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Der blaue Vogel

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Es war einmal ein König, welcher sehr reich war an Land und Geld. Als seine Frau starb, war er untröstlich. Er schloß sich eine ganze Woche lang in ein kleines Kabinett ein, wo er mit dem Kopf gegen die Mauern rannte; dermaßen hatte sein Schmerz ihn von Sinnen gebracht. Man fürchtete, er möge sich umbringen und legte Matratzen zwischen das Mauerwerk und die Wandbehänge. Alle seine Untertanen gingen hin, um ihn nach Kräften in seiner Trauer zu trösten. Die einen redeten von ernsthaften und wichtigen Dingen, die anderen von anregenden und sogar von erfreulichen, aber all das machte nicht den geringsten Eindruck auf ihn, er hörte kaum, was man zu ihm sagte. Endlich erschien eine Dame bei ihm, die ganz von schwarzen Crêpestoffen und -schleiern bedeckt war und dermaßen weinte und schluchzte, daß er davon ganz überrascht war. Sie sagte ihm, sie habe sich nicht wie die andern vorgenommen, seinen Schmerz zu vermindern, sie komme vielmehr, um ihn zu vergrößern; denn es gäbe nichts Natürlicheres als die Trauer um eine gute Gattin. Sie selbst hätte den besten aller Gatten verloren und wolle ihn beweinen, solange sie Augen im Kopfe habe. Darauf verdoppelte sie ihr Wehklagen, und der König begann, ihrem Beispiel folgend, gleichfalls zu heulen. Er empfing die Dame besser als alle andern Besucher, er unterhielt sie mit den edlen Eigenschaften der Verschiedenen, und sie überbot ihn mit denen ihres Verblichenen. Sie trieb es so lange, bis sie nicht mehr wußte, was sie über ihren Schmerz reden solle. Als die schlaue Witwe bemerkte, daß das Thema fast erschöpft sei, hob sie ihren Schleier ein wenig, und der in Schmerz versunkene König labte seine Augen mit dem Anblick dieser armen Trauernden, die ihre mit langen schwarzen Wimpern umränderten großen blauen Augen nach allen Seiten drehte und wendete. Ihre Gesichtsfarbe war schon ein wenig verblüht. Der König betrachtete sie aufmerksam. Schließlich sprach er immer weniger von seiner Frau und zuletzt überhaupt nicht mehr. Die Witwe redete davon, sie wolle ewig ihren Gatten beweinen, der König bat sie, ihren Schmerz nicht zu verewigen, und zuletzt war alle Welt sehr erstaunt, als er sie heiratete und als ihr Schwarz sich in Grün und Rosa verwandelte. Häufig genügt es, die Schwäche eines Menschen zu kennen, um ganz über ihn verfügen zu können.
Der König hatte nur eine Tochter erster Ehe gehabt, welche als das achte Wunder der Welt galt. Sie hieß Blumenschön, weil sie frisch, jung und schön war. Man sah an ihr keine prächtigen Kleider, vielmehr liebte sie Hauskleider aus Taffet und Blumengewinde, die in der Tat einen prächtigen Eindruck machten, wenn sie auf ihren schönen Haaren thronten. Sie war fünfzehn Jahre alt, als der König sich wieder verheiratete. Die neue Königin ließ ihre Tochter holen, welche bei ihrer Patin, der Fee Susio, aufgezogen worden war, aber sie war davon nicht schöner noch anmutiger geworden: Susios Mühe war bei ihr vergeblich gewesen, aber trotzdem liebte sie sie zärtlich. Sie hieß Forellchen, denn ihr Gesicht hatte rote Flecken wie eine Forelle. Ihre schwarzen Haare waren so fettig und filzig, daß man sie nicht berühren konnte, und ihre gelbe Haut schwitzte eine Art von Öl aus. Dennoch liebte sie die Königin bis zum Wahnsinn, und sie redete von nichts als von ihrem lieblichen Forellchen, und da Blumenschön alle möglichen Vorzüge vor ihr besaß, geriet sie in helle Verzweiflung. Sie erdachte alle möglichen Mittel, jene beim König anzuschwärzen, und kein Tag verging, ohne daß die Königin und Forellchen Blumenschön irgendeinen Streich spielten. Die Prinzessin war sanft und geistreich und suchte über diese Unannehmlichkeiten hinwegzukommen.
Eines Tages meinte der König, daß Blumenschön und Forellchen groß genug seien, um sich zu verheiraten, und den ersten besten Prinzen, der an den Hof käme, müsse man einer von beiden zum Manne geben. »Ich bin der Ansicht,« sagte die Königin, »daß meine Tochter die erste ist, die in Betracht kommt. Sie ist älter als die deinige, und da sie tausendmal liebenswürdiger ist, gibt es gar kein Bedenken.« Der König liebte keinen Streit und sagte, er überlasse alles ihr.
Einige Zeit darauf erfuhr man, daß der König Reizvoll ankommen würde. Nie gab es einen galanteren und prachtliebenderen Fürsten, und sein Geist wie sein Körper entsprach seinem Namen. Als die Königin diese Neuigkeit erfuhr, sandte sie nach allen Stickern, Schneidern und sonstigen Handwerkern, um Forellchen auszustaffieren, sie bat aber den König, daß Blumenschön nichts Neues erhalte; sie bestach ferner ihre Hofdame, daß sie Blumenschöns sämtliche Gewänder, Edelsteine und Kopfbedeckungen am gleichen Tage entwendete, an welchem Reizvoll anlangte, so daß diese, als sie sich schmücken wollte, nicht ein einziges Band mehr vorfand. Sie merkte wohl, wer ihr dies angetan habe und sandte zu den Händlern, um Stoffe zu erhalten; aber jene erwiderten, daß die Königin ihnen verboten habe, solche abzugeben. Sie blieb also in einem recht schmutzigen Kleid und schämte sich derart, daß sie in einer Ecke des Saales Platz nahm, als Reizvoll eintraf. Die Königin empfing ihn mit großem Prunk, sie stellte ihm ihre Tochter vor, die wie die Sonne glänzte und doch in all ihrem Schmuck noch häßlicher war wie gewöhnlich. Der König wandte seine Augen von ihr ab, und die Königin wollte sich einreden, daß sie ihm zu gut gefalle und er fürchte, sich festzulegen. Sie brachte daher Forellchen beständig in seine Nähe. Er fragte, ob nicht noch eine andere Prinzessin mit Namen Blumenschön da sei, »Ja«, sagte Forellchen und wies mit dem Finger nach ihr. »da versteckt sie sich, weil sie nicht artig ist.« Blumenschön errötete und wurde dadurch so schön, daß der König Reizvoll ganz geblendet wurde. Er erhob sich rasch und machte der Prinzessin eine tiefe Verbeugung: »Mein Fräulein,« sagte er, »Eure unvergleichliche Schönheit schmückt Euch so, daß Ihr keiner fremden Hilfe mehr bedürft!« »Mein Herr,« erwiderte sie, »ich gestehe, daß ich es wenig gewöhnt bin, ein so unsauberes Kleid zu tragen wie dieses, und ihr würdet mich zu Dank verpflichtet haben, wenn Ihr mich nicht beachtet hättet.« »Es wäre unmöglich,« rief Reizvoll, »daß eine so wunderschöne Prinzessin sich irgendwo aufhalten könnte, ohne daß sie meine Augen von allem andern ablenken würde!« »Ah!« sagte die Königin erbost, »ich vergeude meine Zeit damit, Euch zuzuhören, glaubt mir, mein Herr, Blumenschön ist schon hinreichend eitel, man darf ihr nicht soviel Schmeicheleien sagen.« Der König Reizvoll fand bald heraus, aus welchem Grunde die Königin so redete, aber da er nicht gesonnen war, sich Gewalt anzutun, so zeigte er seine Bewunderung für Blumenschön ganz offen und unverhüllt und unterhielt sich drei Stunden hintereinander mit ihr. Die Königin war verzweifelt und Forellchen untröstlich, nicht mehr den Vorzug vor Blumenschön zu haben; beide beklagten sich beim König und bestimmten ihn, Blumenschön in einen Turm zu sperren, wo sie den König Reizvoll nicht mehr sprechen könne. Und wirklich wurde jene, sobald sie auf ihr Zimmer zurückgekehrt war, von vier maskierten Männern oben auf den Turm gebracht, wo sie auf dem Gipfel der Trostlosigkeit zurückblieb, denn sie sah wohl, daß man sie nur deshalb so behandelte, weil man sie verhindern wollte, dem Könige zu gefallen, der ihr seinerseits schon sehr gut gefiel und den sie gern zum Gatten gehabt hätte. Da dieser nichts von der Gewalttat erfuhr, wartete er stündlich mit Ungeduld darauf, die Prinzessin wiederzusehen; er wollte mit den Herren seines Ehrendienstes von ihr reden, aber auf Befehl der Königin sagten diese ihm alles mögliche Schlechte über sie: sie wäre eitel, wankelmütig und launisch und quäle ihre Freundinnen und ihre Bedienung; man könnte nicht unsauberer sein als sie, und ihr Geiz ginge so weit, daß sie lieber wie ein Hirtenmädchen gekleidet wäre, als daß sie sich neue Brokatstoffe kaufe. Bei jeder Einzelheit litt Reizvoll und fühlte Zornesregungen, die er kaum bändigen konnte. »Nein,« sagte er zu sich, »es ist undenkbar, daß der Himmel eine so häßliche Seele in dieses Meisterwerk der Natur gelegt haben könne, ich gebe zu, daß sie nicht sauber angezogen war, als ich sie sah, aber ihre Scham bewies, daß sie es nicht gewohnt war, sich so zu sehen. Wie, sie wäre schlecht mit diesem bezaubernden Ausdruck von Bescheidenheit und Sanftmut! Das will mir nicht in den Kopf. Eher glaube ich, daß die Königin sie so verleumdet; man ist nicht umsonst Stiefmutter; die Prinzessin Forellchen ist eine so garstige Kreatur, daß es nicht verwunderlich wäre, wenn sie das vollkommenste aller Geschöpfe beneiden würde.« Während er solches bedachte, merkten die ihn umgebenden Höflinge wohl an seinen Mienen, daß sie ihm keinen Dienst erwiesen hätten, als sie schlecht von Blumenschön redeten, und einer von ihnen, der besonders gewandt war, wechselte daher die Tonart; um die Gesinnung des Fürsten kennenzulernen, begann er allerlei Wunderbares von Blumenschön zu erzählen. Bei diesen Worten erwachte Reizvoll wie aus einem Traum, griff hastig in das Gespräch ein und Freude malte sich auf seinen Zügen: o Liebe, Liebe, wie schwer bist du zu verbergen!
Die Königin war ungeduldig, zu erfahren, wie der Eindruck auf den Fürsten gewesen wäre, sie schickte nach ihren Vertrauten und verbrachte die Nacht damit, sie auszufragen, und alles, was sie berichteten, bestärkte sie in ihrer Ansicht, daß der Fürst nur Blumenschön liebe.
Aber was soll ich von der Schwermut dieser Prinzessin erzählen? Sie lag im Verließ des schrecklichen Turmes, in den sie die vermummten Männer gebracht hatten, auf dem Boden. »Weniger wäre ich zu beklagen,« sagte sie, »wenn man mich hierher gebracht hätte, ehe ich diesen liebenswürdigen König sah. Die Erinnerung an ihn vermehrt meine Qual; ich bin sicher, daß die Königin nur deshalb so grausam mit mir verfährt, um mich zu hindern, ihn weiterhin zu sehen. Weh, daß das bißchen Schönheit, das mir der Himmel verlieh, mir meine Seelenruhe kostet!« Sie weinte so bitterlich, daß ihre erbittertste Feindin sich ihrer erbarmt hätte, hätte sie ihren Schmerz gesehen.
Die Königin überhäufte indes Reizvoll mit kostbaren Geschenken und machte ihn sogar zum Ritter des Liebesordens, den sie eigens zu diesem Zweck gestiftet hatte. Reizvoll erkundigte sich nach Blumenschön und erfuhr, daß der Vater ihr verboten habe, während seiner Anwesenheit ihr Zimmer zu verlassen. Er verabredete vermittels einer Hofdame eine nächtliche Zusammenkunft mit Blumenschön, aber die Treulose hatte nichts Eiligeres zu tun, als alles der Köngin und Forellchen wiederzuerzählen, und letztere kam auf den Gedanken, Blumenschöns Platz am Fenster ihres Zimmers einzunehmen. Die Nacht war so dunkel, daß der König unmöglich den Betrug bemerken konnte.
Er näherte sich also mit Gebärden unaussprechlicher Freude dem Fenster und sagte Forellchen alles das, was er Blumenschön hätte sagen wollen, um sie von seiner Leidenschaft zu überzeugen. Forellchen nahm die Gelegenheit wahr und sagte ihm, sie sei das unglücklichste Wesen von der Welt, da sie eine so grausame Stiefmutter habe, und ihre Leiden würden nicht eher aufhören, bis Forellchen verheiratet sei. Der König versicherte sie, er wäre glücklich, wenn sie ihn zum Gatten wolle, und er wolle Herz und Krone mit ihr teilen. Darauf zog er seinen Ring vom Finger und steckte ihn an den Forellchens, indem er hinzufügte, dies sei das Pfand seiner ewigen Treue, sie solle ihm nur die Stunde nennen, zu der sie heimlich fliehen wollten. Die Königin erfuhr sogleich den günstigen Ausgang dieser Unterredung und erhoffte alles davon. Wirklich wurde der Tag verabredet, an welchem der König erschien, um die Prinzessin in seine von fliegenden Kröten gezogene Kutsche aufzunehmen, die ihm ein befreundeter Zauberer zum Geschenk gemacht hatte. Die Nacht war sehr dunkel, Forellchen schlüpfte geheimnisvoll durch ein Hinterpförtchen, und der König, der sie erwartete, nahm sie in seine Arme und schwur ihr hundertmal ewige Treue.
Auf Wunsch der Prinzessin begaben sie sich zunächst zur Fee Susio. Während Reizvoll im Vorsaal des gläsernen Palastes wartete, bemerkte er auf einmal durch die durchsichtige Wand Forellchen, welche mit der Fee redete. »Was?« sagte er, »bin ich betrogen? Haben die Dämonen diese Feindin meiner Ruhe hierhergebracht? Will sie meine Hochzeit stören? Meine teure Blumenschön kommt nicht! Ihr Vater hat sie vielleicht verfolgt!« Er dachte an tausend Dinge, die ihn zur Verzweiflung brachten, aber es wurde noch schlimmer, als jene eintraten und Susio in entschiedenem Tone zu ihm sagte: »König Reizvoll, hier ist die Prinzessin Forellchen, der Ihr Euer Treueversprechen gegeben habt. Sie ist mein Patenkind, und ich wünsche, daß Ihr sie sofort heiratet.« »Ich,« rief er, »ich sollte dieses kleine Ungeheuer heiraten? Ihr haltet mich für sehr fügsam, da Ihr mir einen solchen Vorschlag macht! Nichts habe ich ihr versprochen, und wenn sie das Gegenteil behauptet, so hat sie …« »Nicht weiter!« unterbrach ihn Susio, »und seid nicht so kühn, es mir gegenüber an Respekt fehlen zu lassen!« Forellchen zeigte Reizvoll den Ring, und dieser merkte, daß er getäuscht worden war, er wollte fliehen, doch die Fee hielt ihn durch einen Zauber fest. Es war umsonst, daß ihn die Fee mit Sanftmut, Drohungen und Versprechungen bestürmte, daß Forellchen weinte, schrie, schluchzte, tobte und schmeichelte, vergeblich redete man zwanzig Tage lang ununterbrochen miteinander, ohne zu essen, zu trinken, zu schlafen und sich zu setzen. Endlich verlor die Fee die Geduld und befahl dem König zwischen der Heirat mit Forellchen und siebenjähriger Verwünschung zu wählen. Es fiel ihm leicht, letzteres vorzuziehen, und von der Fee in einen blauen Vogel verwandelt, flog er durch das Fenster davon.
Forellchen aber kehrte zu ihrer Mutter zurück, und beide gingen zu Blumenschön, der sie die angebliche Verheiratung der Prinzessin mit dem Fürsten erzählten, und sie bekräftigten ihre Worte durch die Vorweisung des Ringes. Blumenschön war vor Kummer dem Tode nahe. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte und sich überlegte, welch schlechte Behandlung man ihr habe angedeihen lassen und wie nun alle Hoffnung auf eine eheliche Verbindung mit dem König für sie geschwunden sei, da wurde ihr Schmerz so heftig, daß sie die ganze Nacht weinte. Indessen hatte der König Reizvoll, oder besser gesagt der blaue Vogel, unausgesetzt das Schloß umflogen, denn er glaubte, daß seine teure Prinzessin dort irgendwo eingeschlossen sein müsse, und wenn ihre Klagen schmerzlich waren, so waren es die seinigen nicht minder: er näherte sich den Fenstern so gut er konnte, um in die Zimmer zu blicken, aber die Furcht, Forellchen möchte ihn entdecken und erkennen, hinderte ihn das zu tun, was er wollte. »Es geht um mein Leben!« sagte er zu sich selber, »wenn diese bösen Frauen erfahren, wo ich bin, so würden sie sich rächen wollen.« Diese Erwägungen zwangen ihn, sich tagsüber vom Schlosse fernzuhalten, und in der Regel kam er nur in der Nacht und sang. Man hatte gegenüber dem Fenster von Blumenschöns Verließ eine Zypresse von außerordentlicher Höhe gepflanzt, und der blaue Vogel wiegte sich auf ihren Zweigen. Kaum saß er dort, als er eine klagende Stimme hörte: »Soll ich noch lange leiden,« sagte sie, »kommt nicht der Tod, mich zu erlösen? O grausame Königin, was tat ich dir, daß du mich in so furchtbarer Gefangenschaft hältst? Daß du mich, um mich zu strafen, zum Zeugen des Glückes machst, das deine unwürdige Tochter mit dem König Reizvoll genießt?« Der blaue Vogel vernahm diese Worte, und je mehr er hörte, desto klarer wurde es ihm, daß es die liebenswürdige Blumenschön sei, die so rede. Er sprach zu ihr: »Anbetungswürdige Blumenschön, Wunder unserer Tage! Warum wollt Ihr Euer Leben so bald schon enden? Es gibt ein Heilmittel für Euer Leiden!« »Wie? Wer spendet mir so süßen Trost?« »Ein unglücklicher König,« erwiderte der Vogel, »der Euch liebt und nie eine andere lieben wird als Euch.« Mit diesen Worten flog er an das Fenster. Blumenschön fürchtete sich zunächst vor dem seltsamen Vogel, der so verständig redete, wie wenn er ein Mensch wäre. »Darf ich Euch wiedersehen, Prinzessin, darf ich ein so vollkommenes Glück genießen, ohne vor Seligkeit zu vergehen?« »Wer seid Ihr, reizvoller Vogel?« sagte die Prinzessin und streichelte ihn. »Ihr habt meinen Namen genannt!« erwiderte der König. »Was! der größte König der Welt! Was! der König Reizvoll wäre der kleine Vogel, den ich in meiner Hand halte?« sagte die Prinzessin. »Wehe, liebe Blumenschön, es ist nur zu wahr,« entgegnete er, »und wenn etwas mich trösten kann, so ist es das, daß ich diese Strafe derjenigen vorgezogen habe, auf die Gefühle verzichten zu müssen, die ich für Euch hege.« »Für mich? Oh, ich weiß, daß Ihr Forellchen geheiratet habt, ich habe Euern Ring an ihrem Finger erkannt!« Nun erfuhr sie vom Prinzen den wahren Sachverhalt. Blumenschön empfand ein so großes Vergnügen dabei, ihren Geliebten reden zu hören, daß sie alle Leiden ihrer Gefangenschaft vergaß. Wie tröstete sie ihn über sein Mißgeschick! Wie überzeugte sie ihn, daß sie nicht weniger für ihn tun wolle, als er für sie getan habe. Der Tag brach an, und die Mehrzahl der Höflinge hatte sich schon erhoben, als die Prinzessin und der blaue Vogel noch immer miteinander redeten. Sie trennten sich unter tausend Qualen, nachdem sie einander versprochen hatten, sich jede Nacht so zu unterhalten.
Zwei Jahre vergingen so, jede Nacht erschien der blaue Vogel vor dem Fenster von Blumenschöns Kerker, und mitunter brachte er ihr kostbare Geschenke in seinem Schnabel mit. Indessen bemühte sich die feindselige Königin, die Blumenschön so grausam in ihrem Gefängnis zurückhielt, vergeblich, Forellchen zu verheiraten. Sie schickte Gesandte an alle Fürsten, deren Namen sie wußte, um sie ihnen anzubieten, aber wenn diese angekommen waren, wies man sie schroff ab. »Wenn es sich um die Prinzessin Blumenschön handeln würde, wäret Ihr mit Freuden aufgenommen worden,« sagte man zu ihnen, »aber Forellchen mag Vestalin bleiben, ohne daß jemand dagegen Einspruch erhebt.« Auf diese Nachricht hin gerieten Mutter und Tochter in neuen Zorn gegen die unschuldige Prinzessin, die sie nun um so ärger quälten. »Wie! Trotz ihrer Gefangenschaft steht uns diese Unverschämte im Wege!« sagten sie, »wie können wir ihr die bösen Streiche verzeihen, die sie uns spielt. Sie muß geheime Verbindungen mit dem Ausland unterhalten, jedenfalls ist sie eine Staatsverbrecherin, wir wollen sie zu überführen suchen!« Sie beendeten ihren Kriegsrat so spät, daß es schon um Mitternacht war, als sie beschlossen, auf den Turm zu steigen, um sie auszufragen. Sie stand mit dem blauen Vogel am Fenster, geschmückt mit den Edelsteinen, die er ihr gebracht hatte, und mit einem Gesichtsausdruck, der bei bekümmerten Leuten nicht angebracht ist. Ihr Zimmer und ihr Bett waren mit Blumen überstreut, und einige spanische Pastillen, die sie verbrannt hatte, verbreiteten einen angenehmen Duft. Blumenschön und der blaue Vogel sangen gerade zweistimmig. »Ah, mein Forellchen, wir sind betrogen!« rief die Königin, öffnete hastig die Tür und drängte sich ins Zimmer. Blumenschön schlug hurtig das Fenster zu, um dem blauen Vogel Zeit zu lassen, sich zu entfernen. Die beiden Weiber stürzten sich wie die Furien auf sie los. Lange disputierten sie über die Schmucksachen und die Wohlgerüche, die Blumenschön irgendwo gefunden haben wollte. Die Königin beschuldigte sie der Verschwörung und heimlicher Unterhandlungen zum Schaden des Staates, und schließlich legte man ihr eine Spionin ins Zimmer, die alle Handlungen der Prinzessin überwachen sollte. Aber tagsüber fand diese nicht den geringsten Grund zum Verdacht, und abends legte sie sich frühzeitig schlafen, da sie sich langweilte. Nun öffnete Blumenschön das Fenster und rief ihren blauen Vogel herbei. Aber die Schläferin hatte ein Geräusch gehört, sie horchte im stillen, dann suchte sie mit den Augen die Finsternis zu durchdringen und bemerkte schließlich im Mondschein den schönsten Vogel von der Welt, der mit der Prinzessin redete, sie liebkoste und schnäbelte; endlich verstand sie auch einige Worte ihrer Unterhaltung und verwunderte sich sehr, denn der blaue Vogel sprach wie ein Liebhaber, und die Prinzessin antwortete ihm zärtlich. Am anderen Morgen erschien die Kerkermeisterin bei der Königin und berichtete ihr alles, was sie gesehen und gehört hatte. Die Königin schickte sogleich nach Forellchen und nach ihren Vertrauten; sie beratschlagten sich lange Zeit und kamen schließlich auf den Gedanken, daß der blaue Vogel der König Reizvoll sein müsse. »Welch ein Schimpf, mein Forellchen!« rief die Königin, »diese unverschämte Prinzessin, die ich so in Kummer wähnte, genoß in Ruhe die angenehme Unterhaltung unseres Undankbaren! Oh! Ich werde mich blutig rächen, man soll davon lange reden!« Die Königin schickte die Spionin in den Turm zurück und befahl ihr, keinen Argwohn und keine Neugier zur Schau zu tragen, vielmehr sich tiefer als gewöhnlich schlafend zu stellen. Diese legte sich also frühzeitig nieder und schnarchte aus Leibeskräften, indes die arme, getäuschte Prinzessin das kleine Fenster öffnete und ihren Vogel rief.
Aber sie lockte ihn die ganze Nacht vergebens, er erschien nicht, denn die böse Königin hatte Messer, Dolche, Klingen und Schwerter an die Zypresse binden lassen, und als er mit raschen Flügelschlägen kam, um sich darauf niederzulassen, zerschnitten ihm die Mordwaffen die Füße, er fiel auf andere, die ihm die Flügel zerfleischten, und endlich rettete er sich unter tausend Qualen zu dem hohlen Baume, wo er die Tage zu verbringen pflegte, eine lange Blutspur zurücklassend. Er kümmerte sich nicht um sein Leben, denn er war überzeugt, daß Blumenschön ihm diesen bösen Streich gespielt habe. Dieser unselige Gedanke drückte ihn dermaßen nieder, daß er zu sterben beschloß. Aber sein Freund, der Zauberer, war derart um ihn besorgt, daß er achtmal die ganze Erde umlief, um ihn zu suchen. Endlich fand er ihn in jenem hohlen Baum. Ein anderer als er wäre mehr bestürzt gewesen, aber ihm war kein Kunstgriff der Zauberei fremd, es kostete ihn nur wenige Worte, um das Blut zum Stehen zu bringen, und mit gewissen Waldkräutern, über die er einige Worte aus dem siebenten Buche Mosis murmelte, heilte er den König so vollkommen, als sei er nie verwundet gewesen.
Blumenschön klagte indes um ihren Vogel, während die beiden Weiber triumphierten. Aber bald änderte sich die Sachlage vollkommen. Der alte König starb, und die Königin maßte sich sogleich die Herrschaft an. Das Volk jedoch wollte ihre Regierung nicht dulden, es schüttelte ihre Herrschaft ab, und die Großen des Reiches holten Blumenschön aus ihrem Turme und setzten ihr die Krone auf.
Unterdessen hatte der Zauberer die Fee Susio aufgesucht, um bei ihr für den blauen Vogel ein gutes Wort einzulegen. Diese versprach aber nur unter der Bedingung den Fluch rückgängig machen zu wollen, daß der König Forellchen heirate. Der blaue Vogel, der Blumenschön nun ebenso haßte, wie er sie zuvor geliebt hatte und sich überdies in einem Zustand völliger Apathie befand, erklärte sich einverstanden, doch ersuchte er, die Hochzeit noch um ein Jahr hinausschieben zu dürfen. Dies wurde ihm gewährt, und die Fee gab ihm seine menschliche Gestalt zurück.
Blumenschön aber hüllte sich in bäuerliche Kleider, verbarg ihr Gesicht unter ihren dichten Haarflechten, setzte einen breiten Strohhut auf, nahm einen Sack auf die Schulter und machte sich auf die Reise, bald zu Fuß, bald zu Roß, bald zur See, bald zu Lande und alles so schnell wie möglich. Sie wanderte und wanderte und überschritt schließlich mit Hilfe einer gütigen Fee ein Gebirge, das war ganz aus Elfenbein; jenseits desselben lag die Hauptstadt des Königreiches von ihrem Geliebten. Sogleich erkundigte sie sich nach ihm, und man erwiderte ihr: »Morgen wird er mit der Prinzessin Forellchen zum Gotteshause gehen, denn er hat endlich eingewilligt, sie zu heiraten.« Am anderen Morgen drängte sich Blumenschön mitten durch die zuschauende Menge Volks und stellte sich neben den Thron, so daß der König sie gleich bemerken mußte, und wirklich redete er sie an und fragte sie, was sie wolle: »Ich heiße Klein- Schmutzfink,« sagte sie, »und komme, Euch einige Raritäten zu verkaufen.« Bei diesen Worten kramte sie in ihrem Sack und zog die smaragdenen Armbänder hervor, die der blaue Vogel ihr ehedem gegeben hatte. Als der König diesen Schmuck erblickte, erinnerte er sich dessen, den er Blumenschön gegeben hatte; er erbleichte und seufzte und schwieg lange. Endlich fürchtete er, man möge seine trüben Gedanken bemerken und sagte mit Anstrengung zu Forellchen: »Diese Armbänder sind, glaube ich, ebensoviel wert wie mein Königreich; ich dachte, es gäbe nur ein Paar davon auf der Welt, aber diese hier sind ganz dieselben.« Forellchen stieg von ihrem Thron herab, wo sie gesessen hatte wie eine Auster in ihrer Schale, und fragte die Königin, wieviel sie für diese Armbänder wolle. »Ihr hättet zu große Ausgaben, wenn Ihr sie bezahlen wolltet, gnädige Frau,« sagte diese, »besser ist es, ich schlage Euch einen andern Handel vor. Wenn Ihr mir erlauben wollt, eine Nacht im Kabinett der Echos zu schlafen, das neben dem Schlafzimmer des Königs liegt, so will ich Euch die Smaragden geben.« »Gern, Klein-Schmutzfink,« sagte Forellchen und lachte wie besessen, wobei sie ihre langen Eberhauer zeigte. Auf Befehl Forellchens führte man die Königin in das Kabinett, und sie stimmte ihre Klagen an: »Das Unglück, das ich fürchtete, ist eingetroffen, grausamer blauer Vogel!« sagte sie, »du hast mich vergessen, du liebst meine unwürdige Nebenbuhlerin! Die Armbänder, die ich von deiner freigebigen Hand empfing, haben dich nicht an mich mahnen können, so sehr ist mein Bild in deinem Gedächtnis verblaßt.« Der Kammerdiener hatte die ganze Nacht ein Wimmern und Stöhnen gehört, aber der König hatte durch ein seltsames Mißgeschick nichts vernommen. Das kam daher, daß er seit seiner Trennung von Blumenschön nicht mehr schlafen konnte, und wenn er zu Bett ging, gab man ihm Opium, um ihm einige Stunden Ruhe zu verschaffen. Blumenschön mußte also das Gemach wieder verlassen, ohne ihr Ziel erreicht zu haben und wiederholte die List mit einem andern Schmuckstück, welches Forellchen um denselben Preis kaufte. Auch diesmal hatte der König einen Schlaftrunk genommen und Blumenschön veräußerte nun ihr drittes und letztes Kleinod gegen eine Nacht im Echogemach, nachdem sie zuvor den Kammerdiener gebeten hatte, dem König kein Opium zu geben. Sie ließ sich also mit Einbruch der Nacht wieder in das Gemach führen und hoffte, daß der Kammerdiener Wort halten würde. Als sie glaubte, daß alles schlief, begann sie ihre gewohnten Klagen. Der König schlief aber nicht und hörte so genau die Stimme seiner Blumenschön, daß er jedes Wort verstand, doch begriff er nicht, woher die Worte kämen. Aber sein Herz ward von zarten Gefühlen durchdrungen, und er gedachte so innig seiner unvergleichlichen Prinzessin, daß die Trennung von ihr ihn ebenso schmerzlich dünkte, wie in dem Augenblick, da die Messer auf der Zypresse ihn zerfleischten. Er begann ebenso wie die Königin zu klagen: »O Prinzessin,« sagte er, »Ihr waret zu grausam gegen einen Liebhaber, der Euch anbetete. Wäre es möglich, daß Ihr mich unsern gemeinsamen Feinden hättet opfern wollen?« Blumenschön hörte, was er sprach und antwortete ihm unverzüglich, wenn er mit dem kleinen Schmutzfink reden wolle, so würde er über alle Geheimnisse aufgeklärt werden. Bei diesen Worten rief der König ungeduldig einen Kammerdiener und fragte ihn, ob er ihm nicht sogleich Klein-Schmutzfink herbeizubringen vermöge. Der Diener entgegnete, daß nichts leichter sei, weil sie im Gemache nebenan schlafe. Der König wußte nicht, was er davon halten solle. Wie konnte eine so große Königin wie Blumenschön sich als Schmutzfink verkleiden? Wie konnte andererseits der Schmutzfink die Stimme der Königin annehmen und ihre Geheimnisse ausplaudern, wenn er nicht mit ihr personengleich war? In dieser Ungewißheit erhob er sich und bekleidete sich hastig und trat durch eine Tapetentür in das Kabinett der Echos. Dort fand er Blumenschön in einem leichten weißen Taffetkleid, das sie über ihre bäuerlichen Gewänder geworfen hatte; ihre schönen Haare fielen ihr über die Schultern, sie lag auf einem Ruhebett hingestreckt, und eine etwas entfernte Lampe verbreitete nur ein unbestimmtes Licht. Der König trat plötzlich ein, und seine Liebe siegte über seinen Groll; als er sie erkannte, warf er sich ihr zu Füßen, befeuchtete ihre Hände mit Tränen und glaubte, vor Freude und Schmerz sterben zu müssen. Die Königin war nicht weniger erregt, ihr Herz preßte sich zusammen, sie konnte nur mit Mühe atmen und sah den König starr an, ohne ein Wort zu sagen; und als sie so viel Kraft gewonnen hatte, um mit ihm zu reden, so hatte sie doch nicht genug, um ihn zu tadeln. Das Glück des Wiedersehens ließ sie einige Zeit den Gegenstand ihrer Klagen vergessen. Schließlich klärten sie einander auf und rechtfertigten sich; und alles, was sie noch beunruhigte, war die Fee Susio. Aber in diesem Augenblick erschien der dem König befreundete Zauberer in Begleitung einer berühmten Fee, und nach den ersten Komplimenten erklärten der Zauberer und die Fee, daß sie ihre Macht zugunsten des Königs und der Königin vereinigt hätten, daß Susio nichts gegen sie ausrichten könne und daß ihrer Hochzeit kein Hindernis mehr im Wege stünde. Man kann sich die Freude der Liebenden ausmalen. Bei Tagesanbruch verbreitete sich die Neuigkeit im Schloß, und jeder war entzückt, Blumenschön zu sehen. Auch bis zu Forellchen drangen die Gerüchte. Sie lief zum König, aber wie groß war ihre Überraschung, als sie ihre schöne Nebenbuhlerin bei ihm fand. Gerade wollte sie den Mund öffnen, um sie zu schmähen, da erschienen der Zauberer und die Fee und verwandelten sie in ein Ferkelchen, damit ihr wenigstens der Anfangsbuchstabe ihres Namens und ihr raunzender Charakter verbliebe. Fortgesetzt grunzend entfloh sie auf den Hof, wo das laute Gelächter, das sie empfing, ihre Verzweiflung auf den Gipfel trieb. Der König Reizvoll und die Königin Blumenschön, von einem so verhaßten Wesen befreit, dachten nur noch an ihre Hochzeit; Galanterie und Prunkliebe vereinigten sich hier, und man kann sich leicht ausdenken, wie groß ihr Glück nach so langem Unglück war.

[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]

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