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Der Kastanienkönig

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Woran erkennt man einen König? An seiner goldenen Krone und an seinem Schloss, wird so mancher sagen. Doch die folgende Geschichte handelt von einem verwunschenen König, der im Wald in Gestalt eines Kastanienbaumes lebte. Er trug eine Baumkrone und war mit seinen Beinen tief in der Erde verwurzelt. Seine dicken, astigen Arme breitete er wie Flügel aus. Aus seinem Gesicht schauten zwei große, blaue Augen und eine knorrige Nase stand hervor. Er war der Kastanienkönig. Und genau dieser König sehnte sich nach einer Frau – einer schönen, liebenswerten Prinzessin, die ihm endlich die Erlösung bringen könnte. Doch kaum eine verirrte sich in den tiefen Wald. Also dachte der Kastanienkönig darüber nach, wie er eine Prinzessin in den Wald locken könnte. Schon bald kam ihm ein Geistesblitz. Er wollte lauter süße Früchte auf den Boden werfen. Seine Spezialität waren die Kastanien, deren Duft sich überall im Wald verbreitete. Sollte eine Königstochter des Weges kommen, würde sie sich gewiss in die Kastanien verlieben und nicht aufhören können, von ihnen zu naschen. Spätestens dann hätte der Kastanienkönig ihr Herz erobert und würde sie bitten, ihn zu heiraten.

Es dauerte nicht lange, und der Kastanienbaum bekam tatsächlich Besuch – allerdings nicht von einer Prinzessin sondern vom hungrigen Fuchs. Der Fuchs wunderte sich über die eigenartigen, braunen Kugeln, die überall auf dem Boden verstreut waren. Er trat näher heran, beschnupperte sie und überlegte: „Mmmh! Ob man die wohl essen kann?“ Zaghaft biss er in eine hinein und fand, dass sie lecker schmeckte. Gierig sammelte er so viele Kastanien auf, wie er tragen konnte und eilte damit davon.
Auf dem Heimweg begegnete er einem Bären, der ihn in ein Gespräch verwickelte. Als der Bär wissen wollte, was der Fuchs in der Hand hielt, antwortete dieser nur: „Ach, das sind ein paar Steine für meine Kinder zum Spielen!“
Genau in diesem Moment stieg dem Bären der herrliche Duft der Früchte in die Nase, und er stellte fest, dass der Fuchs nicht die Wahrheit sagte. Der Bär drohte dem Fuchs mit seiner mächtigen Tatze, bis dieser preisgab, wo diese Köstlichkeit zu finden sei. Stracks tappte Meister Petz zum Kastanienbaum, tat es dem Fuchs gleich und sammelte so viele Kastanien auf, wie er tragen konnte. Doch im Gegensatz zum Fuchs erzählte er allen Waldtieren von der wunderbaren Entdeckung. Im Nu wimmelte es rund um den Kastanienkönig herum nur so von Tieren. Ein Geschrei, ein unmögliches Durcheinander – sogar eine Rauferei fand wegen der merkwürdigen, leckeren Kugeln statt, sodass es dem Kastanienkönig beinahe das Herz brach, und er sich die Ohren zuhalten musste. Es war nicht in seiner Absicht gewesen, alle Tiere herzulocken. Er wollte doch nur eine Prinzessin beeindrucken. So konnte es nicht weitergehen. Für nächstes Jahr musste er sich etwas Besseres einfallen lassen.

Der Winter kam, der Frühling begann, der Sommer war zu Ende, der Herbst brach herein. Und der Kastanienkönig hatte lange genug Zeit, um einen Plan zu schmieden. Er war stolz auf seine geniale Idee. Er ließ wieder unzählige Kastanien zu Boden fallen, doch dieses Mal steckten sie alle in einem stacheligen Umhang. Kein Tier würde es je wieder wagen, sich über seine Kastanien herzumachen. Gerade in dem Moment, als der hungrige Fuchs vorbeikam, um nachzusehen, ob es wohl wieder solche köstlichen Kugeln gab, ließ der Kastanienkönig dem Fuchs einen großen Kastanienigel auf dessen Rücken fallen.
„Autsch!“, rief der Fuchs und blickte in die Luft. Er glaubte, eine Biene hätte ihn gestochen. „Merkwürdig! Haben die Früchte letztes Jahr nicht anders ausgesehen?“ Vorsichtig beschnupperte er die Kastanien und erkannte den herrlichen Duft wieder. Als er aber einen Kastanienigel in seine Schnauze nahm, schrie er vor Schmerzen auf und lief davon.
Wieder traf er den Bären, der natürlich wissen wollte, ob er die leckeren braunen Kugeln vom letzten Jahr gesehen hätte. Doch der Fuchs hatte solch höllische Schmerzen, dass er nicht antworten konnte. Der Bär musste sich also selbst davon überzeugen. Auch er lief zum Kastanienkönig und suchte vergebens nach den bekannten braunen Kugeln. Dafür aber trat er mit seinen Pfoten auf ein paar stachelige Wesen. Erschrocken machte der Bär kehrt und warnte alle Waldtiere, nicht in die Nähe des Kastanienbaumes zu gehen.

Nach drei Jahren aber, als der Kastanienkönig die Hoffnung auf eine Prinzessin längst aufgegeben hatte, verirrte sich tatsächlich eine wunderschöne Königstochter in den Wald. Bei einem Überfall auf den Palast wurde sie entführt, ist aber den Feinden entkommen. Was aus den königlichen Eltern geworden war, hat sie nicht in Erfahrung bringen können. So irrte sie nun umher und fand keinen Weg, der nach draußen führte.
Der herrliche Duft der Kastanien ließ die Prinzessin all ihren Kummer vergessen. Vorsichtig versuchte sie, die Igel auf dem Boden aufzubrechen, um dann genüsslich die Früchte zu verzehren. Der Kastanienkönig schaute ihr dabei erleichtert zu und sprach sie an.
Erschrocken drehte sich die Prinzessin nach allen Seiten, konnte aber niemanden sehen.
„Hier stehe ich – vor dir!“, erklärte der mächtige Baum. „Ich bin der Kastanienkönig. Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet!“
Da bemerkte die Prinzessin den großen, starken Baum. Er bot ihr an, bei ihm zu bleiben. Und weil die Prinzessin nicht wusste wohin, vergebens im Wald umherirrte, nahm sie sein Angebot an. Sie verbrachte drei weitere Jahre in der Nähe des Kastanienkönigs. Langweilig wurde ihr bei ihm nie. Sie fand, dass der Kastanienkönig große, blaue Augen hatte und etwas Beruhigendes und Behütendes ausstrahlte. Unter seinen großen Ästen fühlte sie sich geborgen und beschützt.
Eines Tages nahm der Kastanienkönig all seinen Mut zusammen und fragte: „Möchtest du meine Gemahlin werden?“
Die Königstochter hatte mittlerweile den Kastanienkönig so lieb gewonnen, sodass sie sich ein Leben ohne ihn und seine Früchte nicht mehr vorstellen konnte. Also wurde ein großes Hochzeitsfest gefeiert, zu dem alle Tiere des Waldes, sogar der Fuchs und der Bär, eingeladen waren. Der Uhu traute die beiden.

Und dann geschah es: Als die Braut den Kastanienkönig küssen wollte, bröckelte die Rinde um ihn herum in großen Stücken ab. Statt des Baumes stand nun ein Prinz mit strahlend blauen Augen vor der Prinzessin. Mitten im Wald stand ein prächtiges Schloss, rundherum eingesäumt von herrlich duftenden Kastanienbäumen.
Wie war die Prinzessin glücklich, als sie ihren Gemahl in Menschengestalt an sich drücken konnte. Und da sie den Weg ins elterliche Schloss der nun jungen Königin nicht mehr fanden, blieben beide im Waldschloss.
Wäre die Prinzessin nicht entführt worden, so würde der Kastanienkönig ganz sicher noch heute auf seine Erlösung warten.

Quelle: Carmen Kofler

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