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Der fliegende Teppich

3.2
(9)

Vor unendlich langer Zeit, als die Menschen noch Träume hatten, lebte einst die bescheidene Adele zusammen mit ihrem Sohn Gottfried in einer kleinen Hütte am Waldesrand. Seinen Namen machte sie sich zu ihrer Lebenseinstellung: Solange sie an Gott glaubte und in Frieden lebte, wollte sie sich nicht beklagen.
Eines schönen Tages schickte Adele ihren Sohn in den Wald, um Holz zu sammeln. Wie Gottfried so an seiner Wasserflasche nippte, dabei in den Himmel schaute und wie immer vor sich hinträumte, sah er einen bunten Teppich in einer Baumkrone hängen.
Hurtig kletterte der Bursche hinauf, um den Gegenstand näher zu betrachten. Wie schön er wirkte mit seinen leuchtenden Farben und dem gewebten Muster. „Darüber wird sich Mutter bestimmt freuen!“, dachte Gottfried, rüttelte am Teppich und nach einiger Mühe glitt er gleich einem bunten, schwebenden Vogel sachte nach unten. Als auch Gottfried selbst wieder heil auf dem Boden angekommen war, rollte er das gute Stück geschickt zusammen und trug es auf den Schultern nach Hause. Seine Mutter wunderte sich sehr, als er anstelle eines Korbes voll Holz mit einem Teppich ankam und zeterte: „Ach, was bist du nur für ein Träumer! Soll ich damit etwa das Essen kochen?“ Gottfried fasste sich an die Stirn: „Was bin ich nur für ein Dummkopf! Vor lauter Aufregung habe ich das Holz vergessen. Aber sieh nur, ist das nicht ein Prachtstück? Damit wirkt unsere Hütte gleich viel freundlicher und gemütlicher!“
Adele schüttelte den Kopf, rollte das Geschenk zusammen und legte es ihrem Sohn wieder auf die Schultern. „Bring den Teppich dorthin zurück, wo du ihn gefunden hast! Er gehört nicht uns. Gewiss wird man schon danach suchen!“
Beschämt und traurig trottete Gottfried zur Tür hinaus, während ihm seine Mutter nachschrie: „Und vergiss nicht, Holz mit nach Hause zu bringen!“

Gehorsam marschierte der Bursche erneut in den Wald. Weil er aber keine Lust hatte, abermals auf den hohen Baum zu klettern, träumte er vor sich hin: „Wie schön wäre es, wenn der Teppich fliegen könnte?“ Ohne weiter nachzudenken rief er übermütig: „Flieg Teppich, flieg!“
Gottfried erstarrte, als sich plötzlich der Teppich von seinen Schultern erhob und durch die Luft segelte. Er flog höher und immer höher, sodass ihm vom bloßen Zusehen ganz schwindlig wurde. Sicherlich gab es ein Zauberwort, welches den Teppich zum Stillstand brächte. Aber welches? Der Bursche probierte dies und jenes, doch kein Wort ließ das Wunderding zur Ruhe kommen.
Unverhofft ertönte eine tiefe Stimme: „Sag dreimal: Teppich ruh!“
Gottfried drehte sich nach allen Seiten um, konnte aber niemanden erkennen.
„Du kannst mich nicht sehen, aber ich bin da!“, antwortete die Stimme. „Ich bin ein Baumgeist! Der Teppich gehört dem, der ihn gut zu behandeln und benutzen weiß!“
Der Bursche staunte nicht schlecht. Sollte das gar eine Einladung sein, das gute Stück zu gebrauchen? Schnell waren die Worte gesprochen und das Wunderding lag zu seinen Füßen. Gottfried legte sich vorsichtig der Länge nach darauf, hielt sich an den weichen Troddeln fest, die den Rand ringsherum säumten und rief wiederum: „Flieg Teppich, flieg! Trag mich einmal um die ganze Welt!“
Schon flog er durch die Lüfte. Anfangs war ihm ganz flau im Magen, doch allmählich entspannte er sich und fand es schließlich sogar recht angenehm. Es dauerte nicht lange, bis es Gottfried gelang, das Zauberding zu steuern, indem er einfach nur rechts oder links an den Troddeln zog. Wie oft hatte er von einer Reise um die Welt geträumt, und jetzt sollte sein Wunsch in Erfüllung gehen. Mutter und Holz waren vergessen und lagen in weiter Ferne.
Der Teppich flog mit ihm über Wiesen und Felder, erhob sich über Berge, segelte über das Meer und hinterließ einen goldenen Staubschweif.
Die Menschen blickten erstaunt zu Gottfried empor und wussten nicht, wie das gehen konnte. So mancher beneidete ihn um sein Gefährt. Kaum landete er mal hier mal da auf der Erde, versuchte so mancher, ihm den Teppich abzukaufen. Doch nicht für alles Geld der Welt wäre Gottfried einen Handel eingegangen.

Einmal übernachtete er in einem Wirtshaus. Ohne lange zu überlegen, verstaute er den kostbaren Teppich unter dem Bett. Nachts, als der Bursche tief und fest schlief, schlich sich der habgierige Wirt heimlich in sein Zimmer, um das Wunderding gegen einen anderen, ähnlichen Teppich auszutauschen.
Am nächsten Morgen holte Gottfried nichtsahnend und gutgelaunt seinen Zauberteppich hervor. Doch so oft er auch rief: „Flieg Teppich, flieg!“ Er gehorchte nicht. Der Junge erkannte sehr bald, dass er bestohlen worden war. Also setzte er traurig seinen Weg zu Fuß fort. Was sollte er schon gegen einen Räuber ausrichten? Und wer hat ihn überhaupt bestohlen? So in Gedanken versunken, huschte auf einmal etwas an ihm vorüber. Es war sein fliegender Teppich, auf dem saß der Wirt. Natürlich erkannte Gottfried sein Eigentum wieder. Der Wirt hatte die Unverschämtheit besessen, sich das Wunderding unter den Nagel zu reißen. Nun flog er durch die Lüfte und winkte dem Jungen schadenfroh grinsend zu.
„Warte nur, dir wird das Lachen schon vergehen!“, drohte Gottfried und zeigte ihm die Faust.
In jenem Moment, als der Wirt recht hoch oben war, schrie der Junge aus Leibeskräften: „Teppich ruh! Teppich ruh! Teppich ruh!“
Was dann passierte, war für Gottfried ein schadenfrohes Vergnügen. Als hätte der Teppich nur darauf gewartet, drehte er sich um und der Wirt plumpste mit einem furchtbaren Knall zu Boden. Er schrie vor Schmerzen laut auf, rieb sich jammernd seinen Allerwertesten und trollte sich wütend davon. Gottfried lachte aus vollem Halse über die fette, davonhumpelnde Jammergestalt. Inzwischen lag sein Teppich brav vor ihm auf der Erde und wedelte mit seinen Troddeln, als ob er mitlachen wollte.

Die nächste Reise führte Gottfried an einen wunderschönen See. Während er sich ein kühles Bad gönnte, pirschten sich drei Diebe an den Teppich heran. Flink wickelten sie ihr Diebesgut darin ein, um es besser tragen zu können. Gottfried erspähte sie rechtzeitig, duckte sich ins Schilf und wartete belustigt, bis die Räuberlein fertig waren. Dann flüsterte er: „Flieg Teppich, flieg!“
Das Zauberding flog aufs Wort empor. Die Langfinger machten erst ein verdutztes Gesicht, dann jammerten und lamentierten sie, doch es half alles nichts, ihre Beute schien verloren. Mit hängenden Schultern und langen Gesichtern zogen sie davon.
Kurz darauf kehrte der Teppich auf Zuruf zu seinem Herrn zurück. Dieser setzte sich darauf und fand, dass es an der Zeit sei, nach Hause zurückzukehren.
Nur noch einmal wollte Gottfried die fremde Landschaft rings um ihn herum betrachten und in seinen Gedanken festhalten.
Wie er so auf seinem Teppich im Schatten einer alten Weide saß, kam ein erschöpftes, aber wunderschönes Mädchen vorbei und fragte, ob es sich wohl kurz zu ihm setzen dürfte, denn die Sonne stand hoch am Himmel, es war glühend heiß. Gottfried lud es freundlich ein, Platz zu nehmen und reichte ihr lächelnd sogar seine Wasserflasche. Die beiden verstanden sich auf Anhieb. Ein Wort gab das andere und die Zeit verstrich wie im Flug.
Schließlich sagte Gottfried zum Mädchen: „Hast du Lust, mich auf meinem Lebensweg zu begleiten?“
Das Mädchen nickte, ihre Augen strahlten.
„Dann halt dich fest!“, forderte er es auf und rief: „Flieg Teppich, flieg!“
Jetzt steuerte das Zauberding geradewegs auf sein Zuhause zu.

Wie glücklich war Adele, als ihr Sohn zur Tür hereinkam. Seinetwegen hatte sie große Ängste ausgestanden. Der Bursche erzählte ihr von seinen abenteuerlichen Reisen und vom fliegenden Teppich, der ihm stets ein treuer Begleiter gewesen war und ihm obendrein zu Reichtum und Liebe verholfen hatte.
Da Gottfried nun wunschlos glücklich war, brachte er den Teppich am nächsten Tag zum Baum zurück. Der Baumgeist war es zufrieden, nahm ihn wieder in seine Krone auf und wartete auf den nächsten Träumer.

Quelle: Carmen Kofler

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