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Märchenbasar

Der etwas andere Drache

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Irgendwo und irgendwann lebte ein einsamer Drache namens Eugenius. Er unterschied sich sehr von den anderen Drachen, konnte weder fliegen noch Feuer speien. Natürlich hätte er diese Fähigkeiten erlernen können, doch er fand keinen Gefallen daran und es lag auch nicht wirklich in seinem Naturell. Lieber saß er in der Höhle und hörte den wilden Drachen zu, wie sie von Abenteuern erzählten. Täglich flogen sie aus, um Burgen zu überfallen, Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen oder Prinzessinnen zu entführen.
Seit Eugenius zu ihnen gekommen war, wurde er ausgelacht und verspottet. So lebte er nun in der riesigen Höhle und versuchte kein großes Aufsehen zu erregen, bis eines schönen Tages die wilden Drachen mit einer wunderschönen Prinzessin zurückgeflogen kamen und sie in einen Käfig sperrten. Schon lange hatten sie kein menschliches Wesen mehr mitgebracht und freuten sich umso mehr über ihre wertvolle Beute. Alle versammelten sich um die Königstochter, welche verängstigt und zusammengekauert in ihrem Käfig hockte.
Der Lärm lockte auch Eugenius aus seinem Winkel. Angestrengt versuchte er zu erkennen, was es da drüben zu bestaunen gab. Er traute seinen Augen nicht. Selten hatte er ein so hübsches Mädchen gesehen. Es hatte lange, blonde Locken und trug ein goldenes Krönchen auf dem Kopf. Eugenius Herz klopfte wild. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was die Wilden mit der Prinzessin vorhatten und musste ihr helfen. Also schmiedete er einen Plan. Mutig schritt er vor und rief: „Habt ihr schon die Schreckensnachricht erhalten?“
Sofort drehten sich alle nach Eugenius um.
„Als ihr auf Beutezug ward, kam ein Bote vorbei und überbrachte eine Botschaft. Tausende von feindlichen Drachen seien im Anmarsch! Sie wollen unser Land erobern!“, log Eugenius.
Wie erschraken da die anderen Drachen. Der Anführer der Horde befahl: „Schnell, wir müssen uns in Sicherheit bringen! Gegen so viele können wir nichts ausrichten!“
Die Horde der wilden Drachen machte sich auf den Weg zu einem geheimen Versteck in der Nähe des hohen Drachenberges. Nur Eugenius hatte keine Eile fortzukommen.
In der Aufregung vergaßen die wilden Drachen die Prinzessin mitzunehmen. Eugenius‘ Plan war geglückt. Er befreite sie aus dem Käfig und hieß sie auf seinen Rücken steigen. Anfangs fürchtete sich die Königstochter, doch er redete ihr gut zu und allmählich fasste sie Vertrauen und merkte, dass es ein guter Drache war, der ihr helfen wollte.

Die beiden hatten einen langen Weg vor sich. Zuerst mussten sie das weite Land durchqueren. In diesem Moment wünschte sich Eugenius, dass er wenigstens das Fliegen hätte erlernen können. Der Drache und die Königstochter waren viele Tage und viele Nächte unterwegs, bis sie endlich die Grenze des Drachenlandes überschritten und ins Reich von König Anton dem Großartigen gelangten. Von da an war es leicht zum Schloss der Prinzessin zu gelangen.
Der König hatte nämlich an jeden zweiten Baum in seinem Königreich ein Pergament befestigen lassen, worauf geschrieben stand:

Prinzessin entführt!
Derjenige, der Prinzessin Brunhilda gesund zurückbringt, soll sie zur Gemahlin bekommen!
Gezeichnet: Euer erlauchtigster und gnädigster König Anton der Großartige.

Als Eugenius dies las, begannen seine Augen zu glänzen. Seit er die Prinzessin erblickte, hatte er sich stehender Kralle in sie verliebt.
Doch er hatte sich zu früh gefreut. Der König war keineswegs begeistert, als Eugenius mit seiner Tochter das Schloss betrat. Er holte sogar die Wache herbei, die den Drachen töten sollten.
Prinzessin Brunhilda trat vor Eugenius und rief: „Halt! Tut dem Drachen nichts. Er ist ein guter Drache. Er hat mich befreit! Ohne ihn, wäre ich nicht hier.“
Damit hatte sie natürlich Recht. Also sollte ihm gnädigerweise das Leben gelassen werden, doch sollte er von dannen ziehen.
Eugenius gab sich damit nicht zufrieden, hatte er doch auf dem Weg hierher des Königs Botschaft gelesen und fragte zornig: „Was ist mit der Belohnung, die Ihr versprochen habt?“
Der König hob seine Augenbrauen und flötete von seinem Thron herab: „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich meine Tochter einem Drachen zur Frau gebe?“
Eugenius war nun unausweichlich dem König eine Erklärung schuldig, räusperte sich und sagte: „Herr König! Ich bin eigentlich kein Drache. Ich bin ein Prinz!“
Anton wurde hellhörig, solcherlei Dinge geschahen wirklich dann und wann. Doch er wollte den Worten des Drachen nicht glauben. Misstrauisch entgegnete er: „Na gut! Möglich wäre das schon. Beweise mir, dass du ein Mensch bist, denn nur ein Mensch kann Rätsel lösen. Drei will ich dir stellen. Einverstanden?“
Eugenius war einverstanden und der König begann: „Was ist am Tage golden, in der Dämmerung rotgühend, brennend heiß, kann mit Wasser jedoch nicht gelöscht werden?“
Der Drache überlegte und gab zur Antwort: „Eure Majestät! Es handelt sich um die goldene Sonne, die am Tage vom Himmel hell erstrahlt, wenn sie untergeht wie ein Feuerball erglüht und uns oft zum Schwitzen bringt! Und hat man je gehört, dass einer versucht hätte, die Glut der Sonne mit Wasser zu löschen?“

Eugenius lachte, und die Umstehenden fielen in sein Lachen ein.
Der König versuchte, seinen Ärger zu verbergen und fuhr fort: „Was hat einen schöneren Schweif als ein Pfau, schnellt silbern durch den Nachthimmel, landet aber nie auf der Erde um auszuruhen?“
Wieder dachte Eugenius angestrengt und kam zum Ergebnis: „Das kann nur eine Sternschnuppe sein! Jede Nacht lag ich vor meiner Höhle, um den wunderschönen Himmel mit den Gestirnen zu bewundern. Dabei habe ich oft Sternschnuppen beobachtet, aber nie gesehen, dass sie Mutter Erde berührten.“
Mit feuerrotem Gesicht setzte der König zum letzten Rätsel an: „Was ist für einen König wie mich das Wichtigste auf der Welt?“
Das konnte alles und nichts sein. Lange grübelte Eugenius nach und sagte dann: „Silber, Gold und Edelsteine sind für einen König ein wahrer Schatz. Doch Euer allergrößter Schatz ist Prinzessin Brunhilda. Auch mein Herz hat sie mit ihrer Schönheit erobert.“
Nun wurde Prinzessin Brunhilda rot, aber nicht vor Zorn, sondern weil ein zärtliches Gefühl ihren schmalen Körper durchrieselte. Sie hatte sich tatsächlich in Eugenius liebevolles Wesen und seine warme Stimme verliebt.
Dem König blieb also nichts anderes übrig, als seine über alles geliebte Tochter dem Drachen zur Frau zu geben.
Ein großes Hochzeitsfest wurde ausgerichtet. Und in jenem Moment, in dem die Prinzessin den Drachen küsste, gab es einen riesigen Knall und alle umgab tiefe Finsternis, die jedoch schnell wieder dem Licht wich. Prinzessin Brunhilda konnte ihren Augen kaum trauen. Vor ihr stand der schönste Prinz, den sie je gesehen hatte: Prinz Eugenius von Schloss Funkelstein. Noch einmal küsste sich das Brautpaar, so, wie es glückliche Menschen vor dem Traualtar zu tun pflegen. König Anton der Großartige konnte seine Freude nicht unterdrücken und tupfte geziert ein Tränchen aus dem rechten Auge.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich und zufrieden auf Schloss Funkelstein.

Quelle: Carmen Kofler

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