, dass sie vorgeben würde, sie sei krank, und sie würde sagen, dass ihr nur diese Äpfel helfen könnten. Wieder hörte der Junge alles mit an.
Am Morgen war die alte Frau so krank, dass sie kein Wort herausbrachte außer Stöhnen und Seufzen. Sie schwor, dass sie sterben würde, wenn sie nicht ein paar von den Äpfeln bekommt, die in der Nähe des Schlosses wachsen, wo die Brüder des Trolls wohnen, doch sie hat niemanden, den sie dorthin schicken könne.
Der Junge ging sofort los und die elf Löwen folgten ihm. Als er am Schloss ankam, kletterte er auf den Apfelbaum und aß so viele Äpfel wie er konnte. Er war gerade wieder heruntergeklettert, da fiel er in einen tiefen Schlaf; aber die Löwen legten sich in einem Kreis um ihn. Am dritten Tag kamen die Brüder des Trolls, doch sie kamen nicht in Menschengestalt. Sie kamen als schnaufende, menschenfressende Pferde und fragten sich, wer es wagt, hierher zu kommen und sie wollten den Jungen in so kleine Stücke reißen, dass nichts mehr von ihm übrig bleibt. Da sprangen die Löwen auf und fetzten die Trolle in tausend Stücke, so dass der Ort aussah, als läge dort ein riesiger Haufen Unrat.
Der Junge wachte erst am Nachmittag wieder auf und als er sich den Schlaf aus den Augen rieb und die Hufspuren im Sand sah, da fragte er sich, was wohl passiert sein mochte. Er ging zum Schloss und ein Mädchen, das am Fenster stand und alles mit angesehen hatte, sagte zu ihm: „Du kannst deinen Sternen danken, dass du nicht in den Kampf verwickelt wurdest, sonst hättest du dein Leben verloren!“ „Mein Leben verlieren? Da besteht keine Gefahr“, gab der Junge zurück.
Sie bat ihn einzutreten und mit ihr zu sprechen, denn sie hatte keine Christenseele mehr erblickt seit sie hierher gebracht worden war. Doch als sie das Tor öffnete, wollten die Löwen auch hereinkommen und sie fürchtete sich so sehr, dass sie aufschrie. Da hieß der Junge die Löwen vor dem Tor warten.
Der Junge fragte sie, wie sie in die Gesellschaft solch böser Trolle geraten sei. Sie antwortete, das sei gegen ihren Willen geschehen. Sie sei die Tochter des Königs von Arabien und die beiden Trolle hätten sie mit Gewalt entführt. Sie fragte ihn, ob sie nach Arabien zurückgehen solle oder ob er sie zur Frau nehmen will. Natürlich wollte er sie heiraten und sie solle nicht nach Hause gehen.
Sie gingen durch das Schloss und kamen schließlich in eine große Halle, in der die riesigen Schwerter der beiden Trolle an der Wand hingen. „Ich frage mich“, sagte sie, „ob du es schaffst, eins von diesen Schwertern zu tragen“. „Wer, ich?“, sagte der Junge, „es wäre schlimm, wenn ich das nicht könnte.“
Er stapelte zwei oder drei Stühle übereinander, sprang oben drauf und berührte eins der Schwerter mit seinen Fingerspitzen, warf es hoch in die Luft und fing es am Griff wieder auf. Dann sprang er herab und durchschnitt die Luft mit dem Schwert so heftig, dass das ganze Schloss erzitterte. Das Schwert steckte er unter seinen Arm und nahm es mit.
Nachdem sie eine zeitlang glücklich in dem Schloss gelebt hatten, wollte die Prinzessin zu ihren Eltern reisen, um ihnen zu berichten, wie es ihr ergangen war. So belud sie ein Schiff und setzte Segel gen Arabien.
Die Prinzessin war gerade weg, da erinnerte sich der Junge, dass er mit einem Auftrag hergeschickt worden war; er sollte etwas für die Heilung seiner Mutter besorgen. Er sprach zu sich selbst: „Genau betrachtet, ging es ihr gar nicht so schlecht und inzwischen wird sie wohl wieder wohlauf sein.“ Trotzdem wollte er sehen, wie es ihr gehe. Also marschierte er los und traf den Mann und seine Mutter froh und munter vor.
„Ihr Unglücklichen lebt in dieser Bettlerhütte“, rief der Junge, „kommt mit in mein Schloss und ihr werdet sehen was für ein stolzer Bursche ich geworden bin.“ Sie gingen beide mit ihm und auf dem Weg fragte ihn seine Mutter, wie er so stark geworden sei. Er antwortete, dass seine Kraft von dem blauen Gürtel herrührt, der damals an der Wegkreuzung lag, als sie vom Betteln kamen. „Hast du ihn noch?“, wollte die Mutter wissen. „Ja“, sagte er. Er trug den Gürtel auf seinem Leib. „Kann ich ihn sehen?“, fragte die Mutter weiter. Der Junge öffnete seinen Mantel und sein Hemd und zeigte ihr den Gürtel. Plötzlich ergriff sie den Gürtel mit beiden Händen, riss ihn dem Jungen vom Leib und wickelte ihn um ihre Faust. „Was soll ich mit einem Halunken wie dir anfangen“, schrie sie wild, „ich werde dir einen Schlag versetzen, der dir das Hirn aus dem Schädel schleudern wird“.
„Ein zu schöner Tod für solch einen Schurken“, sagte der Troll, „wir werden ihm erst seine Augen ausstechen und ihn dann in einem kleinen Boot aussetzen“. Also brannten sie ihm die Augen aus und warfen ihn trotz seiner Bitten und Tränen in ein Boot, doch als das Boot den Fluss hinunter trieb, schwammen die Löwen hinterher und sie steuerten den Kahn an das Ufer einer Insel und betteten den Jungen unter einen Tannenbaum. Sie sorgten für ihn, sie rupften Vögel und machten ihm ein Daunenbett, doch er musste das Fleisch roh essen und er war blind.
Eines Tages jagte der größte Löwe einen blinden Hasen, der über Stock und Stein sprang und schließlich genau vor einen Fichtenstamm rannte. Da taumelte der Hase kopfüber über das Feld und fiel dann in einen Brunnen. Aber was war das? Als der Hase aus dem Brunnen wieder herauskam, hatte er sein Augenlicht wieder; das Wasser musste seine Augen geheilt haben.
„Soso“, dachte der Löwe, und zog den Jungen zu dem Brunnen und tauchte seinen Kopf in das Wasser. Als der Junge wieder sehen konnte, ging er zurück zum Ufer und gab den Löwen Zeichen, dass sie sich dicht zusammenlegen sollten wie ein Floß. Dann stellte er sich auf sie und die Löwen schwammen los und brachten ihn zum Festland.
Als sie am Ufer ankamen, ging er in einen Birkenhain und bedeutete den Löwen, dass sie still liegen bleiben sollten. Wie ein Dieb schlich er sich dann zum Schloss, um zu sehen, ob er seinen Gürtel wiederbekommen könnte. Am Tor schaute er durch das Schlüsselloch und da sah er den Gürtel über der Küchentür hängen. Niemand war zu sehen, also schlich er leise über den Boden, aber als er den Gürtel angelegt hatte, begann er zu stampfen und zu lärmen als ob er verrückt geworden sei, bis seine Mutter herein gerannt kam.
„Mein lieber, lieber, kleiner Junge“, sagte sie zu ihm, „bitte gib mir den Gürtel wieder“. „Niemals!“, gab er zurück, „jetzt wirst du das Schicksal erleiden, das du für mich ausgeheckt hattest“. Und er vollbrachte es augenblicklich.
Der alte Troll hatte gehört, was geschehen war und kam herein. Er bettelte inständig, dass sein Leben verschont bleibe. „Du sollst am Leben bleiben“, sagte der Junge, „aber du sollst die gleichen Qualen erleiden, die du mir zugefügt hast“. So stach er dem Troll die Augen aus und ließ ihn in einem Boot den Fluss hinunter treiben. Doch der Troll hatte keine Löwen, die ihm folgten.
Jetzt war der Junge ganz allein und er sehnte sich sehr nach der Prinzessin. Schließlich konnte er es nicht mehr aushalten, sein Herz verzehrte sich nach ihr. So belud er vier Schiffe und segelte nach Arabien. Eine zeitlang hatten sie guten Wind und gutes Wetter, aber dann ließ der Wind nach und sie lagen vor einer felsigen Insel.
Die Matrosen gingen an Land und streiften umher, um sich die Zeit zu vertreiben, und dabei fanden sie ein riesiges Ei, das so groß war wie ein Haus. Sie schleuderten es gegen den Felsen, aber es gelang ihnen nicht, die Schale zu zerbrechen. Der Junge hatte den Lärm gehört und kam mit seinem Schwert, um nachzusehen. Als er das Ei sah, dachte er, dass es leicht wäre, das Ei zu öffnen. Mit dem Schwert versetzte er dem Ei einen Schlag und spaltete es in zwei Teile, und da kam ein Kücken heraus, so groß wie ein Elefant.
„Was habe ich da angestellt“, rief der Junge, „das kann uns alle das Leben kosten“. Er fragte seine Matrosen, ob sie Arabien in 24 Stunden erreichen können, wenn sie guten Wind haben. Das wäre möglich, antworteten sie. Und so setzten sie die Segel, denn ein starker Wind war aufgekommen, und kamen nach 23 Stunden in Arabien an.
Als sie das Ufer erreicht hatten, befahl der Junge seinen Matrosen, ihre Köpfe in einem Sandhügel zu vergraben, so dass sie die Schiffe nicht mehr sehen konnten. Der Junge und die Kapitäne kletterten auf einen Berg und setzten sich unter einen Oleanderstrauch. Kurz darauf kam ein riesiger Vogel angeflogen. Er trug eine Insel in seinen Klauen und ließ die Insel auf die Flotte fallen, so dass alle Schiffe sanken. Dann flog er zu dem Sandhügel und schlug heftig mit den Flügeln. Der Sturm hätte den Matrosen beinahe die Köpfe weggeblasen, aber dann flog er zu dem Oleanderstrauch. Der Vogel kam mit solcher Wucht angebraust, dass es den Jungen herumriss, doch er hatte sein Schwert gezückt und versetzte dem Vogel ein paar Hiebe, die ihn töteten.
Sie gingen zur Stadt, wo jedermann froh war, weil der König seine Tochter zurückbekommen hatte. Sie erfuhren, dass der König seine Tochter versteckt hielt und dass derjenige sie zur Frau bekommen soll, der sie ausfindig machen kann, obwohl sie bereits mit dem Jungen verlobt ist.
Als der Junge durch die Stadt streifte, traf er einen Mann, der weiße Bärenfelle feilhielt. Der Junge kaufte eins und zog es an. Einer der Kapitäne nahm eine Eisenkette und legte sie dem Jungen an. So verkleidet zogen sie durch die Stadt.
Es kam dem König zu Ohren, dass es einen tanzenden weißen Bären in der Stadt gibt, der in die Luft springt, wenn man ihn darum bittet. Er schickte einen Boten, um den Bären zum Schloss zu geleiten, denn der König wollte sich an den Kunststücken erfreuen. Als sie zum Schloss kamen, fürchteten sich die Leute sehr, weil sie noch nie so ein Biest gesehen hatten. Der Kapitän aber sagte, dass keine Gefahr besteht, solange die Leute über den Bären nicht lachen würden, sonst würde er sie in Stücke reißen. Als der König das vernahm, verbot er dem ganzen Hof zu lachen. Während der Vorstellung kam eine Magd des Königs herein und begann laut zu lachen und Späße mit dem Bären zu machen. Der Bär stürzte sich auf sie und riss sie hin und her bis nur noch ein Fetzen von ihr übrig geblieben war. Der ganze Hofstaat begann daraufhin zu schreien, am lautesten der Kapitän. „Aufhören“, sagte der König, „sie war nur eine Magd und außerdem gehörte sie mir und nicht euch“.
Spät in der Nacht war die Vorstellung zu Ende. „Es ist spät und ihr solltet über Nacht hier bleiben“, sagte der König. „Vielleicht kann der Bär am Küchenfeuer schlafen“, schlug der Kapitän vor. „Nein“, antwortete der König, „er soll hier im Hof schlafen und Kissen und Polster bekommen“. Man brachte einen ganzen Haufen Kissen herbei. Der Kapitän wurde in einem Seitenraum untergebracht.
Um Mitternacht kam der König mit einer Lampe und einem großen Schlüsselbund und nahm den weißen Bären mit. Sie gingen durch unendlich viele Flure, Türen und Räume, treppauf und treppab, bis sie an einen Steg kamen, der in einen See ragte. Der König zog an etlichen Hebeln und Stangen, diese nach oben und andere nach unten, bis schließlich ein kleines Häuschen aus dem Seeufer auftauchte. Hier hielt er seine Tochter versteckt, denn sie war ihm das Liebste, das er besaß und hier konnte niemand sie finden. Er ließ den Bären auf dem Steg und ging in das Häuschen.
Der König erzählte seiner Tochter von dem Bären, wie er tanzte und mit seinen Tatzen spielte. Sie sagte, sie fürchte sich vor dem Bären und sie wolle nicht wagen, ihn zu sehen, doch der König überzeugte sie, dass keine Gefahr bestehe, wenn sie nicht lache. So brachten sie den Bären herein, schlossen die Tür ab, und der Bär tanzte und zeigte seine Kunststückchen. Als es am lustigsten war, musste die Magd der Prinzessin plötzlich lachen. Der Bär warf sich auf sie und biss sie in hundert Stücke. Die Prinzessin weinte und schluchzte bitterlich.
„Weine nicht wegen einer Magd“, tröstete sie der König, „du wirst eine andere bekommen. Der Bär sollte bis zum Morgen hier bleiben, denn ich will ihn mitten in der Nacht nicht noch einmal durch all die Flure und Zimmer führen.“ „Wie du meinst“, antwortete die Prinzessin, „wenn er hier schläft, werde ich kein Auge zu tun“.
Genau in diesem Moment legte sich der Bär vor den Ofen und rollte sich zusammen. Es war offensichtlich, dass er müde war. Als der König gegangen war, bat der Bär die Prinzessin, ihm das Halsband abzunehmen. Die Prinzessin fürchtete sich so sehr, dass sie beinahe weinte, aber sie riss sich zusammen und öffnete das Halsband. Da nahm der Bär seinen Kopf ab und die Prinzessin erkannte ihn; sie war überglücklich. Sie wollte ihrem Vater sofort berichten, dass ihr Retter gekommen war, aber der Junge wollte nichts davon hören. Er würde dem König beweisen, dass er sie gefunden hat, sagte er.
Am Morgen, als der König draußen mit den Schlüsseln rasselte, zog der Junge wieder seine Verkleidung an und legte sich vor den Ofen. „Na, ist er still liegen geblieben?“, fragte der König. „Ich glaube schon“, antwortete die Prinzessin, „er hat sich nur ein paar Mal gedreht und gestreckt.“ Als sie wieder am Schloss angekommen waren, nahm der Kapitän den Bären und ging mit ihm fort. Der Junge zog seine Verkleidung aus und ging zu einem Schneider, wo er fürstliche Kleider kaufte. Er zog sie an; jetzt sah er aus wie ein richtiger Prinz. Der Junge ging zurück zum König und sagte, dass er die Prinzessin finden wolle.
„Du bist nicht der erste, der sie finden will“, sagte der König, „doch bisher haben alle ihr Leben verloren, denn wer sie nicht innerhalb von 24 Stunden findet, der verwirkt sein Leben“. Der Junge wusste das, doch er wollte es trotzdem versuchen.
Auf dem Schlosshof spielte eine Kapelle süße Melodien; dort gab es viele Mädchen, mit denen der Junge tanzte. Nach zwölf Stunden sagte der König: „Es tut mir leid, aber du bist mit der Suche nach der Prinzessin nicht weit vorangekommen“. „Unsinn“, gab der Junge zurück, „solange ich atme, habe ich auch noch Hoffnung. Wir haben noch viel Zeit.“ Und so tanzte er weiter bis nur noch eine Stunde übrig war.
„Das hat keinen Zweck“, sagte der König, „du wirst es nicht mehr schaffen“. „Nimm deine Lampe und dein riesiges Schlüsselbund“, sagte der Junge, „und folge mir. Es ist noch eine ganze Stunde übrig.“ Der Junge ging den gleichen Weg, den ihn der König in der Nacht zuvor geführt hatte und bat den König, Tür um Tür aufzuschließen.
Endlich kamen sie zu dem kleinen Steg am See. „Es hat keinen Sinn“, sagte der König, „die Zeit ist um und hier ist nichts als der See“. „Fünf Minuten sind noch übrig“, sagte der Junge, während er an den Hebeln und Stangen zog, und da tauchte das Häuschen auf. „Die Zeit ist um“, schrie der König, „der Henker soll ihm den Kopf abschlagen“.
„Nein, nein, es sind noch drei Minuten“, sagte der Junge und er bat den König, die Tür zum Häuschen aufzuschließen. Doch der König stand da und werkelte an seinem Schlüsselbund herum, um die Zeit herauszuzögern. Schließlich sagte er, dass er keinen Schlüssel für das Häuschen habe. „Dann nehme ich meinen Schlüssel“, sagte der Junge und er gab der Tür einen Tritt, dass sie zu Splittern zerbarst. Die Prinzessin empfing ihn an der Tür und erzählte ihrem Vater, dass das ihr Retter sei, dem sie ihr Herz geschenkt habe.
So nahm sie ihn zum Manne. Dies ist die Geschichte vom Bettlerjungen, der die Tochter des Königs von Arabien heiratete.
Quelle:
(Peter Christen Asbjørnsen, Jørgen Moe – Norwegen)