Suche

Märchenbasar

Der Greif vom Gebürge Kaf

0
(0)
Als Sultan Soliman, der Sohn Daads, den Thron der Welt bestieg, erklärte er den Greif vom Gebürge Kaf zum König aller befiederten Scharen. Ungeachtet dieser Würde, die diesen Wundervogel zum Befehlshaber über siebzehnhundert verschiedene Gattungen von Vögeln machte, fuhr er fort, ein Diener des großen Fürsten zu bleiben, und kam alle Morgen, ihm seine Aufwartung zu machen.

Es begab sich eines Tages, daß der Greif bei einer Versammlung der Weisen, die vor Soliman gehalten wurde, zugegen war. Einer von ihnen sagte, es sei unmöglich, etwas gegen die Ratschlüsse des Königs der Geister auszuführen. «Und ich», fiel ihm der Greif ins Wort, «ich behaupte, daß ich imstande bin, etwas zu verhindern, das im Divan der Geister beschlossen worden ist.» Die Weisen stellten ihm vergebens die Ungereimtheit eines solchen Vermessens vor; er blieb bei seiner Rede, und Geoncha, der sie gehört hatte, beschloß, ihn beim Worte zunehmen. «Ihr habt gehört», sagte er zu den Geistern, die seinen Thron im Dschinnistan umgaben, «wessen sich der Greif vermessen hat. Wohlan! Er soll uns eine Probe seiner Kunst sehen lassen. Ich will, daß der Sohn des Königs vom Morgen die Tochter des Königs vom Abend zum Weibe nehme. Gehe, Edris, eröffne dem Soliman meine Entschließung; wir wollen doch sehen, wie es der Greif anfangen will, sie zu hintertreiben.» Soliman eröffnete dem Greif, was ihm Edris zu wissen getan hatte, und machte ihm nochmals Vorstellungen über die Unvernunft seines Unternehmens; aber er beharrte zuversichtlich auf seiner Rede und behauptete, er wolle schon Mittel finden, diese Heurat zu verhindern. «Ich will dir nicht verhalten», sagte der Sultan, «daß die Königin vom Abend in diesem Augenblick von einer Tochter entbunden worden ist, die man dem Sohn des Königs vom Morgen zum Weibe bestimmt.» Statt der Antwort spannte der Greif seine ungeheuren Flügel aus und erhob sich in die Lüfte, ohne daß sich unter allen Vögeln nur einer gefunden hätte, der seiner Meinung gewesen wäre; das einzige Käuzlein ausgenommen, welches versicherte, daß es dem Greif gelingen würde.

Dieser durchschnitt die Lüfte mit unglaublicher Geschwindigkeit, langte in kurzem am Hof des Königs vom Abend an und entdeckte, nachdem er sich eine Weile umgesehen hatte, die neugeborne Prinzessin in ihrer Wiege, mitten unter ihren Ammen und Wärterinnen. Er stürzte aus der Höhe auf sie herab, die Weiber liefen vor Schrecken davon, und er packte die Wiege mit seinem krummen Schnabel und trug sie in sein Nest auf dem Berge Kaf. Der Greif, welcher eigentlich zu reden eine Greifin war, nahm die Verrichtungen einer Amme bei der kleinen Prinzessin auf sich selbst; und da seine Milch von der besten Art war, so gedeihete das Kind so wohl, daß es bald entwöhnt werden konnte. Kurz, die Prinzessin wuchs heran, genoß der vollkommensten Gesundheit und wurde so groß und schön, als sie am Hofe ihres Vaters schwerlich geworden wäre. Der Greif sparte keine Mühe, ihr eine gute Erziehung zu geben; er lehrte sie lesen und schreiben und ließ sich mit ihr in Unterredung über das, was sie auf sein Geheiß gelesen hatte, ein. Die Prinzessin, die keine andere Mutter zu haben glaubte, gehorchte ihrer vermeinten Mutter in allem und beschäftigte sich den ganzen Tag allein im Neste, während der Greif alle Morgen wie gewöhnlich am Hofe des Sultans Soliman erschien und die Dienste, die er ihm auftrug, ausrichtete. Aber er vergaß nie, des Abends zurückzukommen, seinem lieben Mädchen zu essen zu bringen und sich mit ihr von tausend Dingen zu unterhalten. Endlich erreichte die Prinzessin das Alter der Mannbarkeit, und um eben diese Zeit starb der König der Abendländer, und sein Sohn, ein Prinz von sechzehn Jahren, bestieg den Thron, den jener erlediget hatte.

Der junge Fürst war ein so großer Liebhaber der Jagd, daß kein Tag verging, wo er dieser Lustbarkeit nicht nachgehangen hätte. Endlich wurde er’s überdrüssig, immer in denselben Gegenden und die nehmlichen Tiere zu jagen. «Gehen wir zu Schiffe», sagte er zu seinen Wesiren, «und jagen in Gegenden, wo wir noch nie gewesen sind; während unsrer Abwesenheit wird das Wild in diesen Revieren Zeit gewinnen, sich wieder zu vermehren.» Da die Wesire des jungen Königs keine Leute waren, die gegen eine so weise Entschließung etwas einzuwenden gehabt hätten, so wurden unverzüglich die nötigen Anstalten gemacht. Sie ließen eine Menge kleiner Fahrzeuge bauen, um überall desto leichter anländen zu können; der junge König und seine Wesire und Höflinge stiegen ein und segelten mit gutem Winde davon.

Nachdem sie auf verschiedenen Inseln, wo sie landeten, gejagt hatten, überfiel sie einst mitten auf dem Meer ein so entsetzlicher Sturm, daß alle Schiffe, die zu ihrer Flotte gehörten, versenkt oder zerstreut wurden; nur das einzige, worauf der König sich befand, blieb unbeschädigt und langte am Fuß des Berges Kaf an. Einige von seinen Leuten stiegen ans Land, gerieten aber in große Bestürzung, es ganz unbewohnt zu finden und sich überall von lauter wilden, himmelhohen und unerstieglichen Felsen umgeben zu sehen. Gleichwohl bestand der Prinz darauf, in diesen unwirtbaren Gegenden zu jagen, und da er von Natur etwas unvorsichtig war, verlor er sich unvermerkt von seiner Gesellschaft und ging oder kletterte eine Zeitlang ganz allein auf Geratswohl herum. Endlich erblickte er einen Baum, wie er in seinem Leben noch keinen gesehen hatte; er war so dick, daß ihn vierhundert Männer nicht hätten umspannen können; die Höhe war einer so ungeheuren Dicke gemäß, und was den Prinzen nicht weniger in Erstaunen setzte, war, ein Nest auf diesem wunderbaren Baum zu sehen, das die größten Paläste an Größe übertraf. Es hatte mehrere Stockwerke übereinander und war aus großen Balken von Zedern, Sandelholz und andern aromatischen Hölzern zusammengefügt. Der junge König stand schon eine gute Weile in Betrachtung dieser seltsamen Wunder der Natur und Kunst vertieft, als er durch eine Öffnung des Gebälks eine junge Person erblickte, die ihm ein noch viel größeres Wunder schien. Nicht lange, so wurde sie ihn ebenfalls gewahr. Nachdem sie sich eine geraume Weile mit wechselseitigem Erstaunen und Vergnügen angesehen hatten, entwickelte sich (als die erste Würkung der wechselseitigen Sympathie, mit der sie geboren waren) bei dem Prinzen der Gedanke, sich zu dem schönen Mädchen hinauf zu wünschen, und bei ihr, daß er diesen Gedanken haben möchte. «Diese junge Person», dachte die Prinzessin, «ist, dem Ansehen nach, ein Wesen meiner Gattung! Oh, wie gerne möchte ich sie bei mir haben können! Meine Mutter ist eine sehr gute Person, aber es fehlt viel daran, daß sie so schön wäre wie diese. Freilich hat sie die Flügel vor uns voraus.» – «Leider! Hätte ich Flügel, oh, wie bald wollte ich an deiner Seite sein, um mich nie wieder von dir zu trennen!»

In der Tat wären Flügel dem Prinzen oder ihr hier sehr nötig gewesen, denn der Schaft des Baums war bis zu seinen untersten Zweigen so hoch und glatt, daß es schlechterdings eine Unmöglichkeit war, hinauf- oder herabzusteigen. Beide schienen diese Unmöglichkeit mit gleich großem Schmerz zu fühlen; aber die Liebe, die sich des Prinzen beim ersten Anblick der jungen Person bemächtigt hatte und die eines der mächtigsten Triebräder ist, wodurch der Himmel seine Absichten bewerkstelliget, findet Mittel, das Unmögliche selbst möglich zu machen. Sie fing damit an, daß sie die Einbildungskraft und den Scharfsinn des Prinzen erhöhte. «Wie dieses junge Mädchen auch in dieses Nest gekommen sein mag», dachte er, «wo ein Nest ist, muß ein Vogel sein, der es gebaut hat, und ein so ungeheures Nest kann nur das Werk eines ungeheuren Vogels sein.» Auf einmal erinnerte er sich, daß ihm seine Amme große Wunderdinge von dem Vogel Greif, der auf einem hohen Berge am Ende der Welt wohne, erzählt hatte, und sogleich war es etwas Ausgemachtes bei ihm, daß dieses Nest die Wohnung des Vogels Greif sein müsse, daß er die junge Person entführt habe und – wie einem Liebhaber zuweilen auch die widersinnigsten Einfälle zu Kopfe steigen – daß er vielleicht in sie verliebt sei oder sie aus irgendeiner andern geheimen Absicht in diesem unzugangbaren Zauberturme gefangenhalte. Dieses alles vorausgesetzt, fing er an, hin und her zu sinnen, ob er nicht ein Mittel ausdenken könnte, den Greif selbst, wenn er wieder zurückkäme, zum Werkzeuge seiner Zusammenkunft mit dem holden Mädchen zu machen, das seine schönen Arme so wehmütig bald zum Himmel emporstreckte, bald zu ihm herunter faltete, und dadurch sein Verlangen, bei ihr zu sein, zur heftigsten Leidenschaft entflammte.

In diesem Augenblicke wurde er eines toten Kamels gewahr, das nicht weit von ihm im Grase lag und erst vor kurzem das Leben verloren zu haben schien. Sogleich fiel es wie ein Blitz in seine Seele, was er tun müßte, um diesen Zufall zu Befriedigung seines brennenden Verlangens zu benutzen. Er zog sein Weidmesser heraus, weidete das Kamel aus, ließ es in der Sonnenhitze austrocknen und füllte es mit allerlei wohlriechenden Kräutern an, die in Menge auf dieser Höhe des Gebürges zu finden waren. Die junge Prinzessin beobachtete dies alles mit großer Aufmerksamkeit, und der Prinz gab sich viele Mühe, ihr durch Zeichen zu verstehen zu geben, was seine Absicht bei diesem Unternehmen sei. Als endlich die Sonne unterging, hörte er ein gewaltiges Rauschen, wie das Tosen eines Sturmwindes, in der Luft; er schloß daraus, daß der Greif im Anzuge sei, und eilte, in den ausgeweideten Leib des Kamels zu kriechen, wo er Mittel fand, sich so gut einzuschließen, daß ihn niemand darin gesucht hätte. Der Greif kam indessen bei seiner Pflegtochter an, besorgte ihre Abendmahlzeit und unterhielt sie mit allerlei Neuigkeiten, die er an Solimans Hofe gehört hatte. Am folgenden Morgen, da er sich mit Anbruch des Tages wieder zu seiner gewöhnlichen Abreise anschickte, machte ihn die junge Prinzessin das Kamel bemerken und bezeugte ein großes Verlangen, dieses seltsame Tier in der Nähe zu sehen. Der Greif, der es für etwas sehr Unbedeutendes hielt, diese kindische Neugier zu befriedigen, und gewohnt war, ihr in allen ihren unschuldigen Wünschen zu willfahren, besann sich keinen Augenblick; er holte das Kamel herauf und flog davon.

Man kann sich leicht vorstellen, was nun erfolgte, da der junge Prinz einmal im Neste war. Die Prinzessin überließ sich in ihrer unwissenden Unschuld dem süßen Hang der Sympathie, und der Prinz, der nicht ganz so unwissend war, seiner Leidenschaft. Die Freude, die sie aneinander hatten, war unbeschreiblich. Sie konnten zwar nicht miteinander reden, aber die Liebe lehrte sie gar bald eine Sprache, die eine ganz andere Deutlichkeit und Wärme hat als die schönste aller andern Sprachen und in der sie nicht müde wurden, einander ihre gegenseitigen Empfindungen aufs lebhafteste auszudrücken. Die Energie dieser ihnen beiden ganz neuen Sprache war so groß, daß die Prinzessin, noch eh‘ der Greif wieder von Solimans Hofe zurückkam, bereits in Umständen war, die alle Maßregeln dieses vermessenen Vogels zernichteten. Sobald dieser durch das Getöse seiner Flügel seine Annäherung verkündigte, kroch der Prinz in sein Kamel zurück, welches der Greif als ein Spielzeug seiner kleinen Pflegtochter betrachtete und keiner weitern Aufmerksamkeit würdigte. Die Speisen, der er ihr alle Abend aus Solimans Küche zutrug, reichten überflüssig zu, ein Paar junge Liebende zu sättigen, die beinahe schon von ihrer bloßen Liebe hätten leben können; und da sie alle Zeit vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang für sich allein hatten, so vergingen ihnen die neun ersten Monate ihres Beisammenseins wie einzelne Tage.

Inzwischen rückte die Stunde heran, wo die Torheit des Greifs vom Berge Kaf durch den Augenschein gehämt werden sollte, und Edris wurde abermals abgeschickt, den Sultan von dem, was vorgegangen war, zu unterrichten. Soliman ließ den Greif zu sich rufen und fragte ihn, ob er die Verbindung der Tochter des Königs vom Abend mit dem Sohne des Königs vom Morgen verhindert habe. «Das habe ich», antwortete der Greif; «die Prinzessin ist von ihrer Geburt an in meiner Gewalt gewesen, und den Prinzen möcht‘ ich sehen, der sich rühmen könnte, ihr nahegekommen zu sein! Kurz, sie ist in meinem Nest auf dem Berge Kaf; das ist genug gesagt, Herr, um dich zu überzeugen, daß sie in ihrem Leben niemand als mich gesehen hat.» – «Geh», sagte der Sultan, «und bringe sie mir auf der Stelle her; ich will mit meinen eigenen Augen sehen, ob du mir die Wahrheit sagst.» Der Greif ließ sich diesen Befehl mit Freuden gefallen, und Soliman berief indessen alle Weisen und Schriftgelehrten und seinen ganzen Hof zusammen, um Zeugen dessen, was erfolgen würde, abzugeben.

Die junge Prinzessin erschrak nicht wenig, da sie ihre Pflegmutter zu einer so ungewöhnlichen Stunde wiederkommen sah, und hatte kaum noch Zeit genug, den Prinzen, mit dem sie in Freiheit zu sein geglaubt hatte, wieder unbemerkt in sein Kamel zu verbergen. «Meine Tochter», sagte der Greif, «du mußt unverzüglich mit abreisen; Soliman verlangt dich zu sehen, und ich komme deswegen, um dich an seinen Hof zu tragen.» Die Prinzessin erschrak über diese Nachricht noch heftiger, denn wie hätte sie sich entschließen können, ihren Geliebten im Neste des Greifs vom Berge Kaf allein zurückzulassen? Aber so jung und unerfahren sie war, der schlaueste aller Ratgeber, die Liebe, ließ sie in dieser Not nicht unberaten. «Wie willst du mich hinbringen?» fragte sie. «Auf meinem Rücken», antwortete der Greif. Die Prinzessin bezeugte eine große Angst vor einer so ungewohnten Art zu reisen. «Wir haben», sagte sie, «so viel Länder und Meere zu passieren; der Anblick so vieler neuen Gegenstände und die Höhe und Geschwindigkeit deines Flügels wird mich schwindlicht machen; ich werde ganz unfehlbar herabfallen, mein Tod ist gewiß; ich kann mich unmöglich zu einer solchen Art zu reisen entschließen. Wenn es aber ja sein muß, liebe Mutter, so erlaube mir wenigstens, daß ich mich in dieses Kamel einschließe; ich werde dann nichts sehen, und so wirst du mich ohne alle Gefahr tragen können.» Der Greif fand den Einfall vortrefflich und hatte über diese Probe des Verstandes und der Besonnenheit seiner Pflegtochter eine große Freude. Die Prinzessin schloß sich zu ihrem lieben Prinzen in das Kamel ein, ohne daß der Greif den geringsten Verdacht schöpfte; und so eilte dieser in triumphierender Ungeduld mit seiner schönen Last davon, ohne zu merken, daß die Prinzessin unterwegs, vermutlich unter dem unsichtbaren Beistand irgendeiner guten Fee, von einem wunderschönen Knäblein entbunden wurde.

Als sie nun bei Soliman angelangt waren, der sie mitten unter seinen Weisen und Hofleuten erwartete, befahl der Sultan dem Greif, das Kamel zu öffnen; und nun denke man sich das allgemeine Erstaunen, als der Prinz und die Prinzessin mit dem Knäblein im Arme zum Vorschein kamen. «Wie?» sagte Soliman zu dem bestürzten Greif, «so verhinderst du die Ausführung dessen, was Geoncha beschlossen hat?»

Die Beschämung, der Verdruß und das allgemeine unmäßige Gelächter aller Anwesenden machten den Greif auf eine fürchterliche Art an allen Gliedern und Federn seines ungeheuren Körpers zittern; er flog davon und verschloß sich von diesem Tage an in sein Nest auf dem Berge Kaf, den er nie wieder verlassen hat.

«Wo ist das Käuzlein», fragte Soliman, «das der Vermessenheit des Greifs seinen Beifall gab?» Aber das Käuzlein war so klug gewesen, sich in Zeiten zu entfernen; und seitdem hält es sich immer an einsamen Orten auf und fliegt nur bei Nacht aus.

Quelle:
( Christoph Martin Wieland – Dschinnistan oder Auserlesene Feen- und Geistermärchen – Ein morgenländisches Märchen)

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content