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Märchenbasar

Der dankbare Königssohn

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In der Abenddämmerung ging der Königssohn wieder zu ihm, nach seiner Arbeit zu fragen. Der Wirth sagte: »Morgen mußt du mir das weißköpfige Kalb auf die Weide führen, doch hüte dich, daß es sich nicht verläuft, sonst könntest du leicht dein Leben einbüßen.« Der Königssohn dachte bei sich: »mancher zehnjährige Bauerbursch muß eine ganze Herde hüten, da kann mir doch die Hut eines einzigen Kalbes nicht schwer werden.« Als er sich eben schlafen legen wollte, kam das Mädchen wieder in seine Kammer geschlichen und fragte, was für eine Arbeit er morgen habe. »Morgen habe ich Faullenzerarbeit,« sagte der Königssohn, »ich soll mit dem weißköpfigen Kalbe auf die Weide gehen.« »O du unglückseliges Geschöpf,« seufzte das Mädchen: »damit wirst du wohl nimmer durchkommen. Du mußt wissen, daß dieses Kalb eine solche Rennwuth hat, daß es an einem Tage dreimal um die Welt laufen könnte. Merke dir genau, was ich dir jetzt sagen will. Nimm diesen Seidenfaden, binde das eine Ende an das linke Vorderbein des Kalbes, und das andere Ende an den kleinen Zeh deines linken Fußes, dann wird das Kalb keinen Schritt von deiner Seite weichen, gleichviel ob du gehst, stehst oder liegst.« Darauf ging das Mädchen fort, und der Königssohn legte sich schlafen, aber es ärgerte ihn, daß er wieder vergessen hatte, für den guten Rath zu danken.
Den andern Morgen that er pünktlich, was ihm das gute Mädchen vorgeschrieben hatte, und führte das Kalb an dem seidenen Faden auf die Weide, wo es, wie ein treues Hündlein, keinen Schritt von seiner Seite wich. Bei Sonnenuntergang führte er es wieder in den Stall, als ihm der Wirth auch schon entgegenkam und mit zornfunkelndem Blick fragte: »Bist du selber so klug, oder hast du kluge Rathgeber?« Der Königssohn erwiederte: »Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen mächtigen Gott im Himmel.« Wieder ging der Alte wüthend davon, und der Königssohn glaubte nun darüber im Reinen zu sein, daß die Nennung des göttlichen Namens den alten Burschen jedesmal in Harnisch brachte.
Spät Abends ging er wieder zum Wirth, um dessen Befehle für den folgenden Tag einzuholen. Der Wirth gab ihm ein Säckchen mit Gerste und sagte: »Morgen hast du einen Feiertag und kannst ausschlafen, aber dafür mußt du dich heute Nacht brav rühren. Säe mir sogleich diese Gerste aus, sie wird rasch wachsen und reifen; dann schneidest du sie, drischst sie und windigest sie, so daß du sie mälzen und mahlen kannst. Aus dem erhaltenen Malzmehl mußt du mir Bier brauen, und morgen früh, wenn ich erwache, mir eine Kanne frischen Biers zum Morgentrunk bringen. Hab‘ Acht, daß meine Befehle genau befolgt werden, sonst könntest du leicht das Leben einbüßen.«
Niedergeschlagen, mit sorgenschwerem Herzen verließ der Königssohn das Gemach, blieb draußen stehen und weinte bitterlich. Er sprach zu sich selbst: »Die heutige Nacht ist meine letzte, solch‘ eine Arbeit kann kein Sterblicher vollbringen, und ebensowenig kann mir des klugen Mädchens Rath hier helfen. O ich unglückseliges Geschöpf! warum habe ich leichtsinnig das Königsschloß verlassen und mich in Gefahren verstrickt. Nicht einmal den Sternen des Himmels kann ich mein bitteres Leid klagen, denn hier sieht man weder Himmel noch Sterne, doch haben wir einen Gott, der überall ist.« Als er mit seinem Gerstensäcklein dastand, öffnete sich die Hausthür und das liebe Mädchen trat zu ihm heraus. Sie fragte, was ihn so betrübe, und der Jüngling antwortete mit Thränen in den Augen: »Ach, meine letzte Stunde ist gekommen, wir müssen auf immer scheiden. Vernimm denn noch Alles, ehe ich scheide: ich bin eines mächtigen Königs einziger Sohn, dem der Vater einst ein großes Reich hinterlassen sollte; aber nun ist Alles hin, Glück und Hoffnung.« Dann erzählte er ihr unter häufigen Thränen, was für eine Arbeit der Wirth ihm für die Nacht aufgegeben habe, aber es verdroß ihn, zu sehen, daß das Mädchen sich aus seiner Betrübniß nicht viel machte. Als er endlich seinen langen Bericht geschlossen hatte, sagte die Jungfrau lachend: »Heute Nacht kannst du denn, mein lieber Königssohn, ganz ruhig schlafen, und morgen den ganzen Tag feiern. Merke genau auf meinen Rath und verschmähe ihn nicht, weil er aus dem Munde einer niedrig geborenen Magd kommt. Nimm diesen kleinen Schlüssel, er schließt den dritten Faselstall auf, worin des Alten dienende Geister wohnen. Wirf den Gerstensack in den Stall und schärfe ihnen Wort für Wort den Befehl ein, den dir der Wirth für die Nacht gegeben hat; füge aber hinzu: Wenn ihr ein Haar breit von meiner Vorschrift abweicht, so müßt ihr allesammt sterben; solltet ihr aber Hülfe brauchen, so wird heut‘ Nacht die Thür des siebenten Stalles offen stehen, in welchem des Wirths mächtigste Geister wohnen.«
Der Königssohn richtete Alles nach Vorschrift aus, und legte sich schlafen. Als er am folgenden Morgen aufwachte und in der Brauküche nachsah, fand er die Bierkufen in voller Gährung, so daß der Schaum über den Rand floß. Er kostete das Bier, füllte dann eine große Kanne mit dem schäumenden Trank an, und brachte sie dem Wirthe, der sich eben auf seinem Lager aufrichtete. Aber statt des erwarteten Dankes sagte der Wirth ungehalten: »Das kommt nicht aus deinem Kopfe! Ich merke, du hast gute Freunde und Rathgeber gefunden. Schon gut, heut‘ Abend wollen wir weiter sprechen.«
Am Abend sagte der Alte: »Morgen habe ich dir keine Arbeit aufzutragen, du mußt nur, wenn ich erwache, vor mein Bett treten, und mir zum Gruße die Hand reichen.« Der Königssohn spottete innerlich über des Alten wunderliche Grille, und lachend setzte er das Mädchen davon in Kenntniß. Dieses aber wurde sehr ernst und sagte: »Wahre deine Haut! Der Alte will dich morgen früh auffressen. Nur Eins kann dich retten. Du mußt eine eiserne Schaufel im Ofen rothglühend machen, und ihm statt deiner Hand das glühende Eisen zum Morgengruß darbieten.« Damit eilte sie davon, und der Königssohn ging zu Bette. Am Morgen hatte er die Schaufel schon rothglühend gemacht, ehe noch der alte Bursche aufwachte. Endlich hörte er ihn rufen: »Fauler Knecht, wo bleibst du? komm‘ und grüße!« Als darauf der Königssohn mit der glühenden Schaufel eintrat, rief der Alte ihm mit kläglicher Stimme zu: »Ich bin heute sehr krank und kann deine Hand nicht fassen. Aber komm‘ heute Abend wieder, damit ich dir meine Befehle geben kann.«
Der Königssohn schlenderte nun den ganzen Tag umher, und ging dann am Abend zum Wirth, um sich von ihm die Arbeit für den folgenden Tag auftragen zu lassen. Der Wirth war sehr freundlich und sagte schmunzelnd: »Ich bin mit dir sehr zufrieden! komm Morgen früh mit dem Mädchen zu mir, ich weiß, daß ihr euch schon längst lieb habt, und will euch als Mann und Frau zusammengeben!«
Der Königssohn hätte vor Freude jauchzen und in die Höhe springen mögen, aber glücklicher Weise fiel ihm noch zu rechter Zeit die strenge Hausordnung ein, deßhalb blieb er ruhig. Als er vor Schlafengehen der Geliebten von seinem Glücke erzählte und von ihr eine gleiche Freude erwartete, sah er zu seinem großen Erstaunen, daß das Mädchen vor Schrecken bleich wurde wie eine getünchte Wand, und ihr die Zunge wie gelähmt war. Als sie sich wieder erholt hatte, sagte sie: »Der alte Bursche ist dahinter gekommen, daß ich deine Rathgeberin gewesen bin, und will uns Beide verderben. Wir müssen noch diese Nacht die Flucht ergreifen, sonst sind wir verloren. Nimm ein Beil, geh‘ in den Stall und schlage dem weißköpfigen Kalbe mit einem kräftigen Hiebe den Kopf ab, mit einem zweiten Hiebe spalte den Schädel entzwei. Im Hirn des Kalbes findest du ein glänzend rothes Knäulchen, das bringe mir, Alles was sonst nöthig ist, werde ich selbst besorgen.« Der Königssohn dachte: »lieber tödte ich ein unschuldiges Kalb, als daß ich mich selbst und das liebe Mädchen umbringen lasse; gelingt uns die Flucht, so sehe ich meine Heimath wieder. Die Erbsen, welche ich ausstreute, müssen jetzt aufgegangen sein, so daß wir den Weg nicht verfehlen werden.«
Darauf ging er in den Stall. Die Kuh lag neben dem Kalbe hingestreckt, und beide schliefen so fest, daß sie ihn nicht kommen hörten. Als er aber dem Kalbe den Kopf abhieb, stöhnte die Kuh so schauerlich, als hätte sie einen schweren Traum. Rasch führte er den zweiten Hieb, der den Schädel spaltete. Siehe! da wurde der Stall plötzlich hell, wie am Tage. Das rothe Knäulchen fiel aus dem Gehirn heraus und leuchtete wie eine kleine Sonne. Der Königssohn wickelte das Knäulchen behutsam in ein Tuch und steckte es in seinen Busen. Es war ein Glück, daß die Kuh nicht aufwachte, sonst hätte sie angefangen zu brüllen, und dadurch hätte auch der Wirth geweckt werden können.
An der Pforte fand der Königssohn das Mädchen schon reisefertig, ein Bündelchen am Arme. »Wo ist dein Knäulchen?« fragte sie. »Hier!« antwortete der Jüngling, und gab es ihr. »Wir müssen schnell fliehen!« sagte sie, und wickelte einen kleinen Theil des Knäulchens aus dem Tuche heraus, damit der leuchtende Schein gleich einer Laterne das nächtliche Dunkel ihres Pfades erhelle. Die Erbsen waren, wie der Königssohn vermuthet hatte, alle aufgegangen, so daß sie sicher waren, den Weg nicht zu verfehlen. Unterwegs erzählte ihm die Jungfrau, daß sie einmal ein Gespräch zwischen dem Alten und seiner Großmutter belauscht und daraus erfahren habe, daß sie eine Königstochter sei, welche der alte Bursche ihren Eltern mit List abgenommen habe. Der Königssohn wußte freilich die Sache besser, schwieg aber und war nur von Herzen froh, daß es ihm gelungen war, das arme Mädchen zu befreien. So mochten die Wanderer eine gute Strecke zurückgelegt haben, als es begann zu tagen.
Der alte Bursche erwachte erst spät am Morgen und rieb sich lange die Augen, bis der Schlaf abfiel, dann weidete er sich im Voraus an dem Gedanken, daß er die Beiden bald verzehren würde. Nachdem er ziemlich lange auf sie gewartet hatte, sagte er für sich: »Sie sind wohl noch nicht mit ihrem Hochzeitsstaat fertig!« Als ihm aber das Warten doch zu lange dauerte, rief er: »Knecht und Magd, he! wo bleibt ihr?« Fluchend und schreiend wiederholte er den Ruf noch einige Mal, aber weder Knecht noch Magd ließen sich sehen. Endlich kletterte er zornig aus dem Bette und ging die Säumigen zu suchen. Aber er fand das Haus menschenleer, und bemerkte auch, daß diese Nacht die Lagerstätten unberührt geblieben waren. Jetzt stürzte er in den Stall … als er hier das Kalb getödtet und das Zauberknäulchen entwendet fand, begriff er Alles. Er fluchte, daß Alles schwarz wurde, öffnete rasch den dritten Geisterstall und schickte seine Gehülfen aus, die Entflohenen zu suchen. »Bringt sie mir, wie ihr sie findet, ich muß ihrer habhaft werden!« So sprach der alte Bursche und seine Geister stoben wie der Wind davon.
Die Flüchtlinge befanden sich gerade auf einer großen Fläche, als das Mädchen den Schritt anhielt und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein sollte. Das Knäulchen bewegt sich in meiner Hand, gewiß werden wir verfolgt!« Als sie hinter sich sahen, erblickten sie eine schwarze Wolke, welche mit großer Geschwindigkeit näher kam. Das Mädchen drehte das Knäulchen dreimal in der Hand um und sprach:

»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
Würde gern alsbald zum Bächlein,
Mein Gefährte auch zum Fischlein!«

Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen floß als Bächlein dahin, und der Königssohn schwamm als Fischlein im Wasser. Die Geister sausten vorüber, kehrten nach einer Weile um, und flogen wieder heim, aber Bächlein und Fischlein ließen sie unangetastet. Sobald die Verfolger fort waren, verwandelte sich das Bächlein wieder in ein Mädchen und machte das Fischlein zum Jüngling, und dann setzten sie in menschlicher Gestalt ihre Reise fort.
Als die Geister müde und mit leeren Händen zurückkehrten, fragte sie der alte Bursche, ob ihnen denn beim Suchen nichts Besonderes aufgefallen wäre? »Gar nichts!« war die Antwort: »nur ein Bächlein floß in der Ebene, und ein einziges Fischlein schwamm darin.« Wüthend brüllte der Alte: »Schafsköpfe! Das waren sie ja, das waren sie ja!« Schnell riß er die Thüren des fünften Stalles auf, ließ die Geister heraus und befahl ihnen, des Bächleins Wasser auszutrinken und das Fischlein zu fangen. Die Geister stoben wie der Wind von dannen.
Unsere Wanderer näherten sich eben dem Saum eines Waldes, da blieb das Mädchen stehen und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein soll. Das Knäulchen bewegt sich wieder in meiner Hand.« Als sie sich umsahen, erblickten sie abermals eine Wolke am Himmel, dunkler als die erste und mit rothen Rändern. »Das sind unsere Verfolger!« rief die Jungfrau und drehte das Knäulchen dreimal in der Hand um, indem sie sprach:

»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
Wandele uns alle Beide:
Mich zum wilden Rosenstrauche,
Ihn zur Blüthe an dem Strauche.«

Augenblicklich waren sie verwandelt. Aus dem Mädchen ward ein wilder Rosenstrauch, und der Jüngling hing als Rose am Stock. Sausend zogen die Geister über ihnen hin und kehrten erst nach einer guten Weile wieder um; da sie weder Bächlein noch Fischlein gefunden hatten, kümmerten sie sich nicht um den Rosenstrauch. Sobald die Verfolger vorüber waren, verwandelten sich Strauch und Blume wieder in Mädchen und Jüngling, welche nach der kurzen Ruhe rasch weiter eilten.
»Habt ihr sie gefunden?« fragte der Alte, als er seine Gesellen keuchend wiederkehren sah. »Nein,« antwortete der Anführer der Geister: »wir fanden weder Bächlein noch Fischlein in der Ebene.« »Habt ihr denn sonst nichts Besonderes unterwegs gesehen?« fuhr der Alte auf. Der Anführer antwortete: »Dicht am Saume des Waldes stand ein wilder Rosenstrauch, an dem eine Rose hing.« »Schafsköpfe!« schrie der Alte, »das waren sie ja, das waren sie ja!« Er schloß darauf den siebenten Stall auf und schickte seine mächtigsten Geister aus, sie zu suchen. »Bringt sie mir, wie ihr sie findet, todt oder lebendig! ich muß ihrer habhaft werden. Reißt den verfluchten Rosenstrauch mit den Wurzeln heraus, und nehmt Alles mit, was euch Befremdliches aufstößt.« Wie der Sturmwind flogen die Geister davon.
Die Flüchtlinge ruhten eben im Schatten eines Waldes aus, und stärkten die ermüdeten Glieder durch Speise und Trank. Plötzlich rief das Mädchen: »Alles ist nicht, wie es sein soll; das Knäulchen will mit Gewalt aus meinem Busen. Gewiß verfolgt man uns wieder, und die Gefahr ist nahe, aber der Wald verbirgt uns unsere Feinde noch.« Dann nahm sie das Knäulchen aus dem Busen, drehte es dreimal in der Hand herum und sprach:

»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
Mache mich alsbald zum Lüftchen,
Den Gefährten mein zum Mücklein!«

Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen löste sich in Luft auf, der Königssohn aber schwebte darin als Mücklein. Die mächtige Geisterschaar brauste wie ein Sturm über sie hin, und kehrte nach einiger Zeit wieder um, weil sie weder einen Rosenstrauch noch sonst etwas Befremdliches gefunden hatten. Aber kaum waren die Geister vorüber, so verwandelte der Lufthauch sich wieder in das Mädchen, und machte aus der Mücke den Jüngling. »Jetzt müssen wir eilen,« rief das Holdchen, »bevor der Alte selber kommt zu suchen – der wird uns in jeder Verwandlung erkennen.«
Sie liefen nun eine gute Strecke vorwärts, bis sie den dunklen Gang erreichten, in welchem sie bei dem hellen Schein des Knäulchens ungehindert emporstiegen. Erschöpft und athemlos kamen sie endlich an den großen Stein. Hier wurde das Knäulchen wiederum dreimal gedreht, wobei die kluge Jungfrau sprach:

»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
Laß den Stein empor sich heben,
Eine Pforte sich bereiten!«

Augenblicklich hob sich der Stein weg, und sie waren glücklich wieder auf der Erde. »Gott sei Dank!« rief das Mädchen aus: »wir sind gerettet. Hier hat der alte Bursche keine Macht mehr über uns, und vor seiner List wollen wir uns hüten. Aber jetzt, Freund, müssen wir uns trennen! Du gehst zu deinen Eltern, und ich will die meinigen aufsuchen.« – »Mit nichten,« erwiederte der Königssohn: »ich kann mich nicht mehr von dir trennen, du mußt mit mir kommen und mein Weib werden. Du hast Leidenstage mit mir ertragen, darum ist es billig, daß du nun auch Freudentage mit mir theilst.« Zwar sträubte sich das Mädchen Anfangs, aber endlich ging sie doch mit dem Jüngling.
Im Walde trafen sie einen Holzhacker, von dem sie erfuhren, daß im Schlosse, wie im ganzen Lande, große Trauer herrsche über das unbegreifliche Verschwinden des Königssohnes, von dem seit Jahren jede Spur verloren sei. Mit Hülfe des Zauberknäulchens schaffte das Mädchen dem heimkehrenden Sohne seine früheren Kleider wieder, damit er vor seinem Vater erscheinen könne. Sie selbst aber blieb einstweilen in einer Bauernhütte zurück, bis der Königssohn Alles mit seinem Vater besprochen hätte.
Aber der alte König war noch vor dem Eintreffen seines Sohnes dahin geschieden: der Kummer über den Verlust des einzigen Sohnes hatte sein Ende beschleunigt. Noch auf seinem Todbette hatte er sein leichtsinniges Versprechen und seinen Betrug bereut, daß er dem alten Burschen ein armes unschuldiges Mädchen überlieferte, wofür Gott ihn durch den Verlust des Sohnes gezüchtigt habe. Der Königssohn beweinte, wie es einem guten Sohne geziemt, den Tod seines Vaters und ließ ihn mit großen Ehren bestatten. Dann trauerte er drei Tage, ohne Speise und Trank zu sich zu nehmen. Am vierten Morgen aber zeigte er sich dem Volke als neuer Herrscher, versammelte seine Räthe und theilte ihnen mit, was für wunderbare Dinge er in des alten Burschen Behausung gesehen und ertragen habe, vergaß auch nicht zu erzählen, wie die kluge Jungfrau seine Lebensretterin geworden.
Da riefen die Räthe wie aus einem Munde: »Sie muß eure Gemahlin und unsere Herrscherin werden!«
Als der junge König sich nun aufmachte, um seine Braut einzuholen, erstaunte er sehr, als ihm die Jungfrau in königlicher Pracht entgegenkam. Mit Hülfe des Zauberknäulchens hatte sie sich alles Nöthige verschafft, weßhalb auch das ganze Land glaubte, daß sie die Tochter eines unermeßlich reichen Königs und aus fernen Landen gekommen sei. Darauf wurde die Hochzeit ausgerichtet, welche vier Wochen dauerte, und sie lebten darnach glücklich und zufrieden noch manches liebe Jahr.

[Estland: Friedrich Reinhold Kreutzwald: Ehstnische Märchen]

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