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Märchenbasar

Die Pfirsiche der Liebenden

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Der junge Beamte Wang war erst vor kurzem in die Provinz Shantung versetzt worden. Sein neuer Dienstort lag ziemlich abgeschieden am Ufer des Meeres. Er arbeitete dort in der Präfektur. Wenn er seine Schreibarbeiten beendet hatte und wieder ein Tag vorüber war, machte Wang einen Abendspaziergang. Noch kannte er keinen Menschen im Ort, und Freunde und Verwandte waren fern. Er fühlte sich sehr einsam. So spazierte er also jeden Abend zwischen den Häusern und Gärten fremder Leute umher und dachte sehnsüchtig an daheim. Bis er eines Abends hinter dem vergitterten Tor eines herrlichen Gartens ein schönes Mädchen erblickte. Sein Herz entbrannte sogleich in Liebe zu ihr. Dieses Mädchen war die Tochter des reichen Lo, der im Umkreis viele Felder und Wiesen sein eigen nannte. Seit Wang das Mädchen gesehen hatte, dachte er nur noch an sie. Bald hatte er auch in Erfahrung gebracht, dass das Mädchen nicht nur schön war, sondern auch überaus klug und gebildet. Denn der reiche Lo hatte sie sorgfältig erzogen und unterrichten lassen, so als wäre sie nicht seine Tochter, sondern sein Sohn. Nun übertraf das junge Mädchen viele junge Männer ihrer Umgebung an Geist und Wissen. Auch Wang, der junge Beamte, war ein gebildeter Mensch. Aber er war arm. Wie konnte er nut hoffen, die Tochter des reichen Lo zur Frau zu gewinnen! Niemals, dachte er bei sich, wird er mir das Mädchen geben. Doch seine Liebe zu dem Mädchen wurde mit jedem Tag stärker. Längst hatte auch sie den jungen Mann bemerkt, der täglich an ihrem Garten vorbeiging und sehnsüchtig durch das Gitter blickte. Er gefiel ihr, weil er so liebenswürdig und bescheiden war. Dann und wann schenkte sie ihm ein Lächeln, das sein Herz erfreute, oder einen Blick, der ihm alles zu sagen schien, was er sich erträumte. Dann bewegten Jubel und Hoffnung sein Herz. Sobald aber der junge Wang wieder daheim in seinem Zimmer war und sich vor Augen hielt,
welche große Schwierigkeiten einer Verbindung mit dem geliebten Mädchen im Wege standen, fiel er in tiefe Vezweiflung.
Nachts wälzte er sich schlaflos im Bett und Fieberträume quälten sein Gemüt. „So kann es nicht weitergehen“, sagte Wang eines Tages zu sich. „Ich muss endlich etwas unternehmen, um diesen qualvollen Zustand zu ändern.“ Er setzte sich hin und schrieb ein Gedicht, das er dem reichen Lo widmete und in dem er ihn um die Hand seiner Tochter bat. Dann ging er zu dem tüchtigen Heiratsvermittler im Ort und beauftragte ihn, das Geschriebene dem reichen Lot zu überreichen. Drei Tage waren seither vergangen, und der arme Wang wartete und bangte, er ging in seinem Zimmer auf und ab und fand keine Minute Ruhe. Er schwankte zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Endlich, am Abend des dritten Tages, kam der Heiratsvermittler und brachte dem jungen Wang eine Schriftrolle, die er ihm mit einer tiefen Verbeugung überreichte. Mit zitternden Händen löste Wang die Schnüre, und während er zu lesen begann, drohten die Buchstaben vor seinen Augen zu verschwimmen. „Wenn die ersten Früchte des Pfirsichbaumes reif sind“, stand da geschrieben, „wird die Tochter des Lo den achtbaren Wang zum Manne nehmen.“ Wang glaubte zu träumen. Es dünkte ihm greifbar nahe. Überschwenglich dankte er dem Heiratsvermittler für seine Dienste und entlohnte ihn reich. Kaum war Wang allein, sprang und tanzte er durch sein Zimmer, außer sich vor Freude und Glück. Der arme Wang! Er ahnte ja noch nicht, welch bittere Enttäuschung auf ihn wartete. Die Monate vergingen. Der Sommer ging zu Ende und der Herbst kündigte sich an und brachte damit die Zeit der Reife. Überall in den Gärten bogen sich die Äste der Obstbäume unter der schweren Last ihrer Früchte. Der junge Wang ging täglich hinunter ans Meer, um zu sehen, ob auch der Pfirsichbaum schon Früchte zeige. Doch so sehr er seine Augen anstrengte, er konnte nicht einen Pfirsich entdecken. Alle Bäume trugen reiche Frucht, nur der Pfirsichbaum blieb leer. Da krampfte sich das Herz des jungen Wang schmerzlich zusammen und bittere Tränen schossen ihm in die Augen. Hatte er also vergeblich gewartet und gehofft? Er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Deshalb ging er zu einem alten weisen Mann, der auch zauberkundig war, und er fragte ihn, was die Schriftrolle, die ihm der reiche Lo seinerzeit geschickt hatte, zu bedeuten habe. Der alte weise Mann blätterte lange in seinem vergilbten Buch, bis er darin die folgende Stelle fand. Er las sie dem Wang vor: Unten, am Ufer des Meeres, grünt ein Pfirsichbaum, wartet geduldig, dass sich sein Los erfülle. Tausend Jahre, sie sind wie ein Traum, denn er trägt die Frucht – das ist Buddhas Wille. Des Höchsten Spruch birgt dieser Baum, der demütig wartet, ganz ohne Schuld. Dein Leben, o Mensch, es ist nur ein Traum, lern es ertragen und übe Geduld. Als Wang das hörte, stand er eine Weile nachdenklich da, dann endlich begriff er, was dieses Gedicht ihm sagen wollte. Es war also der tausendjährige Pfirsichbaum, von dem in der Schriftrolle des Heiratsvermittlers die Rede gewesen war. Schon als Kind hatte er von diesem Baum gehört. Nur einmal in tausend Jahren trug er eine reife Frucht. Dieser Pfirsich, der seltsam flach geformt war, hatte die Eigenschaft, den Menschen Glück und Segen zu bringen. Nur konnte sich keiner erinnern, je diesen flachen Pfirsich gesehen, geschweige denn gegessen zu haben. Wang glaubte vor Schmerz und Enttäuschung sterben zu müssen. Jetzt war ihm alles klar. Die Antwort des reichen Lo auf seine Bewerbung, die er für eine Zusage, ein Versprechen gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Absage, eine Verhöhnung gewesen, eine schlaue List, mit der man ihn getäuscht hatte. Man hatte ihn, den ehrlichen und bescheidenen Beamten Wang gedemütigt und sich über ihn lustig gemacht. Jetzt wollte er an diesen Ort, da ihm solches widerfahren war, keine Stunde länger bleiben. Er schrieb an seinen Vorgesetzten und bat diesen um seine Versetzung, der gewährte sie ihm unverzüglich.
Über ein Jahr war seither vergangen. Wang hatte gelernt, seine Gefühle vor den Menschen zu verbergen. Er suchte Vergessen in der Arbeit, und er genoß das Ansehen und Vertrauen der Menschen, mit denen er zu tun hatte. Nur sein Herz blieb traurig und einsam. Eines Tages verlangte sein Vorgesetzter von ihm, er möge eine Nachricht in die Provinz Shantung bringen, an jenen Ort, wo ihm so Schlimmes widerfahren war. So sehr Wang sich auch dagegen sträubte, es half ihm nichts, er musste gehorchen. Die erste Neuigkeit, die man ihm bei seiner Ankunft erzählte, war die Nachricht, dass die Tochter des reichen Lo in den nächsten Tagen den reichen Li heiraten werde. Als Wang das hörte, musste er alle Kraft zusammennehmen, um seine tiefe Enttäuschung zu verbergen. Doch die Leute flüsterte einander hinter vorgehaltener Hand auch noch etwas anderes zu, etwas, woran sie selbst kaum zu glauben vermochten. Es hieß, dass der Pfirsichbaum unten am Meer, der den Menschen Glück und Segen bringen soll, nach tausend Jahren endlich wieder Früchte habe. Seine Zweige waren schwer beladen mit flachen Pfirsichen. Als auch Wang davon hörte, ließ er die Leute stehen und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, hinunter ans Meer, wo der alte Pfirsichbaum stand. Es war, wie die Leute gesagt hatten, seine Zweige bogen sich unter Last der reifen Früchte. Wang jubelte. Jetzt musste der reiche Lo sein Wort einlösen, jetzt musste er ihm seine schöne Tochter zur Frau geben! Denn würde er das nicht tun, brächte ihm der Pfirsichbaum, der den Menschen sonst Glück und Segen bringt, nur Unglück und Leid. Wang pflückte einen Korb voll flacher Pfirsiche und eilte damit zurück in den Ort. Den gab er dem Heiratsvermittler, zusammen mit einem langen Schreiben, das an den reichen Lot gerichtet war. Er bat den Heiratsvermittler, beides so schnell wie möglich dem Lo zu bringen. In den Korb mit flachen Pfirsichen hatte Wang als Geschenk für das geliebte Mädchen einen Fächer gelegt und darauf und in zierlicher Schrift die folgenden Verse geschrieben: Unten am Meer, sieh den alten flachen Pfirsichbaum! Reife Früchte drücken seine Zweige nieder. Die Jahre fließen dahin wie im Traum, keinem kehren sie wieder. Unaufhaltsam entflieht die Zeit, wie ein Duft, vom Winde verweht. Tausend Jahre, sind wie heut, da schwer von Fruchte der Pfirsichbaum steht. Möge der Baum uns das Zeichen sein, das unsere Herzen bindet. Vergessen sind Trauer, des Wartens Pein, wenn Liebe zu Liebe findet. Als das Mädchen diese Zeilen las, errötete es vor Freude und sein Gesicht strahlte über und über vor Glück. Tränen der Dankbarkeit rannen ihm über die Wangen. Nun, da der Vater das Glück seines Kindes sah, zögerte er nicht mehr länger. Er erklärte die Verlobung mit dem reichen Li für gelöst und gab den beiden Liebenden seinen Segen.
 
Quelle: Ein Märchen aus China

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