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Märchenbasar

Der gelbe Storch

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In China war’s.
Da lebte vor langer, langer Zeit ein armer Student mit Namen Mi. Er war so arm, dass er sich nicht einmal eine Tasse Tee leisten konnte. Wer weiß, wie es ihm ergangen wäre, wenn da nicht ein gütiger Wirt gewesen wäre!
Dieser Wirt gab Mi jeden Tag eine Tasse Tee und eine Schale Reis, und er ließ ihn umsonst bei sich wohnen. – Ja, wäre der Wirt nicht gewesen, der Student Mi wäre wohl verhungert.
So ging das eine lange Zeit.
Doch eines Tages packte der Student sein Bündel zusammen.
„Höre Wirt, ich muss nun fort. Ich danke dir und ich kann dir deine große Güte nicht vergelten. Doch ich will dir etwas dalassen, was vielleicht mehr wert ist, als ich dir schulde.“
Und er zog ein Stück Kreide aus der Tasche, gelbe Kreide, und damit malte er an die Wand der Teestube einen Storch. Der sah aus wie ein richtiger Storch, nur dass er gelb war.
„Diesen Storch lasse ich hier, Wirt! Wenn am Abend deine Teestube voller Menschen ist, dann klatscht alle miteinander dreimal in die Hände – und der Storch wird tanzen. Doch hüte dich, lass ihn niemals für einen Menschen alleine tanzen, dann verschwindet er für immer.“
Damit wandte sich Mi um und ging fort.
Es wurde Abend.
Die Teestube war voller Menschen, da dachte der Wirt an die Worte des Studenten. ‚Ich muss es einmal ausprobieren!’
Und er bat die Gäste: „Lasst uns alle zusammen dreimal in die Hände klatschen, so – klatsch, klatsch, klatsch!“
Und wirklich! Der Storch stieg von der Wand herab. Er breitete seine langen Flügel aus und tanzte durch die ganze Teestube. Er tanzte, er schwebte fast, ab und zu berührte er einen mit den Flügelspitzen, aber nur ganz zart, – und die Leute waren wie verzaubert.
Als der Storch überall einmal herum war, faltete er seine Flügel zusammen, stieg wieder an seine Wand und blieb dort.
Die Leute saßen da mit offenem Mund und konnten nicht glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten.
Doch dann erzählten sie es ihren Freunden und Nachbarn. Die kamen am nächsten Abend, um den Storch tanzen zu sehen. Bald sprach es sich herum, und nun war die Teestube jeden Abend voller Menschen. Von nah und fern kamen sie, um dieses Wunder zu sehen.
Bald war der Wirt ein wohlhabender Mann.
Auch der Präfekt des Kaisers, ein reicher und mächtiger Beamter, hörte von diesem Wunder.
Eines Tages kam er mit seinen Dienern in die Teestube.
„Wirt, dein Storch soll auch für mich tanzen, nur für mich allein!“
Und er befahl seinen Dienern, die anderen Gäste aus der Teestube hinauszutreiben. Dann war er alleine mit dem Wirt. Er legte einen Beutel voll Gold auf den Tisch.
Als der Wirt das viele Gold sah, vergaß er, was der Student gesagt hatte. Er klatschte dreimal in die Hände, diesmal allein – klatsch, klatsch, klatsch!
Und wirklich, der Storch stieg von der Wand herab. Doch seine Flügel breitete er nur ganz wenig aus, drehte sich einmal um sich selbst – müde und krank sah er jetzt aus – und stieg wieder an die Wand und blieb dort.
Der Präfekt tobte und schrie: „Das war alles! Das ist Betrug, ich will mehr für mein Geld. Lass deinen Storch noch einmal tanzen, aber richtig!“
Der Wirt klatschte in die Hände, er klatschte noch einmal und noch einmal, doch der Storch blieb, wo er war.

Es war schon spät in der Nacht, da klopfte es an der Tür der Teestube. Der Wirt öffnete. Draußen stand der Student Mi. Er sprach kein Wort, er zog nur eine kleine Flöte aus der Tasche und spielte eine zarte, traurige Melodie. Er ging zur Wand, drehte sich um, der Storch stieg herab und beide liefen aus der Teestube hinaus in die dunkle Nacht, durch dunkle Gassen und Straßen, zum Stadttor hinaus – und niemand hat sie je wieder gesehen.

Ja , die alten Leute haben uns diese Geschichte erzählt und sie wissen: Wenn es ein Wunder gibt, ist es immer für alle da. Wenn es einer für sich allein haben will, verschwindet es für immer.

Volksmärchen aus China

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