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Märchenbasar

Der gläserne Berg

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Es war ein Vater, der drei Kinder hatte; zwei waren Knaben, eins ein Mädchen. Nach dem Tode ihrer rechten Mutter bekamen sie eine Stiefmutter. Die Stiefmutter hatte die Kinder nicht lieb, besonders die zwei Knaben nicht. Sooft sie die Knaben ansah, gab sie ihnen Schimpfnamen und verwünschte sie: „Dass ihr doch zu Raben würdet!“ Der Mann ermahnte sie oft: „Weib, verwünsche meine Kinder nicht! Es könnte ihnen oder dir selbst etwas Böses erfahren.“ Allein sie achtete nicht darauf, und als die Knaben wieder einmal ansah, rief sie wieder: „Dass ihr doch zu Raben würdet!“ Kaum hatte sie’s gerufen, so wurden sie wirklich zu Raben. Sie setzten sich auf einen Baum vor dem Haus und harrten, bis die Schwester heimkäme. Als sie kam, krächzten sie traurig und nahmen Abschied von ihr. Die Schwester wusste sogleich, dass sie auf dem gläsernen Berg verwünscht seien, nur wusste sie nicht, wo der gläserne Berg wäre. Sie machte sich auf den Weg, um die Brüder zu suchen. Lange ging sie. Endlich kam sie zu dem Sonnenherrn und fragte ihn, ob er nicht von dem gläsernen Berg wisse, den eine Zauberin ihre zwei Brüder verwünscht habe. Der Sonnenherr antwortete: „Ich leuchte den ganzen Tag, allein auf dem gläsernen Berg hab’ ich noch nie geleuchtet. Weißt du was, geh’ zu meinem Bruder dem Mondherrn und frag’ ihn! Hier aber geb’ ich dir zum Abschied ein Kleid. Verwahr’s in einer Nussschale!“
Sie nahm das Kleid, verwahrte es in einer Nussschale, bedankte sich und ging zum Mondherrn. Als sie hinkam, sprach sie: „Mich schickt dein lichter Bruder, der Sonnenherr, damit ich dich, den Mondherrn, frage, ob du nicht von dem gläsernen Berg wissest, auf dem eine Zauberin meine zwei Brüder verwünscht hat.“ Der Mondherr antwortete: „Ich leuchte des Nachts auf hässliche und liebliche Orte, auf hohe Felsen und in tiefe Schlünde; allein von dem Berge weiß ich nicht. Ich will dir aber raten. Geh’ zu meinem Vetter, dem Windherrn und frag’ ihn! Hier geb’ ich dir zum Andenken ein Kleid. Verwahr’s in einer Nussschale!“ Sie nahm das Kleid, verwahrte es in einer Nussschale, bedankte sich und ging zum Windherrn. Der Mondherr leuchtete ihr in der Dunkelheit. Als sie hinkam, sprach sie: „Mich sendet dein Vetter, der Mondherr, damit ich dich, den Windherrn, frage, ob du nicht wissest, wo der gläserne Berg ist, auf dem eine Zauberin meine zwei Brüder verwünscht hat. Gern’ ging ich hin, o sei so gut, mir zu raten.“ Der Windherr antwortete: „Ich blase schon Jahrhunderte, allein so weit, hab’ ich nie geblasen. Deine Brüder sind am Leben und befinden sich wohl. Du kannst zu ihnen kommen; doch musst du tun, wie ich dir rate. Hier hast du einen Windsattel; setz’ dich auf ihn, und ich werde blasen, Hier hast du auch runde Steinlein. Vermag ich nicht mehr zu blasen, leg’ ein Steinchen auf den gläsernen Berg, es wird kleben bleiben, tritt darauf, sonst glitscht dir der Fuß aus. Hab’ ich ausgeruht, so reiten wir weiter. Und hier hast du auch ein Kleid; es wird dir gute Dienste leisten. Verwahr’s in deiner Nussschale!“ Sie verwahrte das Kleid in einer Nussschale, setzte sich auf den Sattel und ritt. Zuletzt begann der Windherr zu ermatten. Sie legte ein rundes Steinchen auf den gläsernen Berg und stand darauf, bis der Windherr ausgeruht hatte. So rastete sie einige Male, so dass am Ende kein Steinlein mehr übrig war. Da klagte der Windherr, er vermöge nicht weiterzublasen; allein in dem Augenblicke trat sie auf den Gipfel des gläsernen Berges. Sie dankte dem Windherrn, und er kehrte zurück. Die beiden Brüder erkannten die Schwester sogleich und riefen: „Herzgeliebte Schwester, wie hast du uns hier gefunden?“ Die Schwester entgegnete: „Ich war bei dem Sonnenherrn, dem Mondherrn und dem Windherrn, und der letzte blies mich her. Ich bin gekommen, euch zu fragen, wie ich euch helfen könnte.“ – „Oh, das bist du nicht imstande!“ meinten die Brüder. „Was uns erretten könnte, ist ein zu schweres Werk!“ Ich gelob’ euch, dass ich’s vollbringe!“ rief die Schwester. Da gaben sie ihr einen Pelz aus Mäusefellen und sagten zu ihr: „Wohlan! Du darfst drei Jahre kein Wörtlein sprechen, stumm musst du leiden und dein Schicksal tragen, selbst wenn du an den Galgen kämst.
Und nu geh’ als Bettlerin in die Welt!“ Sie schritt vom Berge hinab, indem ihr die Brüder beistanden. Nun ging sie, bis sie zu einem Schlosse gelangte, wo viele Diener waren und ein großes Fest gefeiert wurde. Der König des Schlosses wollte sich eine Gemahlin wählen. Eben versammelten sich die Gäste, als auch sie in das Schloss kam, die Bettlerin in ihrem Pelz aus Mäusefellen. Man ließ sie in das Schlosse und gab ihr Federvieh zu besorgen. Als sie gefragt wurde, ob sie den Dienst annehmen wolle, nickte sie bloß mit dem Kopfe. Es kam der Abend, wo der König wählen wollte. Sie fühlte Lust, das Fest zu sehen, zog das Kleid des Sonnenherrn an und ging in den Saal. Da sprach der König zu seiner Schwester: „Die Prinzessin gefällt mir! Welches Königs Tochter mag sie sein?“ Doch sie verlor sich bald, hüllte sich wieder in den Mäusepelz und ging zu ihren Hühnern. Alles wunderte sich, wohin sie geraten sei; der König aber befahl, man möchte des nächsten Abends Acht haben, wem er zu trinken reichen würde. Des andern Abends zog sie das Kleid des Mondherrn an und begab sich so in den Saal. Der König erkannte sie sogleich, reichte ihr zu trinken und ließ seinen Ring in den Becher fallen. Doch sie verlor sich, hüllte sich wieder in den Mäusepelz und ging zu ihren Hühnern. Man konnte sie nicht finden.
Da befahl der König: „Habt acht, ob sie des dritten Abends kommt! Ich wähle keine andre zur Gemahlin.“ – „Wir wollen sie kennzeichnen“, sagte einer der Diener. „Sie soll uns nicht verlorengehen!“ Des dritten Abends zog sie das schönste Kleid, das des Windherrn, an und begab sich in den Saal. Der Diener tupfte sie, ohne dass sie es merkte, mit einer Farbe auf die Hand. Als sie sich nun verloren hatte, suchte man überall, bis man zu der Hühnermagd kam, die im Mäusepelz bei ihren Hühnern schlief, und die war’s, die das Kennzeichen an der Hand trug. Alles murrte, dass der König ein solches Wesen zur Gemahlin nehmen wolle; allein der König bestand darauf. Er vermählte sich mit ihr. Drei Vierteljahr verstrichen, ohne dass sie ein Wörtlein sprach. Da musste der König in den Krieg ziehen; aber sie blieb daheim und gebar von ihm einen Knaben. Die Hebamme nahm den Knaben, ging zum Flusse und wollte ihn ertränken. Auf einem Strauche beim Flusse saß ein Rabe und krächzte: „Du bist mir lieber, als das Wasser“, rief die Hebamme. „Du wirst mich nicht verraten. Da nimm dir das Kind!“ Dieser Rabe war einer von den verwünschten Brüder der Königin; er nahm das Kind in seine Krallen und flog davon. Ihr, der Mutter, sagte man, dass sie eine Missgeburt zur Welt gebracht, die man ihr gar nicht zeigen könne, und verspottete sie. Und als der König aus dem Kriege zurückkehrte, erzählte man ihm dasselbe. Sie aber sprach kein Wort.Nach einiger Zeit musste der König abermals in den Krieg. Die Königin weinte, denn sie fürchtete, man würde sie töten, bevor der König käme. Sie gebar wieder einen Knaben, und die Hebamme nahm den Knaben wieder und trug ihn zum Flusse, um ihn zu ertränken. Auf dem Strauche beim Flusse saß ein anderer Rabe, der zweite Bruder der Königin und krächzte. „Vortrefflich!“ rief die Hebamme.
„Den ersten hat der erste gefressen, den zweiten frisst der zweite, ohne dass es wer erfährt.“ Und sie gab ihm das Kind, und der Rabe nahm’s und flog mit ihm davon. Der Mutter sagte man, und dem König schrieb man, dass sie wieder eine Missgeburt zur Welt gebracht.
Traurig kehrte der König aus dem Kriege zurück; er blickte düster und unzufrieden, und da man ihm vorwarf, sein häusliches Glück sei eine Strafe dafür, dass er eine stumme, verworfene Bettlerin genommen, verurteilte er sie zum Galgen. Sie aber sprach kein Wort.
Geduldig bereitete sie sich zum Tode. Schon wurde sie zum Galgen geführt, schon ward ihr der Strick um den Hals gelegt. Da kamen plötzlich ihre zwei Brüder zu Rosse gesprengt, ein jeder hatte vor sich einen Knaben mit einem strahlenden Sterne, und mit lauter Stimme riefen sie: „Haltet ein! Schont die Unschuld! Gerechtigkeit!“ Und sie sprachen zu ihrer Schwester: „Die drei Jahre sind verflossen, unsere Befreiung ist durch dich vollbracht. Hier hast du deine Kinder; in Rabengestalt haben wir sie aus den Händen der Hebamme gerettet und erzogen. Und nun, herzliebste Schwester, rede!“ Und der König dankte den Brüdern, und dann warf sie sich dem König zu Füßen und redete. Da enthüllte sich dem König die Wahrheit. Gerührt hob er die Königin vom Boden und drückte sie mit Wonne an seine Brust. Die Hebamme aber befahl er auf einen Scheiterhaufen zu verbrennen und ließ auch über die andern Gericht halten, die ihr geraten hatten. Und nun lebte der König und die Königin glücklich miteinander, und die beiden Knaben mit den Sternen wuchsen zu stattlichen Jünglingen empor und machten ihren Eltern Freude und Ehre, bis diese eines seligen Todes starben.

Quelle: Ein Märchen aus Mähren

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