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Märchenbasar

Der gütige Holzfäller

3.7
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Einst ging ein Mann in den Wald, um Holz zu fällen. Er kam zu einer Birke und wollte sie fällen. Als die Birke die Axt sah, begann sie jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Ich bin noch jung und habe viele Kinderchen, die um meinen Tod weinen würden.“ Der Mann gab der Bitte nach und ging zur Eiche, um sie zu fällen.
Als die Eiche die Axt sah, begann sie jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Ich bin noch nicht groß und stark, meine Eicheln noch nicht reif, um sie zu säen. Woher soll für deine Kinder ein Eichenwald wachsen, wenn meine Eicheln verkommen?“ Der Mann gab der Bitte der Eiche nach und ging zur Esche, um sie zu fällen.
Als die Esche die Axt sah, begann sie jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Ich bin noch jung und war erst gestern auf Brautschau. Was wird aus der Liebsten, wenn du mich fällst?“ Der Mann gab der Bitte der Esche nach und ging zum Ahorn, um ihn zu fällen.
Auch der Ahorn begann jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Meine Kinder sind noch klein und schwach, was wird aus ihnen, wenn du mich fällst?“ Der Mann gab der Bitte des Ahorns nach und ging zur Erle, um sie zu fällen.
Als die Erle die Axt sah, begann sie jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Ich treibe gerade Saft und ernähre damit viele kleine Tierchen. Was wird aus ihnen, wenn du mich fällst?“ Der Mann gab der Bitte der Erle nach und ging zur Espe, um sie zu fällen.
Die Espe aber begann jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Ich muss mit meinen Blättern im Winde säuseln und des Nachts die Bösen vor ihren Taten warnen. Was wird aus der Welt, wenn du mich fällst?“ Der Mann gab der Bitte der Espe nach und ging zum Vogelkirschbaum.
Als der Vogelkirschbaum die Axt sah, begann er jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Meine Krone steht noch voller Blüten, und ich muss den Vögelchen Schutz bieten, wenn sie auf meinen Zweigen singen. Wo könnten die Leute so schönen Vogelgesang hören, wenn alle Vögelchen geflohen sind, weil du mich gefällt hast?“ Der Mann gab der Bitte des Vogelkirschbaums nach und ging zur Eberesche, um sie zu fällen.
Die Eberesche aber begann jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Ich blühe gerade so schön und werde viele Beeren tragen, die im Herbst und im Winter den Vögeln als Futter dienen. Was wird aus den Ärmsten, wenn du mich fällst?“ Der Mann gab der Bitte der Eberesche nach und dachte: ‚Wenn es mit den Laubbäumen nichts wird, muss ich mein Glück bei den Nadelbäumen versuchen!‘ Er ging zur Fichte und wollte sie fällen.
Als die Fichte die Axt sah, begann sie jämmerlich zu bitten: „Lass mich am Leben! Ich bin noch jung und stark und muss meine Kinder großziehen, im Sommer und im Winter aber zur Freude der Menschen grünen. Wo würden sie Zuflucht finden, wenn du mich fällst?“ Der Mann gab der Bitte der Fichte nach und ging zur Kiefer.
Als die Kiefer die Axt sah, begann sie jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Bin noch jung und stark und muss mit der Fichte um die Wette grünen. Es wäre schade, wenn du mich fällst!“ Der Mann gab der Bitte der Kiefer nach und ging zum Wacholder, um ihn zu fällen.
Der Wacholder aber begann jammernd zu bitten: „Lass mich am Leben! Ich bin der größte Schatz des Waldes und bringe allen nur Glück, denn man kann mit mir neunundneunzig Krankheiten heilen. Was wird aus den Menschen und den Tieren, wenn du mich fällst?“
Nun setzte sich der Mann nieder und begann zu grübeln: „Was ist es doch wunderlich, dass jeder Baum seine Sprache hat und für sich bitten kann, um nicht umzukommen. Was soll ich tun, wenn ich keinen Baum mehr finde, der sich stillschweigend fällen lässt? Ich bringe es nicht übers Herz, ihnen ihre Bitte abzuschlagen. Hätte ich kein Weib würde ich mit leeren Händen heimkehren.“
Da trat aus dem Dickicht ein alter Mann hervor, mit langem, grauem Bart, einem Hemd aus Birkenrinde und einem Wams aus Fichtenborke, und fragte den Holzfäller: „Warum bist du so betrübt, Brüderchen? Hat dir jemand Schlechtes zugefügt?“ Der Mann erwiderte: „Warum sollte ich nicht betrübt sein? Ich nahm am Morgen die Axt und ging in den Wald, um Brennholz zu fällen und es nach Hause zu schaffen. Aber welch Wunder! Plötzlich scheint der ganze Wald zu leben, und jeder Baum hat eine Bitte, dass ich es nicht übers Herz bringe, sie ihnen abzuschlagen. Es komme, was da will aber ich habe kein Herz, die lebenden Bäume zu töten.“
Der Alte sah ihn mit gütigen Augen an und sagte: „Hab Dank, guter Mann, dass du ein Ohr für das Bitten meiner Kinder hattest. Für deine Güte werde ich dich belohnen und dafür sorgen, dass es dir nie an etwas fehlen wird. Das unvergessene Blut meiner Kinder soll dein Glück bedeuten. Es soll dir von jetzt ab niemals mehr an Brennholz fehlen, in dein Haus wird Segen ziehen, so dass du nichts weiter tun musst, als deine Wünsche auszusprechen. Verstehe aber, deine Wünsche zu zügeln. Sage es auch deinem Weib und deinen Kindern, dass sie in Maßen sich etwas wünschen sollen, so dass jeder Wunsch die Möglichkeit der Erfüllung nicht übersteigt. Sonst könnte das Glück zum Unglück werden. Hier, nimm diese Goldrute, und hüte sie wie deinen Augapfel!“
Er reichte dem Mann eine lange Goldrute und fügte noch hinzu: „Willst du ein Haus bauen oder andere notwendige Arbeit verrichten dann geh zum Ameisenhaufen, lasse dreimal darüber die Rute sausen, aber pass auf, dass du nicht den Ameisenhaufen triffst, sonst könntest du den kleinen Wesen weh tun. Sag ihnen, was du wünschst, und am Morgen wird alle Arbeit deinem Wunsch nach verrichtet sein Hast du Hunger, befiel dem Kochtopf zu kochen, was du begehrst. Möchtest du als Nachspeise etwas Leckeres, zeige die Goldrute den Bienen, und sie werden dir Honig bringen, der für dich und auch für deine Familie reichen wird. Möchtest du aber Saft, dann geh zur Birke oder zum Ahorn, sie werden deinen Wunsch sofort erfüllen. Die Eberesche wird dir Milch bringen und der Wacholder Gesundheit, du brauchst es ihnen nur zu sagen. Der Kochtopf wird dir jeden Tag Fisch- und Fleischgerichte kochen, ohne dass du nur ein Lebewesen zu töten brauchst. Möchtest du Seide oder wollenen Stoff, so sag es den Spinnen, sie werden dir weben, soviel du benötigst. Es wird dir an nichts fehlen, du wirst alles in reichlicher Fülle haben, denn du hattest ein Herz für meine Kinder und ließest sie am Leben. Ich bin der König des Waldes, der Herrscher aller Bäume.“ Dann sagte der Alte ihm Lebewohl und war im nächsten Augenblick verschwunden.
Der Mann hatte aber ein böses Weib, das ihn schon auf dem Hof wie ein zornig bellender Hund empfing, als es ihn mit leeren Händen aus dem Walde kommen sah. „Wo ist das Holz, das du bringen solltest?“ schrie das Weib. Der Mann erwiderte leise: „Es wächst im Walde weiter!“ Das Weib herrschte ihn zornig an: „Ach, hätten sich doch alle Birkenruten zu einem Bündel geschnürt und dir Faulpelz das Fell gegerbt!“ Der Mann ließ heimlich seine Rute sausen und sagte so, dass das Weib es nicht hörte: „Möge sich der Wunsch an dir selbst erfüllen!“ Plötzlich begann das Weib, laut zu jammern: „Aua-aua-au! Es tut ja so weh! Aua-au! Schenkt mir Gnade, schenkt mir Gnade!“ Mit lautem Geschrei sprang sie bald hierhin, bald dorthin und schrie und jammerte vor Schmerzen. Die Rute aber schlug immer wieder kräftig zu. Als der Mann dachte, es würde genug sein, gab er seiner Rute leise den Befehl.
Nun merkte der Mann, welch teures Geschenk er vom Herrscher des Waldes bekommen hatte, konnte er doch mit der Glücksrute auch sein böses Weib strafen. Auf seinem Hof stand ein alter Schuppen, und so beschloss er, noch am selben Tage die Baukunst der Ameisen zu probieren. Er ging zum Ameisenhaufen, ließ dreimal die Goldrute sausen und rief: „Baut mir bitte auf meinen Hof eine neue Scheune!“ Als er sich am anderen Morgen den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, sah er, dass die Scheune schon fertig war.
Wer hätte nun glücklicher sein können als der gütige Mann. Sie hatten nicht die geringsten Sorgen. Was das Herz begehrte und die Goldrute dem Kochtopf befahl, das brachte der Kochtopf ihnen auf den Tisch, und sie hatten weiter keine Mühe, als es zu essen. Die Spinnen webten ihnen Stoff, die Maulwürfe pflügten ihr Feld, und die Ameisen säten und brachten die Ernte ein, so dass der Mann und sein Weib keinen Finger zu krümmen brauchten. Wurde aber die Frau wieder böse oder hatte schlechte Gedanken, musste sie es durch die Macht der Goldrute selbst auskosten. Der Mann lebte mit der Goldrute glücklich bis ans Ende seiner Lebtage, denn er wünschte sich nie etwas, was unmöglich gewesen wäre. Vor seinem Tode vererbte er die Goldrute seinen Kindern und lehrte sie so, wie der Alte des Waldes es ihn gelehrt hatte, mit der Rute wie mit einem zarten Gegenstand umzugehen und sich nie Unmögliches zu wünschen. Die Kinder folgten dem Rat des Vaters und lebten ebenso glücklich wie er.

Quelle:
(Märchen aus Estland)

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