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Märchenbasar

Der Flügelschlag des Schmetterlings

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Es war einmal ein böser Raubritter, der lebte auf seiner uneinnehmbaren Trutzburg, von der er das ganze Tal überwachte. Sie war aus grauen, schweren Steinen gebaut. Von den hohen Zinnen beobachtete der Raubritter alle Reisende, die des Weges kamen.
Er war berüchtigt im ganzen Land. Und überall wo sein mächtiger, geharnischter Rappen auftauchte, säte er Furcht und Schrecken. Selbst der König traute sich nicht, ohne Begleitung durch das Tal der Trutzburg zu reisen.
Die einzige Person, die nicht Angst vor ihm hatte, war seine Tochter. Aber ihr Vater beachtete sich auch nicht weiter. Sie lebten in derselben Burg, sprachen aber kein Wort miteinander seit dem Tod der Frau des Raubritters.

Nicht weit von der Trutzburg des Raubritters lebte ein alter Graf in einem kleinen Schloss. Er hatte einen Sohn.
„Ein Taugenichts“, beklagte sich der Alte.
Das stimmte nicht. Aber der Junge interessierte sich nicht für Pferde, Ritterspiele oder die sonstigen Aufgaben eines Grafensohns.
Er saß meist allein im Gras auf einem Feld und spielte auf seiner Laute. Er übte morgens, mittags und abends auf ihr. Er spielte sie gut. Die Feldmäuse hörten auf zu knabbern; die Maulwürfe hielten ein beim Tunnelbau; die Rotkehlchen verstummten; die Bienen summten nicht; die Schmetterlinge erstarrten vor Bewunderung in ihrem Flügelschlag. Alle hörten ihm andächtig zu. So schön spielte er.
Sogar die kleine Wiesenfee hörte ihn von weitem und kam heran, um ihm zu lauschen.
„Bist du ein Zauberer?“, fragte sie.
„Nein“, antwortete der Grafensohn, „warum fragst du?“
„So schöne Weisen habe ich noch nie gehört. Deine Musik ist so stark, dass du die Natur zum Schweigen bringst.“

Doch Unheil kündigte sich an, als der Raubritter seine Mannen wieder zu einem Überfall rüsten ließ.
Diesmal hatte er sich die Burg des alten Grafen ausgesucht. Sie eroberten im Handstreich das schlecht geschützte Grafenschloss und steckten es in Brand.
„Räuber, Diebesgesellen, Gesetzeslose“, protestierte der alte Graf. Der Raubritter warf ihn zu Boden.
„Hahar“, lachte er, „altes, erbärmliches Männlein.“
Der junge Grafensohn kam herangelaufen; seine Laute in der Hand.
„Was willst du denn, Lautenspieler?“, höhnte der Raubritter. „Möchtest du uns ein Ständchen bringen? Los, spiel auf, Musikant!“
Und mit ihren Degen zwang er den Jungen zu spielen und zu singen.
Das war eine bittere Situation. Der alte Graf lag ohnmächtig im Dreck. Die Räuberbande hatte die Ersparnisse gestohlen. Das Schloss brannte prasselnd. Die Hofmagd und der Stallknecht weinten. Und jetzt sollte er dazu Musik machen.
Mühsam fing er an zu singen:
„Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.“
Doch die Räuber hörten ihm kaum zu, sondern schüttelten sich nur vor Lachen: „Alle Menschen werden Brüder! Schön gesungen, junger Freund!“
Sie stießen ihn in den Staub und verließen im Galopp das Grafenschloss.
Alles war hin, gestohlen und verbrannt. Der Graf und der Sohn hatten nichts mehr. Von nun an mussten sie in Armut leben.

Es vergingen Tage, Wochen, Monate und Jahre.
Der alte Graf starb, und der Junge wusste nicht, was er tun sollte.
Also band er sein Bündel und machte sich auf den Weg.
Sein Weg führte ihn zur Trutzburg des Raubritters. Er erkannte nicht sofort den Besitzer und klopfte am Burgtor.
Doch der Raubritter war nicht da.
Seine Tochter sah von ihrem Fenster den jungen Mann am Tor stehen und stieg auf die Zinnen.
„Was willst du, Fremder?“
„Etwas Brot und Wasser“, rief er der jungen hübschen Frau zu, die hoch über ihm auf der Burgmauer stand.
„Was gibst du mir im Austausch?“, fragte sie.
„Ich kann Euch ein Lied singen“, schlug der Grafensohn vor.
„Dann spiel auf!“
Und der Junge nahm seine Laute und begann sie zu streichen. Dazu sang er sein Lieblingslied:
„Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.“
Und die Wachsoldaten schauten zu ihm hin. Der Hund des Schmieds hörte auf zu bellen. Die Kühe auf der Weide schmatzten nicht mehr. Und die kleine Wiesenfee hörte von weitem die Musik ihres Schützlings.

Die Tochter des Raubritters gefiel die Musik des Troubadours gut und bat ihn, am nächsten Tag wiederzukommen.
Er kam wieder und spielte wieder. Und alle Tiere und Menschen hörten ihm zu. Auch seine Freundin, die Wiesenfee, kam wieder herbeigeeilt: „So schöne Weisen habe ich noch nie gehört. Seine Musik ist stärker als die Natur.“
Und auch die Tochter des Raubritters schloss den Spielmann in ihr Herzen.

Eines Abends kam der Raubritter mit seinen Gesellen von einem Beutezug auf die Burg zurück, und sie feierten ihre Räuberei mit einem großen Festmahl.
„Tochter, was willst du?“, sprach der angetrunkene Raubritter, als er seine Tochter in den Rittersaal eintrat. „Gold? Edelsteine? Schöne Gewänder? Dein Vater ist mächtiger als der König. Sprich deinen Wunsch aus, ich werde ihn dir erfüllen!“
„Ich will heiraten“, sagte sie.
„Was?“
„Ich weiß auch schon wen: Den Spielmann.“
Wütend setzte der Raubritter seinen Weinkelch ab: „Was? Den Habenichts? Wen du heiratest, bestimme ich!“ Und er schob sie weg: „Aus meinen Augen, undankbare Tochter!“
Der Raubritter ließ seine Tochter in ihrem Zimmer einsperren, weil er Angst hatte, dass sie tun würde, was sie angekündigt hatte.

Am nächsten Morgen kam der junge Mann wieder an die Zugbrücke der Raubritterburg, doch bevor er seine Angebetete rufen konnte, wurde von den Knappen des Raubritters festgenommen. Man nahm ihm die Laute weg und warf ihn in das tiefste Verließ der Raubritterburg.
Dort lag er nun, frierend, hungrig, traurig und verdurstend.
Was sollte er jetzt tun?
Um sich Mut zu machen, begann er zu singen:
„Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.“

Den Gesang hörten alle in der Burg, und selbst die kleine Wiesenfee hörte den Gesang von weitem. Sie kam herangeeilt und schaute verwundert durch eine Mauerloch tief in den Kerker: „Junger Freund, wer hat dich hier hinein geworfen?“
„Na wer schon, der böse Raubritter…“, murrte der Junge.
„Ich habe eine Idee“, meinte die kleine Wiesenfee hoffnungsvoll.
„Wie willst du mir helfen?“
„Mein Freund, der Schmetterling wird dir helfen“, erklärte die Wiesenfee.
„Ein Schmetterling?“
„Ja, vertrau mir“, meinte die kleine Wiesenfee und verschwand.

Es vergingen Tag und Nacht, und der Junge wurde immer hungriger und erkrankte aufgrund der Kälte und Feuchte. Hustend rief er nach draußen: „Wiesenfee, Wiesenfee! Denk an dein Versprechen!“
Doch der Junge kannte die Wiesenfee schlecht. Längst war das Schicksal des Raubritters besiegelt, bevor der wilde Räuber es ahnte.
Er rüstete wieder für einen Raubzug.
„Männer, heute geht es auf große Beute. Der reiche Herzog im Norden: Schon lange habe ich es auf seine reichen Ländereien abgesehen. Packt Eure Waffen und Beutel. Es wird ein langer Ritt werden.“
Er sattelte seine Rappen, rüstete das mächtige Tier und saß auf.
„Mir nach!“, schrie er.
Und das raue Brüllen seiner Diebesgesellen schlug ihm entgegen.
Polternd galoppierte er über die Zugbrücke. Da geschah es.
Ein kleiner Zitronenfalter hatte auf das große schwarze Tier gewartet. Als der geharnischte Rappen über die Brücke preschte, näherte sich der Schmetterling seinem rechten Auge und kitzelte es. Irritiert wieherte der Kriegsgaul. Sein Herr gab ihm die Sporen. Da versetzte der Zitronenfalter dem Tier einen leichten Schlag mit seinen Flügel ins Pferdeauge. Panisch vor Angst und Schmerz stieg der Rappen hoch und warf den Reiter ab. Der Raubritter fiel über die Zugbrücke in den Burggraben, wo er hart zu liegen kam.
Mühsam rappelte er sich hoch, aber ihm versagten Arme und Beine, die er sich gebrochen hatte. „Männer“, schrie er vor Schmerz und Wut, „zu mir, helft Eurem Chef!“
Doch die Diebesgesellen sahen ihren Anführer hilflos im Burggraben liegen und lachten ihn aus: „Hat dich dein Pferd abgeworfen, Alter? Musst du noch Reitunterricht nehmen? Komm, steh schon auf und tu nicht so.“
Doch der Raubritter blieb bewegungslos und gelähmt liegen.
Als die Diebesbande verstand, dass er ganz hilflos war, da ritten sie zurück in die Burg und halfen ihm nicht, sondern begannen ein großes Fest auf seine Kosten. Sie fraßen und tranken und plünderten die Raubritterburg, bis sie trostlos und leer war.

Als sie endlich abgezogen waren, da befreite die Tochter des Raubritters ihren Liebsten aus dem tiefen Kerker. Sie legten den verletzten und gelähmten Raubritter in seine Kammer und begannen ein neues Leben. Er konnte sie nicht mehr daran hindern.

Die junge Frau sah den Grafensohn glücklich an und meinte: „Wie hast du im Kerker gesungen? Sing dieses Lied noch einmal für mich. Es soll unser Hochzeitslied sein.“

Quelle: Wolfgang Urach

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