1.5
(2)
Dort, wo die blauen Wogen der Ostsee die schneeweißen Kreideklippen der Insel Rügen umspülen, lag vor langer Zeit, zwischen Felsen eingezwängt, ein einsames, winziges Fischerhaus. Gleich dem Neste der Seeschwalbe war es hoch über dem Meeresspiegel erbaut. Keine noch so hohe Flut vermochte das Bauwerk zu erreichen, und darum konnten seine Bewohner ohne Sorge auf die entfesselten Wogen blicken, wenn der Sturm sie brandend gegen die Felsen schlenderte. Mochten sie sich noch so gierig recken und dehnen, so hoch reichte ihre Macht nicht. Lachend betrachtete Jan Classen, der Fischer, die vergeblichen Anstrengungen des Meeres, sein Heim zu vernichten, und die Wut, mit welcher die Wogen unverrichtetersache schäumend und brausend wieder zurückstürzten. Ja, solch ein Unwetter vom sicheren Ort aus zu beobachten und der Gewalt der Fluten zu spotten, das war Jans größtes Vergnügen. Dann stand er vor seiner Hütte auf dem Felsenvorsprunge, drückte die Lederkappe fest auf den Kopf und stemmte die harten braunen Hände in die Seiten. Sein sonst so gleichgültiges Gesicht schien Leben zu bekommen. In den festen Zügen mit den unzähligen Falten und Runzeln zuckte es wie Wetterleuchten, und seine Augen funkelten vor heimlicher Lust. „Ja, brülle nur, tobe nur“, schrie er in das Donnern des Meeres hinein, „mich sollst du nicht verschlingen! Mein Häuschen steht hoch, mein Kahn ist fest, und meine Hand hat Kraft genug, mein Fahrzeug zu zwingen!“
„Rede doch nicht so, Mann“, mahnte eine tiefe Frauenstimme. In der Tür der Hütte erschien eine hochgewachsene, kräftige Frau; auch ihr Äußeres zeigte, daß ihr harte Arbeit und Kampf mit Wind und Wetter zur Gewohnheit geworden waren. Aus ihren Gesichtszügen sprach ruhiger Ernst. Große blaue Augen blickten treuherzig-freundlich, die gerade, scharfgeschnittene Nase, der festgeschlossene Mund und das starke Kinn deuteten auf Willensstärke, indessen sich über das gebräunte Antlitz ein Ausdruck von Gutmütigkeit verbreitete. Gekleidet war sie in die dunkle Tracht, welche bei den Frauen Rügens üblich war. Zeugte der Anzug auch von großer Armut, so doch auch wiederum von peinlicher Ordnung und Sauberkeit.
Sie war einst ein hübsches Mädchen gewesen, die Helge, und viele junge Männer hatten sich um sie beworben, auch wohlhabendere als Jan Classen. Sie hätte nur zuzugreifen brauchen, und sie wäre des reichsten Bauern Weib geworden und hätte heute in teuren Kleidern mit goldenen Knöpfen einhergehen können. Ihre Mutter hatte ihr vergebens zugeredet, ihr Glück nicht von sich zu stoßen, und hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie erfuhr, daß Helge den wilden, unbändigen, jähzornigen Jan heiraten wollte. Dieser besaß nichts als einen Fischerkahn, und ein Häuschen wollte er sich erst von seinen Ersparnissen bauen, die er als Steuermann eines Kauffahrers erworben hatte. Und doch wurde es so. Allgemein bedauerte man, daß die brave Helge eine solche Wahl getroffen hatte, und die Mutter sagte ärgerlich: „Meinetwegen denn, wenn du dir einmal einbildest, daß du den wilden Menschen zähmen willst. Komme mir aber später nicht mit Klagen!“ Helge kam nicht mit Klagen, obgleich sie viel unter ihres Mannes Ungestüm und rohem Sinn zu leiden hatte.
Aber sie hatte ihn eben lieb und er sie auch.
Das Häuschen, welches Jan sich weitab von allen andern erbaut hatte, war wohl klein, doch nett und wohnlich. Helge wußte der sehr bescheidenen Einrichtung eine solche Behaglichkeit zu geben, daß es jedem wohltat, der in die kleine Stube trat. Aber nicht nur ihr kleines Hauswesen hielt sie in Ordnung; sie half ihrem Mann auch tüchtig bei der Arbeit. Sie fuhr mit hinaus zum Fischfang, trocknete und räucherte die Fische, strickte, flickte und wusch die Netze, kurz: Sie war eine richtige und echte Gefährtin ihres Mannes. Ja, und wenn er es auch nicht laut sagte, er empfand ihren Wert gut und ehrte und liebte sie in seiner barschen Weise. Er gab viel auf ihren Rat und ihre verständige Rede, wenn er ihr auch scheinbar niemals recht gab. Vielleicht hätte sich seine Rauheit noch gemildert, wenn die bunte Wiege, die ihnen als Hochzeitsgabe verehrt worden war, nicht leer geblieben wäre. Doch Jahr um Jahr ging dahin, und das Paar blieb allein. Kein helles Kinderlachen unterbrach die Stille der Hütte, kein Kindesauge strahlte Jan und Helge an. Und sie hätten sich beide unendlich gefreut, wenn ihnen solches Glück beschert worden wäre.
So schön das Häuschen gelegen war — es gewährte einen prächtigen Ausblick auf das weite Meer —, so gab es dabei doch einen Punkt, über den Helge mit ihrem Manne nie einig wurde, und das war die Nachbarschaft einer wunderbaren QueIle. Unweit der Hütte quoll klares, reines Wasser aus dem Felsen. Es war von einer merkwürdig blaugrünen Farbe, genau wie Seewasser, jedoch von süßem Geschmack. Als munteres Bächlein stürzte es sich über die FeIsen hinab in das Meer, mit dem es sich sofort verband. Jan hatte sein Haus mit gutem Bedacht in die Nähe dieser Quelle gebaut, da Trinkwasser sonst nur aus großer Entfernung zu beschaffen war. Es gab zwar den Herthasee in der Nähe; aber daraus mochte niemand Wasser für den Haushalt schöpfen.
Kurze Zeit, nachdem Helge als junge Frau in ihr neues Heim gezogen war, fiel es ihr auf, daß sich in der Quelle jedesmal ein sonderbares Brausen und Rauschen bemerkbar machte, wenn sie ihre Eimer dort füllte. Einigemal war es ihr vorgekommen, als ob ein wunderliches Gesicht sie aus dem klaren Wasserspiegel drohend angeblickt hätte, so daß sie erschrocken zurückfuhr.
Eines Tages wollte sie eben wieder zur Quelle gehen, da begegnete ihr der greise Knut, der Ziegenhirt, der wohl mehr als hundert Jahre alt sein mochte.
Als er sah, daß die Frau in der Felsenquelle Wasser schöpfen wollte, fiel er ihr entsetzt in den Arm und rief: „Was beginnst du, törichtes Weib, willst du mit aller Gewalt Unheil über dich und deinen Mann bringen? Weißt du nicht, daß diese QueIle der Eingang zur Wohnung des Klabautermanns ist?“
„Was sagst du“, stammelte Helge erschrocken, „hier wohnt der boshafte Wassergeist, der seine Freude daran hat, wenn die Schiffe ins Verderben stürzen?“
„Jaja.“ Der Alte nickte.
„Dein Mann weiß es recht gut; aber in seinem wilden Frevelmut hat er sich fern von allen Menschen trotzig hier angebaut.“
Helge überlief es eiskalt. Sie überlegte, daß sie ja, ihren ganzen Bedarf an Wasser von jeher aus dieser Quelle geschöpft hatte und daß ihr auch in Zukunft nichts anderes zu tun übrigblieb. Wie, wenn dies nun den Zorn dieses unheimlichen Wasserzwerges erregte, der von den Seeleuten so gefürchtet war? Hatte sie nicht oft erzählen hören, wie der Klabautermann, lachend seine Laterne schwenkend, auf dem Kiel des Schiffes hockte oder in den Rahen umherkletterte, wenn des Wetters Ungestüm das Schiff, das dem Untergang geweiht war, in seinen Fugen erbeben ließ? Wenn der Blitz den Mast zerschmetterte, wenn die wilden Wogen das Steuer entrissen, wenn das unglückselige Wrack dem Untergang nahe war und die Besatzung dem Wellentod entgegensah, dann jauchzte der Klabautermann, und bis zum letzten Augenblick verweilte er auf dem untergehenden Fahrzeug. Versank es endlich in den tosenden Fluten, so war der letzte Ton, der an die Ohren der Ertrinkenden schlug das gellende Gelächter des Klabautermanns. Und aus seinem Bereich war Helge gezwungen, Wasser zu holen! Natürlich hatte sie diese Tatsache sofort ihrem Manne mitgeteilt und ihn inständig gebeten, sich doch bei all den andern Menschen im Dorf ein neues Häuschen zu bauen. Gern wollte sie alle ihre Ersparnisse hingeben, um nur dieser gefährlichen, unheimlichen Nachbarschaft zu entgehen. Aber da war sie schön angekommen! Jan wollte über Helges Entsetzen schier platzen vor Lachen und rief: „Närrisches Weib, denkst du, ich weiß nicht, wer unser Nachbar ist? Das ist’s ja eben, was mir Spaß macht, daß uns der wunderliche Kauz Trinkwasser geben muß, er mag wollen oder nicht. Sei nicht so dumm, dich zu fürchten! Der Klabautermann ist kein so schlimmer Gesell, wie du glaubst. Ich habe Beispiele genug gehört, daß er Schiffer und Fischer sogar beschützt hat.“
„Um so weniger hättest du seinen Unwillen herausfordern sollen“, entgegnete die Frau ernst. „Man muß die Bosheit nie herausfordern und die Gutmütigkeit nicht mißbrauchen. Warum störst du den Wassergeist in der Stille seiner Wohnung? Ich glaube nicht, daß es ihm gefällt, wenn ich den Eimer in die Quelle hinablasse.“
„Ach, Weibergeschwätz“, brummte der Fischer. „Wenn ihm meine Nachbarschaft nicht gefällt, mag er fortziehen!“
Helge seufzte. Sie wußte leider schon längst, daß ihr Mann niemals auf vernünftige Vorstellungen hörte, sondern nur seinem Eigenwillen folgte. Seit der Zeit ging sie mit Zagen und Widerwillen nach der Quelle. Viel lieber wäre sie drei Stunden nach dem Herthasee gegangen. Allein dessen Wasser war am Ufer oft trüb und schlammig. Sie schöpfte von nun an mit der größten Vorsicht und vergaß niemals, vorher hinabzurufen: „Bitte erlaube mir, ein wenig Wasser hier zu schöpfen.“ Alsdann war es ihr, als ob aus dem Wasserspiegel ein runzliges Antlitz zustimmend nickte.
Es war an einem sonnigen Sommernachmittag. Das Meer glitzerte ,und glänzte im Sonnenschein und murmelte leise wie ein Waldbächlein. Über ihm wölbte sich tiefblau die Himmelsdecke. Am Horizont flossen Himmel und Meer so innig zusammen, als ob man dort aus einem ins andere schreiten könnte. Helge war zur Quelle gegangen, hatte aber ihre Eimer hingestellt und saß nun, die Hände über dem Knie verschränkt, nachdenklich auf einem Felsenvorsprung. GedankenvoIl blickte sie in die Ferne. Dort draußen die weißen Punkte waren wohl die Fischerboote, bei denen sich auch Jan befand. Sie fühlte sich heute wieder einmal recht einsam. Die schwüle Stille wirkte niederschlagend auf ihr Gemüt. Es war so leer, so öde um sie. Warum war ihr nur das Glück nicht beschieden, ein Kindlein zu besitzen? Unwillkürlich hatte sie ihren Gedanken Worte verliehen; da, plötzlich ein Schrei, ein Platsch — und als sie sich erschrocken umsah, bemerkte sie, daß von dem steilen Abhang ein kleines Kind in die Quelle gefallen war. Diese war tief. Rasch und entschlossen beugte sich Helge über den Brunnenrand. In demselben Augenblick tauchte das Kind wieder empor. Sie erfaßte es, und mit einem kräftigen Ruck hob sie es hoch. Es war ein Knabe von vielleicht drei Jahren. Weder der Fall noch das Bad schienen ihm geschadet zu haben; denn er blickte seine Retterin mit hellen Augen an und lachte. Schön war er nicht, das mußte man sagen. Auf einem kleinen, schmächtigen, aber starkknochigen Körper saß ein großer, dicker Kopf, bedeckt mit langsträhnigem schwarzem Haar, das zottig in die breite, niedere Stirn hineinhing. Die gelbe Haut war straff über die hervorstehenden Backenknochen gezogen. Ein breiter Mund mit wulstigen Lippen ließ zwei Reihen mächtiger Zähne erkennen. Eine kleine, plumpe Nase gereichte dem Gesicht durchaus nicht zur Zierde, und nur die beweglichen grauen Augen verschönten dasselbe einigermaßen. Im Grunde bot der Junge den Anblick eines recht häßlichen, kleinen Ungetüms. Er schien überdies auch keineswegs von reicher Herkunft zu sein; denn das einzige Kleidungsstück, das er trug, war ein grobwollener, brauner Kittel. Seine krummen Beinchen waren unbedeckt.
Was fragt denn aber ein Frauenherz nach Schönheit, wenn sein Mitgefühl für ein hilfsbedürftiges Wesen erweckt wird! Frau Helge trocknete den armen Schelm mit ihrer Schürze ab und fragte ihn besorgt, ob er sich weh getan habe. Da riß der Kleine den Mund weit auf und schrie: „Nein, Purzelbaum ‚macht, bums, platsch!“ Dabei bezeichnete er den Vorgang so komisch mit Händen und Beinen, daß die Frau mitlachen mußte. Endlich fragte sie den Knaben, der es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht hatte: „Wie heißt du denn, mein Söhnchen? Wer sind deine Eltern, und wo wohnst du?“
Der Knabe schien aber gar nicht zu verstehen, was die Frau wissen wollte, sondern rief nur, vergnügt mit den Beinen strampelnd: „Bautzmann, Bautzmann!“
„Du kannst doch nicht Bautzmann heißen“, erwiderte verwundert Helge. Aber: „Oja, oja!“ beteuerte der Kleine lachend und zappelnd. Helge überlegte, was sie wohl mit dem Kind anfangen sollte. Es hatte etwas so Fremdartiges an sich und schien durchaus keine Auskunft über seine Angehörigen oder seine Heimat geben zu können. „Willst du mit mir kommen?“ fragte sie von neuem, und „ei ja, ei ja! Hunger, essen!“ antwortete der Kleine. Das ließ sich die Frau gesagt sein. Rasch füllte sie ihre Eimer, hob den einen auf die Schulter und hieß den Kleinen sich an der Hand festhalten, mit welcher sie den anderen Eimer trug.
Hei, wie der Junge mit den krummen Beinchen rennen konnte! Im Häuschen angekommen, holte Helge Ziegenmilch und Brot herzu, um den Hunger ihres Findlings zu stillen. Dieser war auf die Bank geklettert und stemmte die Ärmchen auf den Tisch, als ob er von jeher hier daheim gewesen wäre. In unglaublich kurzer Zeit hatte er die Speisen verzehrt; doch war er nicht so unbescheiden, noch mehr zu fordern, obgleich sich Helge erbot, ihm noch Milch und Brot zu holen. Er machte es sich bald bequem, streckte sich auf die Bank, legte den Kopf auf den Arm und schlief ein. Kopfschüttelnd betrachtete die Frau den kleinen Schläfer. Er war doch ein gar zu wunderliches Geschöpf. Was würde wohl ihr Mann zu dem kleinen Gast sagen?
Es wurde Abend. Helge war mit dem Zubereiten des Abendbrotes fertig und trat hinaus, um nach Jan auszuschauen. Da nahten die Boote schon. Flink lief sie zum Ufer hinab, um beim Landen zur Hand zu sein. Ihr Mann winkte ihr schon von weitem fröhlich zu und rief herüber: „Solchen Fang wie heute habe ich noch nie gemacht. Schau her, Weib, das Boot faßt die Fische kaum!“
HeIge schlug die Hände vor Erstaunen zusammen. Da galt es, sich zu rühren, um das Glück richtig zu nützen, damit die schöne Beute nicht verderbe. Vorläufig wurden die Fische in Fässer getan und für die Nacht an einen kühlen Ort gestellt. Morgen in aller Frühe sollte es an das Einsalzen oder Trocknen gehen. Die Sonne war bereits untergegangen, als Jan und Helge in die Stube traten, um sich das wohlverdiente Abendbrot schmecken zu lassen. Erst jetzt fiel es der Frau ein, daß sie ganz vergessen hatte, ihrem Mann von dem kleinen Ankömmling etwas zu sagen. Im Halbdunkel kollerte den Eintretenden ein sonderbares Etwas entgegen. Es war der kleine Junge, welcher ausgeschlafen hatte und nun zum Zeitvertreib Purzelbäume in der Stube schlug. Verwundert prallte Jan zurück; doch Helge erzählte kurz und bündig, während sie die Tranlampe anzündete, wie sie zu dem Kinde gekommen sei. Prüfend betrachtete der Fischer den wilden Knaben. Dann packte er ihn mit raschem Griffe beim Genick, stellte ihn auf die Beine und sagte: „Na, mal still, Knirps, muß doch sehen, was du eigentlich für ein Kerlchen bist.“
Der guckte ihn von unten herauf mit einer so komisch ernsthaften Miene an, daß Jan in lautes Lachen ausbrach und rief: „Gelt, Weib, gerade so hätte unser Söhnchen nicht ausschauen sollen. Ich werde morgen nach der Arbeit Umfrage halten, wohin der kleine Schelm gehört. Sollte sich jedoch niemand zu ihm finden, nun, so mag er eben bei uns bleiben.“ Ein listiger Blick schoß aus des Knaben Augen nach Jan und Helge. Diese jedoch bemerkten es nicht. Helge hob ihn auf die Bank, damit er an der abendlichen Mahlzeit teilnehme.
Jans Nachforschungen nach des Kleinen Eltern und Heimat blieben erfolglos, obgleich er sie beharrlich wochenlang fortsetzte. Bautzmännchen zeigte auch gar kein Verlangen, wieder fortzukommen, sondern fühlte sich in Classens Hause ganz heimisch. Helge war dies recht. Sie hatte den Wildfang liebgewonnen. „Er sieht auch gar nicht so häßlich aus, wie es mir anfangs vorkam“, sagte sie zu ihrem Mann. Doch dieser schlug ihr lachend auf die Schulter und fügte hinzu: „Weil du dich bereits an den Kleinen gewöhnt hast!“
Wochen und Monate gingen dahin. Der Knabe, den man Klaus genannt hatte, weil Bautzmann doch gar zu sonderbar klang, brachte Leben in das eintönige Dasein Jans und Helges. Er tummelte sich auch sorglos außerhalb des Häuschens, kletterte mit den beiden Ziegen um die Wette oder bat den Fischer so lange, bis er ihn mit auf den Fischfang nahm. Dann hockte er auf der Spitze des Kieles, und wenn das Boot auf bewegten Wellen auf und nieder tanzte, schrie er lustig: „Hoioho, hoioho!“ Anfänglich war Jan ängstlich gewesen, das Kerlchen könne am Ende ins Meer fallen. Aber diese Sorge schwand bald; denn Klaus klebte wie eine Klette an dem Kahn. Und als er eines Morgens doch ins Wasser purzelte, sah Jan zu seinem höchsten Erstaunen, daß er schwimmen konnte wie eine Wassermaus. Das schien ihm doch nicht mit rechten Dingen zuzugehen, und bedenklich sah er den Jungen von der Seite an, als er wieder im Boot stand und wie ein nasser Pudel das Wasser abschüttelte. Bald aber beruhigte er sich. Er dachte: Der Klaus ist jedenfalls älter, als wir gemeint haben. Er ist nur so klein, und bei seinem häßlichen Gesicht läßt sich das Alter schwer bestimmen. Es ist schade, daß er darüber keine Auskunft geben kann.
Einige Tage später begleitete Klaus seine Pflegemutter, die eine Bütte voll Fische nach dem Markte trug. Unterwegs begegnete ihnen der alte Knut, der Ziegenhirt. Kaum hatte er den Knaben an Helges Seite erblickt, so fuhr er zusammen, als ob ihn eine Natter gestochen hätte. Starr sah er ihn an und hob warnend die Hand in die Höhe. „Woher habt Ihr denn den Jungen, Helge Classen?“ rief er aus. „Schafft ihn schleunigst wieder hin, wo Ihr ihn gefunden habt. Denkt an meinen Rat!“ Klaus war hinter die Frau getreten und schnitt dem Hirten eine fürchterliche Fratze, wobei er drohend die kleine Faust ballte. Doch dieser ließ sich nicht irremachen, sondern sagte mit erhobener Stimme: „Er scheint aus Holland zu stammen, man hört es an der Sprache. Jaja, dort gibt es Leute, die haben Wohnungen wie die Dachse und Füchse. Nur daß sie mit Wasser gefüllt sind und ihre Ausgänge an den Ufern aller Meere haben, damit sie bei der Hand sind, wenn Sturm und Wetter die Schiffe in Not bringen!“
Hätte jetzt Frau Helge Obacht auf ihren Schützling gehabt, so würde sie mit Entsetzen die Veränderung bemerkt haben, die mit ihm vorging. Die Füße schienen vor Wut den Erdboden zerstampfen zu wollen. Die Gesichtszüge waren verzerrt. Aus dem Munde fletschten die Zähne wie bei einem Raubtier, und die Augen schienen Flammen zu sprühen. Von alledem nahm die gute Frau jedoch nichts wahr. Sanft antwortete sie: „Wir haben das hilflose Kind aufgenommen, weil niemand es haben mochte, und bis jetzt haben wir keine Ursache, den armen Schelm wieder fortzujagen. Uns ist endlich ein Kind geschenkt worden, das wir liebhaben können. Nicht wahr, Klaus, du hast uns auch lieb?“ Bei den freundlichen Worten Helges hatten sich die Mienen des Knaben wieder aufgehellt, und jetzt antwortete er freundlich, nicht ohne einen Seitenblick auf Knut, der mit vorgestrecktem Kopf aufhorchte: „Ja, habe euch lieb; Bautzmann will bei euch bIeiben!“
Bei dem Namen Bautzmann zuckte Knut zusammen, fuchtelte nochmals warnend mit seinem Stock in der Luft herum, sagte aber nichts mehr, sondern hinkte davon.
So war der Spätherbst gekommen. Das Wetter wurde von Tag zu Tag stürmischer und für die Fischer gefährlicher. Mit Sorge sah Helge oftmals ihren Mann hinausfahren auf die stürmische See. Sein alter Trotz und Übermut, die eine Zeitlang geruht hatten, brachen plötzlich mit Gewalt wieder hervor, und er achtete weder auf Bitten noch auf Warnungen. Seine Lust an der Gefahr überwog alle vernünftigen Vorstellungen. Auch den kleinen Klaus befiel eine merkwürdige Unruhe. Er kam oft den ganzen Tag nicht heim, und Helge lebte in fortwährender Angst, daß ihm ein Unglück widerfahren sei. Seit die schlimme Witterung eingetreten war, durfte er Jan nicht mehr beim Fischfang begleiten. Seine Bitten wurden rauh zurückgewiesen: „Das fehlte mir noch, auf einen unnützen Bengel aufpassen zu müssen, wenn man alle Hände voll zu tun hat, um mit Wind und Wasser fertig zu werden. Warte, bis du groß bist, dann kannst du mir helfen!“
Eines Tages rüstete sich Jan wieder zum Fischfang. Der Sturm heulte um die Hütte, als ob alle bösen Geister losgelassen wären. Dichte Nebel verhüllten das Meer. Die Sonne glich einem schwefelgelben Ball, der sich mühsam im Firmament fortwälzte. Als Jan das Boot klarmachte, war ihm Helge gefolgt. Sie war zum Mitfahren fest entschlossen, damit ihr Mann wenigstens jemanden in der Nähe habe, der ihm beistehen könne. Aber barsch und ungestüm hatte dieser ihre Hilfe zurückgewiesen. „Ich bin Manns genug“, schrie er ihr zu, „und ich brauche keinen Weiberbeistand. Du willst mich wohl gar retten, wenn es an Hals und Kragen geht? He? Da müßte ich mich ja schämen und auslachen lassen! Nein, du bleibst daheim. Punktum!“
Als Jans Boot in den wallenden Nebelmassen verschwunden war, kehrte Helge tiefbetrübt ins Häuschen zurück. Eben schlüpfte Klaus mit einem listigen Lächeln zur Hintertür hinaus, als die Frau in die Stube trat und sich nach dem Knaben umsah. Es war ihr gar nicht lieb, daß auch er sich bei dem bösen Wetter umhertrieb. Wollte er es ihrem Manne nachtun? Der Tag schlich dahin. Gegen Abend hellte sich der Himmel etwas auf. Heute war Vollmond. In Helges geängstigtem Herzen stieg die Hoffnung auf, daß ihr Mann beim Mondenschein zurückkehren werde, wenn nur das Meer sich erst etwas beruhigte.
Auch Klaus war den ganzen Tag nicht heimgekommen. Wo trieb sich nur der Bub umher? Die Frau trat vor die Tür, um nach ihm auszuschauen. Siehe, da nahte der alte Knut. Er winkte und machte schon von weitem allerhand Zeichen, daß Frau Helge mit ihm kommen solle. Ein Schrecken durchfuhr sie. War ein Unglück geschehen? Knut ging eilenden Schrittes den steilen Weg hinab, der in das Tal führte, wo der Herthasee lag. Immer winkend, rief er Helge halblaut zu: „Geschwind, geschwind, daß wir unten sind, wenn der Mond aufgeht. Da werdet Ihr sehen, was Ihr mir nicht glauben wolltet!“
Der Frau klopfte das Herz. Was sollte sie nur erfahren? Jetzt waren sie angekommen. Knut faßte sie bei der Hand und zog sie hinter einen Felsvorsprung von dem aus man ungesehen das Tal beobachten konnte. Alles lag still. In wunderlichen Formen und Gestalten wallten die Nebelschleier durcheinander. Ein fahles Licht ließ alles noch unheimlicher erscheinen. Aus dem sumpfigen Boden am Rande des Sees tauchten zahllose Irrlichter auf. Leuchtende Dünste durchzogen die Luft. Es war ein Leben und Treiben, das unheimlich aussah. Plötzlich erschien den Mond über den Hügeln, und sofort veränderte sich das Bild. Den Abhang herab schritt Hertha, eine große weißgekleidete Frau. Weithin wallte ihr goldblondes Haar gleich einem mächtigen Schleier. Ihre großen blauen Augen strahlten in mildem Glanz; doch über ihrer ganzen Erscheinung lag der Ausdruck tiefer Trauer. Als sie am See angekommen war, umringten sie zahllose weibliche Wesen, die aus den Nebeln entstanden waren. Sie brachten einen goldenen Wagen herbei, den sie vorher im See gewaschen hatten. Aber siehe, er war morsch, und die Speichen seiner Räder waren zerbrochen. Im wogenden Reigen zogen sie den Wagen hinweg, und nun umtanzten Kobolde und Erdgeister die betrübte Frau, die teilnahmslos am Seeufer saß und nach dem stillen Monde blickte.
Da veränderte sich das Bild. Mitten auf dem See kam ein sonderbares Wesen in einem Muschelwagen gefahren. Beinahe hätte Helge laut aufgeschrien und „Klaus!“ gerufen, wenn ihr nicht zu rechter Zeit Knut die Hand auf den Mund gelegt hätte. Das Männchen sah aber durchaus nicht kindlich aus, sondern trug einen langen, dunklen Bart, auf dem Kopf eine Lederkappe und war nach Art der holländischen Schiffer gekleidet. In der Hand hielt es eine weithin leuchtende Laterne, weIche es lustig im Kreise schwang. Vor der weißgekleideten Frau machte es halt, verneigte sich und schien ihr leise etwas mitzuteilen, wobei es mehrmals nach der Richtung deutete, in der Classens Hütte lag. Ein Schimmer von Heiterkeit überflog Herthas Gesicht, als sie den Kleinen abschiednehmend freundlich grüßte. Dieser lenkte alsbald seine Muschel nach der Mitte des Sees, wo er versank. In diesem Augenblick kamen düstere Wolken und verhüllten den Mond. Im Nu verschwanden auch die übrigen Gestalten auf dem Herthasee sowie Hertha selbst. In der Luft ertönte ein dumpfes, entsetzliches Brausen, und mit doppelter Gewalt brach das Unwetter wieder los. Helge war regungslos. Ihr wirbelte der Kopf von dem Gesehenen. Der Schrecken nahm ihr den Atem und ließ sie keinen Gedanken fassen.
Da packte Knut sie am Arm und rief: „Wißt Ihr nun, wen Ihr bei Euch aufgenommen habt? Habt Ihr den Klabautermann erkannt?“ HeIge konnte nicht antworten. Sie nickte nur stumm und ließ sich willenlos von dem Hirten hinwegziehen. Es war schwer, das Häuschen zu erreichen; denn die Naturgewalten schienen sich verschworen zu haben, den entsetzlichsten Reigen aufzuführen. Das Meer brüllte und schleuderte Wogenberge brandend gegen die Felsen, als ob es das Eiland vernichten wollte. Jammernd rang Helge die Hände; denn aus diesem Aufruhr der Natur kehrte wohl ihr Mann nimmer zurück.
Voll Trotz und sehr befriedigt, sein Weib zurückgewiesen zu haben, segeIte Jan hinaus auf die See. Obgleich Wind und Nebel für den Fischer keine Verbündeten sind, senkte er doch die Netze ins Meer. Er hatte aber heute entschieden Unglück. Zuerst geriet das Netz an eine Klippe, und es war noch gut, daß es völlig zerriß; denn beinahe wäre durch die Gewalt des Rucks das Boot gekentert. Während Jan damit beschäftigt war, das Netz aus dem Wasser zu ziehen, legte sich der Wind in das Segel, und von neuem kam das Schiff in Gefahr umzuschlagen. Jan arbeitete aus Leibeskräften, um das Segel zu reffen; denn der Sturm erhob sich immer mehr. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm endlich. Dichter und kälter umgaben die Nebelmassen den einsamen Fischer. Kaum konnte er die blendendweißen Schaumkämme der heranstürzenden Wogen erkennen. Doch der wetterharte Mann verzagte nicht. Mit eiserner Faust hielt er das Steuer und lugte scharf aus, daß er vor dem Winde blieb. Allerdings sagte er sich, daß er auf diese Weise keine Aussicht hätte, wieder in die Nähe der Heimatinsel zu gelangen, sondern vielmehr auf das weite Meer hinaustrieb. Mittag war vorbei, als sich der Wind einigermaßen legte und hier und da ein Riß in der Nebelwand entstand. Eiligst hißte Jan das Segel auf, und durch Kreuzundquerfahrt hoffte er, die Rückkehr noch vor dem Dunkelwerden bewerkstelligen zu können. Es sollte ihm nicht gelingen. Der Sturm schien nur Atem geholt zu haben; denn als der Abend nahte, erhob er sich mit erneuter Gewalt. Gleichzeitig brach eine dichte Finsternis herein, und der unglückliche Fischer sah sich rettungslos dem empörten Meere preisgegeben. Vergebens kämpfte er mit Aufbietung seiner letzten Kräfte in Todesangst um sein Leben. Längst waren ihm das Spotten und das Trotzen vergangen. Noch einmal durchbrach der Vollmond die Wolken und den Nebel; dann wurde es wieder tiefe Nacht. Stumpf und starr, nur noch krampfhaft das Steuer umklammernd, hockte Jan in seinem Boot. Da, plötzlich, was war das? Welch sonderbarer Lichtschein? Was kauerte denn da vorn auf dem Kiel? Dem Fischer lief es eiskalt über den Rücken, als er erkannte, daß es ein zwerghaftes Männchen mit einem langen Bart war, welches eine Laterne im Kreise schwang und gellend dazu lachte. „Der Klabautermann!“ murmelte der erblassende Jan.
„Ja, der Klabautermann!“ kreischte der Kleine. „Erkennst du mich nicht?“
„Klaus, Bautzmann!“ rief entsetzt der Fischer.
„So ist’s“, entgegnete der. „Ich bin Helges und dein Pflegesohn. Euch zu prüfen, kam ich in euer Haus. Jetzt siehst du nun, eigenwilliger, hochmütiger Mensch, wohin dich dein wilder Trotz geführt hat.“ Jan vermochte nicht zu antworten. Seine Zähne schlugen klappernd gegeneinander, und die helle Verzweiflung malte sich auf seinen Zügen. Seine schlotternden Beine trugen ihn nicht mehr. Kraftlos sank er in sich zusammen, und seinen Händen entglitt das Steuer. Hei, wie das befreite Schifflein nun auf den turmhohen Wogen tanzte; ein lustiges Spiel, wenn es nur nicht so verderblich gewesen wäre! Des Fischers Übermut war gebrochen. Er ergab sich in sein Schicksal und erwartete den Tod, den er selbst heraufbeschworen hatte. „Klaus“, bat er mit leiser, demütiger Stimme, „ich habe mein Los verdient. Wenn es aber noch eine Gnade für mich gibt, so bitte ich dich: Grüße mein armes Weib, tröste sie und verlasse sie nicht!“
Der Kleine hob seine Laterne empor und leuchtete dem Mann ins Gesicht. Nachdem er ihn durchdringend angesehen hatte, rief er. „Will sehen, was sich für dich tun läßt.“ Und für sich setzte er hinzu: „Diese Lehre wird er nicht vergessen!“ In demselben Augenblick raste eine Riesenwelle heran, und — verschwunden war das kleine Fahrzeug mit seinen Insassen.
Am andern Morgen ging die Sonne fröhlich und heiter auf, gerade als ob niemals ein Unwetter sie verdunkelt hätte. Das Meer murrte noch ein wenig, die Wellen schlugen noch unruhig gegen den Strand; aber die unendliche Wasserfläche machte einen friedlichen Eindruck.
In Classens Hütte war es still. Helge saß vor dem großen Bett, dessen buntgeblümte Vorhänge zurückgeschlagen waren, und blickte besorgt auf ihren Mann, der mit verbundenem Kopf in den Kissen lag und im Fieber irre redete. Sie beachtete die eigene Erschöpfung nicht. Hatte sie doch die ganze Nacht in Sturm und Graus am Ufer gestanden und in Angst auf ihren Mann gewartet. Beim Morgengrauen hatte sie auf einmal ein kreischendes „Hoioho“ vernommen. Gleich darauf spülte eine Welle mit dumpfem Krach ein Boot ans Ufer, in dem sich, mit einem Seil an die Ruderbank festgeschnürt, Jan befand. Voll Schreck und doch voll Jubel hatte Helge ihren Mann losgeknüpft. Freilich gab er nur schwache Lebenszeichen von sich und blutete aus einer Kopfwunde; aber die brave Helge hob ihn auf und trug ihn in die Hütte. So befand sich nun der Fischer in treuer Pflege, und nach wenigen Tagen hatte das gute Weib die Freude, ihren Mann genesen zu sehen.
War dies aber noch ihr wilder Jan? Er war wie ausgewechselt. Ernst und sanft, ruhig in seinem ganzen Benehmen, konnte sie ihn kaum wiedererkennen. Er bemerkte das freudige Erstaunen seiner Frau und benützte die erste Gelegenheit, als sie abends bei der Lampe behaglich beisammensaßen, ihr die Erlebnisse seiner letzten Schreckensfahrt zu erzählen. Am Schlusse reichte er ihr die Hand und sagte: „Von nun an will ich ein anderer werden. Nie wieder werde ich mich mutwillig in Gefahr begeben. Wir wollen uns im Dorf bei all den andern Menschen anbauen, dann werden wir auch den Klabautermann in Zukunft nicht mehr belästigen.“ Wie froh war Helge über diesen Entschluß!
Sie erzählte, was sie mit Knut gesehen hatte, und Jan hörte ihr voll Staunen zu.
Im nächsten Frühjahr wurde im Dorf ein neues Häuschen erbaut. Es gehörte Jan Classen. Schon im Spätsommer konnte das glückliche Ehepaar einziehen. Hier sollte ihnen auch eine Freude zuteil werden, die ihnen bisher versagt geblieben war; denn im Herbst lag ein prächtiger Junge in der bunten Wiege. Von nun an wurde ihr Glück durch nichts gestört.
Den Klabautermann sahen sie nie wieder. Sein Andenken aber hielten sie in Ehren und litten nicht, daß man ihn einen boshaften Wassergeist schalt.
„Rede doch nicht so, Mann“, mahnte eine tiefe Frauenstimme. In der Tür der Hütte erschien eine hochgewachsene, kräftige Frau; auch ihr Äußeres zeigte, daß ihr harte Arbeit und Kampf mit Wind und Wetter zur Gewohnheit geworden waren. Aus ihren Gesichtszügen sprach ruhiger Ernst. Große blaue Augen blickten treuherzig-freundlich, die gerade, scharfgeschnittene Nase, der festgeschlossene Mund und das starke Kinn deuteten auf Willensstärke, indessen sich über das gebräunte Antlitz ein Ausdruck von Gutmütigkeit verbreitete. Gekleidet war sie in die dunkle Tracht, welche bei den Frauen Rügens üblich war. Zeugte der Anzug auch von großer Armut, so doch auch wiederum von peinlicher Ordnung und Sauberkeit.
Sie war einst ein hübsches Mädchen gewesen, die Helge, und viele junge Männer hatten sich um sie beworben, auch wohlhabendere als Jan Classen. Sie hätte nur zuzugreifen brauchen, und sie wäre des reichsten Bauern Weib geworden und hätte heute in teuren Kleidern mit goldenen Knöpfen einhergehen können. Ihre Mutter hatte ihr vergebens zugeredet, ihr Glück nicht von sich zu stoßen, und hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie erfuhr, daß Helge den wilden, unbändigen, jähzornigen Jan heiraten wollte. Dieser besaß nichts als einen Fischerkahn, und ein Häuschen wollte er sich erst von seinen Ersparnissen bauen, die er als Steuermann eines Kauffahrers erworben hatte. Und doch wurde es so. Allgemein bedauerte man, daß die brave Helge eine solche Wahl getroffen hatte, und die Mutter sagte ärgerlich: „Meinetwegen denn, wenn du dir einmal einbildest, daß du den wilden Menschen zähmen willst. Komme mir aber später nicht mit Klagen!“ Helge kam nicht mit Klagen, obgleich sie viel unter ihres Mannes Ungestüm und rohem Sinn zu leiden hatte.
Aber sie hatte ihn eben lieb und er sie auch.
Das Häuschen, welches Jan sich weitab von allen andern erbaut hatte, war wohl klein, doch nett und wohnlich. Helge wußte der sehr bescheidenen Einrichtung eine solche Behaglichkeit zu geben, daß es jedem wohltat, der in die kleine Stube trat. Aber nicht nur ihr kleines Hauswesen hielt sie in Ordnung; sie half ihrem Mann auch tüchtig bei der Arbeit. Sie fuhr mit hinaus zum Fischfang, trocknete und räucherte die Fische, strickte, flickte und wusch die Netze, kurz: Sie war eine richtige und echte Gefährtin ihres Mannes. Ja, und wenn er es auch nicht laut sagte, er empfand ihren Wert gut und ehrte und liebte sie in seiner barschen Weise. Er gab viel auf ihren Rat und ihre verständige Rede, wenn er ihr auch scheinbar niemals recht gab. Vielleicht hätte sich seine Rauheit noch gemildert, wenn die bunte Wiege, die ihnen als Hochzeitsgabe verehrt worden war, nicht leer geblieben wäre. Doch Jahr um Jahr ging dahin, und das Paar blieb allein. Kein helles Kinderlachen unterbrach die Stille der Hütte, kein Kindesauge strahlte Jan und Helge an. Und sie hätten sich beide unendlich gefreut, wenn ihnen solches Glück beschert worden wäre.
So schön das Häuschen gelegen war — es gewährte einen prächtigen Ausblick auf das weite Meer —, so gab es dabei doch einen Punkt, über den Helge mit ihrem Manne nie einig wurde, und das war die Nachbarschaft einer wunderbaren QueIle. Unweit der Hütte quoll klares, reines Wasser aus dem Felsen. Es war von einer merkwürdig blaugrünen Farbe, genau wie Seewasser, jedoch von süßem Geschmack. Als munteres Bächlein stürzte es sich über die FeIsen hinab in das Meer, mit dem es sich sofort verband. Jan hatte sein Haus mit gutem Bedacht in die Nähe dieser Quelle gebaut, da Trinkwasser sonst nur aus großer Entfernung zu beschaffen war. Es gab zwar den Herthasee in der Nähe; aber daraus mochte niemand Wasser für den Haushalt schöpfen.
Kurze Zeit, nachdem Helge als junge Frau in ihr neues Heim gezogen war, fiel es ihr auf, daß sich in der Quelle jedesmal ein sonderbares Brausen und Rauschen bemerkbar machte, wenn sie ihre Eimer dort füllte. Einigemal war es ihr vorgekommen, als ob ein wunderliches Gesicht sie aus dem klaren Wasserspiegel drohend angeblickt hätte, so daß sie erschrocken zurückfuhr.
Eines Tages wollte sie eben wieder zur Quelle gehen, da begegnete ihr der greise Knut, der Ziegenhirt, der wohl mehr als hundert Jahre alt sein mochte.
Als er sah, daß die Frau in der Felsenquelle Wasser schöpfen wollte, fiel er ihr entsetzt in den Arm und rief: „Was beginnst du, törichtes Weib, willst du mit aller Gewalt Unheil über dich und deinen Mann bringen? Weißt du nicht, daß diese QueIle der Eingang zur Wohnung des Klabautermanns ist?“
„Was sagst du“, stammelte Helge erschrocken, „hier wohnt der boshafte Wassergeist, der seine Freude daran hat, wenn die Schiffe ins Verderben stürzen?“
„Jaja.“ Der Alte nickte.
„Dein Mann weiß es recht gut; aber in seinem wilden Frevelmut hat er sich fern von allen Menschen trotzig hier angebaut.“
Helge überlief es eiskalt. Sie überlegte, daß sie ja, ihren ganzen Bedarf an Wasser von jeher aus dieser Quelle geschöpft hatte und daß ihr auch in Zukunft nichts anderes zu tun übrigblieb. Wie, wenn dies nun den Zorn dieses unheimlichen Wasserzwerges erregte, der von den Seeleuten so gefürchtet war? Hatte sie nicht oft erzählen hören, wie der Klabautermann, lachend seine Laterne schwenkend, auf dem Kiel des Schiffes hockte oder in den Rahen umherkletterte, wenn des Wetters Ungestüm das Schiff, das dem Untergang geweiht war, in seinen Fugen erbeben ließ? Wenn der Blitz den Mast zerschmetterte, wenn die wilden Wogen das Steuer entrissen, wenn das unglückselige Wrack dem Untergang nahe war und die Besatzung dem Wellentod entgegensah, dann jauchzte der Klabautermann, und bis zum letzten Augenblick verweilte er auf dem untergehenden Fahrzeug. Versank es endlich in den tosenden Fluten, so war der letzte Ton, der an die Ohren der Ertrinkenden schlug das gellende Gelächter des Klabautermanns. Und aus seinem Bereich war Helge gezwungen, Wasser zu holen! Natürlich hatte sie diese Tatsache sofort ihrem Manne mitgeteilt und ihn inständig gebeten, sich doch bei all den andern Menschen im Dorf ein neues Häuschen zu bauen. Gern wollte sie alle ihre Ersparnisse hingeben, um nur dieser gefährlichen, unheimlichen Nachbarschaft zu entgehen. Aber da war sie schön angekommen! Jan wollte über Helges Entsetzen schier platzen vor Lachen und rief: „Närrisches Weib, denkst du, ich weiß nicht, wer unser Nachbar ist? Das ist’s ja eben, was mir Spaß macht, daß uns der wunderliche Kauz Trinkwasser geben muß, er mag wollen oder nicht. Sei nicht so dumm, dich zu fürchten! Der Klabautermann ist kein so schlimmer Gesell, wie du glaubst. Ich habe Beispiele genug gehört, daß er Schiffer und Fischer sogar beschützt hat.“
„Um so weniger hättest du seinen Unwillen herausfordern sollen“, entgegnete die Frau ernst. „Man muß die Bosheit nie herausfordern und die Gutmütigkeit nicht mißbrauchen. Warum störst du den Wassergeist in der Stille seiner Wohnung? Ich glaube nicht, daß es ihm gefällt, wenn ich den Eimer in die Quelle hinablasse.“
„Ach, Weibergeschwätz“, brummte der Fischer. „Wenn ihm meine Nachbarschaft nicht gefällt, mag er fortziehen!“
Helge seufzte. Sie wußte leider schon längst, daß ihr Mann niemals auf vernünftige Vorstellungen hörte, sondern nur seinem Eigenwillen folgte. Seit der Zeit ging sie mit Zagen und Widerwillen nach der Quelle. Viel lieber wäre sie drei Stunden nach dem Herthasee gegangen. Allein dessen Wasser war am Ufer oft trüb und schlammig. Sie schöpfte von nun an mit der größten Vorsicht und vergaß niemals, vorher hinabzurufen: „Bitte erlaube mir, ein wenig Wasser hier zu schöpfen.“ Alsdann war es ihr, als ob aus dem Wasserspiegel ein runzliges Antlitz zustimmend nickte.
Es war an einem sonnigen Sommernachmittag. Das Meer glitzerte ,und glänzte im Sonnenschein und murmelte leise wie ein Waldbächlein. Über ihm wölbte sich tiefblau die Himmelsdecke. Am Horizont flossen Himmel und Meer so innig zusammen, als ob man dort aus einem ins andere schreiten könnte. Helge war zur Quelle gegangen, hatte aber ihre Eimer hingestellt und saß nun, die Hände über dem Knie verschränkt, nachdenklich auf einem Felsenvorsprung. GedankenvoIl blickte sie in die Ferne. Dort draußen die weißen Punkte waren wohl die Fischerboote, bei denen sich auch Jan befand. Sie fühlte sich heute wieder einmal recht einsam. Die schwüle Stille wirkte niederschlagend auf ihr Gemüt. Es war so leer, so öde um sie. Warum war ihr nur das Glück nicht beschieden, ein Kindlein zu besitzen? Unwillkürlich hatte sie ihren Gedanken Worte verliehen; da, plötzlich ein Schrei, ein Platsch — und als sie sich erschrocken umsah, bemerkte sie, daß von dem steilen Abhang ein kleines Kind in die Quelle gefallen war. Diese war tief. Rasch und entschlossen beugte sich Helge über den Brunnenrand. In demselben Augenblick tauchte das Kind wieder empor. Sie erfaßte es, und mit einem kräftigen Ruck hob sie es hoch. Es war ein Knabe von vielleicht drei Jahren. Weder der Fall noch das Bad schienen ihm geschadet zu haben; denn er blickte seine Retterin mit hellen Augen an und lachte. Schön war er nicht, das mußte man sagen. Auf einem kleinen, schmächtigen, aber starkknochigen Körper saß ein großer, dicker Kopf, bedeckt mit langsträhnigem schwarzem Haar, das zottig in die breite, niedere Stirn hineinhing. Die gelbe Haut war straff über die hervorstehenden Backenknochen gezogen. Ein breiter Mund mit wulstigen Lippen ließ zwei Reihen mächtiger Zähne erkennen. Eine kleine, plumpe Nase gereichte dem Gesicht durchaus nicht zur Zierde, und nur die beweglichen grauen Augen verschönten dasselbe einigermaßen. Im Grunde bot der Junge den Anblick eines recht häßlichen, kleinen Ungetüms. Er schien überdies auch keineswegs von reicher Herkunft zu sein; denn das einzige Kleidungsstück, das er trug, war ein grobwollener, brauner Kittel. Seine krummen Beinchen waren unbedeckt.
Was fragt denn aber ein Frauenherz nach Schönheit, wenn sein Mitgefühl für ein hilfsbedürftiges Wesen erweckt wird! Frau Helge trocknete den armen Schelm mit ihrer Schürze ab und fragte ihn besorgt, ob er sich weh getan habe. Da riß der Kleine den Mund weit auf und schrie: „Nein, Purzelbaum ‚macht, bums, platsch!“ Dabei bezeichnete er den Vorgang so komisch mit Händen und Beinen, daß die Frau mitlachen mußte. Endlich fragte sie den Knaben, der es sich auf ihrem Schoß bequem gemacht hatte: „Wie heißt du denn, mein Söhnchen? Wer sind deine Eltern, und wo wohnst du?“
Der Knabe schien aber gar nicht zu verstehen, was die Frau wissen wollte, sondern rief nur, vergnügt mit den Beinen strampelnd: „Bautzmann, Bautzmann!“
„Du kannst doch nicht Bautzmann heißen“, erwiderte verwundert Helge. Aber: „Oja, oja!“ beteuerte der Kleine lachend und zappelnd. Helge überlegte, was sie wohl mit dem Kind anfangen sollte. Es hatte etwas so Fremdartiges an sich und schien durchaus keine Auskunft über seine Angehörigen oder seine Heimat geben zu können. „Willst du mit mir kommen?“ fragte sie von neuem, und „ei ja, ei ja! Hunger, essen!“ antwortete der Kleine. Das ließ sich die Frau gesagt sein. Rasch füllte sie ihre Eimer, hob den einen auf die Schulter und hieß den Kleinen sich an der Hand festhalten, mit welcher sie den anderen Eimer trug.
Hei, wie der Junge mit den krummen Beinchen rennen konnte! Im Häuschen angekommen, holte Helge Ziegenmilch und Brot herzu, um den Hunger ihres Findlings zu stillen. Dieser war auf die Bank geklettert und stemmte die Ärmchen auf den Tisch, als ob er von jeher hier daheim gewesen wäre. In unglaublich kurzer Zeit hatte er die Speisen verzehrt; doch war er nicht so unbescheiden, noch mehr zu fordern, obgleich sich Helge erbot, ihm noch Milch und Brot zu holen. Er machte es sich bald bequem, streckte sich auf die Bank, legte den Kopf auf den Arm und schlief ein. Kopfschüttelnd betrachtete die Frau den kleinen Schläfer. Er war doch ein gar zu wunderliches Geschöpf. Was würde wohl ihr Mann zu dem kleinen Gast sagen?
Es wurde Abend. Helge war mit dem Zubereiten des Abendbrotes fertig und trat hinaus, um nach Jan auszuschauen. Da nahten die Boote schon. Flink lief sie zum Ufer hinab, um beim Landen zur Hand zu sein. Ihr Mann winkte ihr schon von weitem fröhlich zu und rief herüber: „Solchen Fang wie heute habe ich noch nie gemacht. Schau her, Weib, das Boot faßt die Fische kaum!“
HeIge schlug die Hände vor Erstaunen zusammen. Da galt es, sich zu rühren, um das Glück richtig zu nützen, damit die schöne Beute nicht verderbe. Vorläufig wurden die Fische in Fässer getan und für die Nacht an einen kühlen Ort gestellt. Morgen in aller Frühe sollte es an das Einsalzen oder Trocknen gehen. Die Sonne war bereits untergegangen, als Jan und Helge in die Stube traten, um sich das wohlverdiente Abendbrot schmecken zu lassen. Erst jetzt fiel es der Frau ein, daß sie ganz vergessen hatte, ihrem Mann von dem kleinen Ankömmling etwas zu sagen. Im Halbdunkel kollerte den Eintretenden ein sonderbares Etwas entgegen. Es war der kleine Junge, welcher ausgeschlafen hatte und nun zum Zeitvertreib Purzelbäume in der Stube schlug. Verwundert prallte Jan zurück; doch Helge erzählte kurz und bündig, während sie die Tranlampe anzündete, wie sie zu dem Kinde gekommen sei. Prüfend betrachtete der Fischer den wilden Knaben. Dann packte er ihn mit raschem Griffe beim Genick, stellte ihn auf die Beine und sagte: „Na, mal still, Knirps, muß doch sehen, was du eigentlich für ein Kerlchen bist.“
Der guckte ihn von unten herauf mit einer so komisch ernsthaften Miene an, daß Jan in lautes Lachen ausbrach und rief: „Gelt, Weib, gerade so hätte unser Söhnchen nicht ausschauen sollen. Ich werde morgen nach der Arbeit Umfrage halten, wohin der kleine Schelm gehört. Sollte sich jedoch niemand zu ihm finden, nun, so mag er eben bei uns bleiben.“ Ein listiger Blick schoß aus des Knaben Augen nach Jan und Helge. Diese jedoch bemerkten es nicht. Helge hob ihn auf die Bank, damit er an der abendlichen Mahlzeit teilnehme.
Jans Nachforschungen nach des Kleinen Eltern und Heimat blieben erfolglos, obgleich er sie beharrlich wochenlang fortsetzte. Bautzmännchen zeigte auch gar kein Verlangen, wieder fortzukommen, sondern fühlte sich in Classens Hause ganz heimisch. Helge war dies recht. Sie hatte den Wildfang liebgewonnen. „Er sieht auch gar nicht so häßlich aus, wie es mir anfangs vorkam“, sagte sie zu ihrem Mann. Doch dieser schlug ihr lachend auf die Schulter und fügte hinzu: „Weil du dich bereits an den Kleinen gewöhnt hast!“
Wochen und Monate gingen dahin. Der Knabe, den man Klaus genannt hatte, weil Bautzmann doch gar zu sonderbar klang, brachte Leben in das eintönige Dasein Jans und Helges. Er tummelte sich auch sorglos außerhalb des Häuschens, kletterte mit den beiden Ziegen um die Wette oder bat den Fischer so lange, bis er ihn mit auf den Fischfang nahm. Dann hockte er auf der Spitze des Kieles, und wenn das Boot auf bewegten Wellen auf und nieder tanzte, schrie er lustig: „Hoioho, hoioho!“ Anfänglich war Jan ängstlich gewesen, das Kerlchen könne am Ende ins Meer fallen. Aber diese Sorge schwand bald; denn Klaus klebte wie eine Klette an dem Kahn. Und als er eines Morgens doch ins Wasser purzelte, sah Jan zu seinem höchsten Erstaunen, daß er schwimmen konnte wie eine Wassermaus. Das schien ihm doch nicht mit rechten Dingen zuzugehen, und bedenklich sah er den Jungen von der Seite an, als er wieder im Boot stand und wie ein nasser Pudel das Wasser abschüttelte. Bald aber beruhigte er sich. Er dachte: Der Klaus ist jedenfalls älter, als wir gemeint haben. Er ist nur so klein, und bei seinem häßlichen Gesicht läßt sich das Alter schwer bestimmen. Es ist schade, daß er darüber keine Auskunft geben kann.
Einige Tage später begleitete Klaus seine Pflegemutter, die eine Bütte voll Fische nach dem Markte trug. Unterwegs begegnete ihnen der alte Knut, der Ziegenhirt. Kaum hatte er den Knaben an Helges Seite erblickt, so fuhr er zusammen, als ob ihn eine Natter gestochen hätte. Starr sah er ihn an und hob warnend die Hand in die Höhe. „Woher habt Ihr denn den Jungen, Helge Classen?“ rief er aus. „Schafft ihn schleunigst wieder hin, wo Ihr ihn gefunden habt. Denkt an meinen Rat!“ Klaus war hinter die Frau getreten und schnitt dem Hirten eine fürchterliche Fratze, wobei er drohend die kleine Faust ballte. Doch dieser ließ sich nicht irremachen, sondern sagte mit erhobener Stimme: „Er scheint aus Holland zu stammen, man hört es an der Sprache. Jaja, dort gibt es Leute, die haben Wohnungen wie die Dachse und Füchse. Nur daß sie mit Wasser gefüllt sind und ihre Ausgänge an den Ufern aller Meere haben, damit sie bei der Hand sind, wenn Sturm und Wetter die Schiffe in Not bringen!“
Hätte jetzt Frau Helge Obacht auf ihren Schützling gehabt, so würde sie mit Entsetzen die Veränderung bemerkt haben, die mit ihm vorging. Die Füße schienen vor Wut den Erdboden zerstampfen zu wollen. Die Gesichtszüge waren verzerrt. Aus dem Munde fletschten die Zähne wie bei einem Raubtier, und die Augen schienen Flammen zu sprühen. Von alledem nahm die gute Frau jedoch nichts wahr. Sanft antwortete sie: „Wir haben das hilflose Kind aufgenommen, weil niemand es haben mochte, und bis jetzt haben wir keine Ursache, den armen Schelm wieder fortzujagen. Uns ist endlich ein Kind geschenkt worden, das wir liebhaben können. Nicht wahr, Klaus, du hast uns auch lieb?“ Bei den freundlichen Worten Helges hatten sich die Mienen des Knaben wieder aufgehellt, und jetzt antwortete er freundlich, nicht ohne einen Seitenblick auf Knut, der mit vorgestrecktem Kopf aufhorchte: „Ja, habe euch lieb; Bautzmann will bei euch bIeiben!“
Bei dem Namen Bautzmann zuckte Knut zusammen, fuchtelte nochmals warnend mit seinem Stock in der Luft herum, sagte aber nichts mehr, sondern hinkte davon.
So war der Spätherbst gekommen. Das Wetter wurde von Tag zu Tag stürmischer und für die Fischer gefährlicher. Mit Sorge sah Helge oftmals ihren Mann hinausfahren auf die stürmische See. Sein alter Trotz und Übermut, die eine Zeitlang geruht hatten, brachen plötzlich mit Gewalt wieder hervor, und er achtete weder auf Bitten noch auf Warnungen. Seine Lust an der Gefahr überwog alle vernünftigen Vorstellungen. Auch den kleinen Klaus befiel eine merkwürdige Unruhe. Er kam oft den ganzen Tag nicht heim, und Helge lebte in fortwährender Angst, daß ihm ein Unglück widerfahren sei. Seit die schlimme Witterung eingetreten war, durfte er Jan nicht mehr beim Fischfang begleiten. Seine Bitten wurden rauh zurückgewiesen: „Das fehlte mir noch, auf einen unnützen Bengel aufpassen zu müssen, wenn man alle Hände voll zu tun hat, um mit Wind und Wasser fertig zu werden. Warte, bis du groß bist, dann kannst du mir helfen!“
Eines Tages rüstete sich Jan wieder zum Fischfang. Der Sturm heulte um die Hütte, als ob alle bösen Geister losgelassen wären. Dichte Nebel verhüllten das Meer. Die Sonne glich einem schwefelgelben Ball, der sich mühsam im Firmament fortwälzte. Als Jan das Boot klarmachte, war ihm Helge gefolgt. Sie war zum Mitfahren fest entschlossen, damit ihr Mann wenigstens jemanden in der Nähe habe, der ihm beistehen könne. Aber barsch und ungestüm hatte dieser ihre Hilfe zurückgewiesen. „Ich bin Manns genug“, schrie er ihr zu, „und ich brauche keinen Weiberbeistand. Du willst mich wohl gar retten, wenn es an Hals und Kragen geht? He? Da müßte ich mich ja schämen und auslachen lassen! Nein, du bleibst daheim. Punktum!“
Als Jans Boot in den wallenden Nebelmassen verschwunden war, kehrte Helge tiefbetrübt ins Häuschen zurück. Eben schlüpfte Klaus mit einem listigen Lächeln zur Hintertür hinaus, als die Frau in die Stube trat und sich nach dem Knaben umsah. Es war ihr gar nicht lieb, daß auch er sich bei dem bösen Wetter umhertrieb. Wollte er es ihrem Manne nachtun? Der Tag schlich dahin. Gegen Abend hellte sich der Himmel etwas auf. Heute war Vollmond. In Helges geängstigtem Herzen stieg die Hoffnung auf, daß ihr Mann beim Mondenschein zurückkehren werde, wenn nur das Meer sich erst etwas beruhigte.
Auch Klaus war den ganzen Tag nicht heimgekommen. Wo trieb sich nur der Bub umher? Die Frau trat vor die Tür, um nach ihm auszuschauen. Siehe, da nahte der alte Knut. Er winkte und machte schon von weitem allerhand Zeichen, daß Frau Helge mit ihm kommen solle. Ein Schrecken durchfuhr sie. War ein Unglück geschehen? Knut ging eilenden Schrittes den steilen Weg hinab, der in das Tal führte, wo der Herthasee lag. Immer winkend, rief er Helge halblaut zu: „Geschwind, geschwind, daß wir unten sind, wenn der Mond aufgeht. Da werdet Ihr sehen, was Ihr mir nicht glauben wolltet!“
Der Frau klopfte das Herz. Was sollte sie nur erfahren? Jetzt waren sie angekommen. Knut faßte sie bei der Hand und zog sie hinter einen Felsvorsprung von dem aus man ungesehen das Tal beobachten konnte. Alles lag still. In wunderlichen Formen und Gestalten wallten die Nebelschleier durcheinander. Ein fahles Licht ließ alles noch unheimlicher erscheinen. Aus dem sumpfigen Boden am Rande des Sees tauchten zahllose Irrlichter auf. Leuchtende Dünste durchzogen die Luft. Es war ein Leben und Treiben, das unheimlich aussah. Plötzlich erschien den Mond über den Hügeln, und sofort veränderte sich das Bild. Den Abhang herab schritt Hertha, eine große weißgekleidete Frau. Weithin wallte ihr goldblondes Haar gleich einem mächtigen Schleier. Ihre großen blauen Augen strahlten in mildem Glanz; doch über ihrer ganzen Erscheinung lag der Ausdruck tiefer Trauer. Als sie am See angekommen war, umringten sie zahllose weibliche Wesen, die aus den Nebeln entstanden waren. Sie brachten einen goldenen Wagen herbei, den sie vorher im See gewaschen hatten. Aber siehe, er war morsch, und die Speichen seiner Räder waren zerbrochen. Im wogenden Reigen zogen sie den Wagen hinweg, und nun umtanzten Kobolde und Erdgeister die betrübte Frau, die teilnahmslos am Seeufer saß und nach dem stillen Monde blickte.
Da veränderte sich das Bild. Mitten auf dem See kam ein sonderbares Wesen in einem Muschelwagen gefahren. Beinahe hätte Helge laut aufgeschrien und „Klaus!“ gerufen, wenn ihr nicht zu rechter Zeit Knut die Hand auf den Mund gelegt hätte. Das Männchen sah aber durchaus nicht kindlich aus, sondern trug einen langen, dunklen Bart, auf dem Kopf eine Lederkappe und war nach Art der holländischen Schiffer gekleidet. In der Hand hielt es eine weithin leuchtende Laterne, weIche es lustig im Kreise schwang. Vor der weißgekleideten Frau machte es halt, verneigte sich und schien ihr leise etwas mitzuteilen, wobei es mehrmals nach der Richtung deutete, in der Classens Hütte lag. Ein Schimmer von Heiterkeit überflog Herthas Gesicht, als sie den Kleinen abschiednehmend freundlich grüßte. Dieser lenkte alsbald seine Muschel nach der Mitte des Sees, wo er versank. In diesem Augenblick kamen düstere Wolken und verhüllten den Mond. Im Nu verschwanden auch die übrigen Gestalten auf dem Herthasee sowie Hertha selbst. In der Luft ertönte ein dumpfes, entsetzliches Brausen, und mit doppelter Gewalt brach das Unwetter wieder los. Helge war regungslos. Ihr wirbelte der Kopf von dem Gesehenen. Der Schrecken nahm ihr den Atem und ließ sie keinen Gedanken fassen.
Da packte Knut sie am Arm und rief: „Wißt Ihr nun, wen Ihr bei Euch aufgenommen habt? Habt Ihr den Klabautermann erkannt?“ HeIge konnte nicht antworten. Sie nickte nur stumm und ließ sich willenlos von dem Hirten hinwegziehen. Es war schwer, das Häuschen zu erreichen; denn die Naturgewalten schienen sich verschworen zu haben, den entsetzlichsten Reigen aufzuführen. Das Meer brüllte und schleuderte Wogenberge brandend gegen die Felsen, als ob es das Eiland vernichten wollte. Jammernd rang Helge die Hände; denn aus diesem Aufruhr der Natur kehrte wohl ihr Mann nimmer zurück.
Voll Trotz und sehr befriedigt, sein Weib zurückgewiesen zu haben, segeIte Jan hinaus auf die See. Obgleich Wind und Nebel für den Fischer keine Verbündeten sind, senkte er doch die Netze ins Meer. Er hatte aber heute entschieden Unglück. Zuerst geriet das Netz an eine Klippe, und es war noch gut, daß es völlig zerriß; denn beinahe wäre durch die Gewalt des Rucks das Boot gekentert. Während Jan damit beschäftigt war, das Netz aus dem Wasser zu ziehen, legte sich der Wind in das Segel, und von neuem kam das Schiff in Gefahr umzuschlagen. Jan arbeitete aus Leibeskräften, um das Segel zu reffen; denn der Sturm erhob sich immer mehr. Nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm endlich. Dichter und kälter umgaben die Nebelmassen den einsamen Fischer. Kaum konnte er die blendendweißen Schaumkämme der heranstürzenden Wogen erkennen. Doch der wetterharte Mann verzagte nicht. Mit eiserner Faust hielt er das Steuer und lugte scharf aus, daß er vor dem Winde blieb. Allerdings sagte er sich, daß er auf diese Weise keine Aussicht hätte, wieder in die Nähe der Heimatinsel zu gelangen, sondern vielmehr auf das weite Meer hinaustrieb. Mittag war vorbei, als sich der Wind einigermaßen legte und hier und da ein Riß in der Nebelwand entstand. Eiligst hißte Jan das Segel auf, und durch Kreuzundquerfahrt hoffte er, die Rückkehr noch vor dem Dunkelwerden bewerkstelligen zu können. Es sollte ihm nicht gelingen. Der Sturm schien nur Atem geholt zu haben; denn als der Abend nahte, erhob er sich mit erneuter Gewalt. Gleichzeitig brach eine dichte Finsternis herein, und der unglückliche Fischer sah sich rettungslos dem empörten Meere preisgegeben. Vergebens kämpfte er mit Aufbietung seiner letzten Kräfte in Todesangst um sein Leben. Längst waren ihm das Spotten und das Trotzen vergangen. Noch einmal durchbrach der Vollmond die Wolken und den Nebel; dann wurde es wieder tiefe Nacht. Stumpf und starr, nur noch krampfhaft das Steuer umklammernd, hockte Jan in seinem Boot. Da, plötzlich, was war das? Welch sonderbarer Lichtschein? Was kauerte denn da vorn auf dem Kiel? Dem Fischer lief es eiskalt über den Rücken, als er erkannte, daß es ein zwerghaftes Männchen mit einem langen Bart war, welches eine Laterne im Kreise schwang und gellend dazu lachte. „Der Klabautermann!“ murmelte der erblassende Jan.
„Ja, der Klabautermann!“ kreischte der Kleine. „Erkennst du mich nicht?“
„Klaus, Bautzmann!“ rief entsetzt der Fischer.
„So ist’s“, entgegnete der. „Ich bin Helges und dein Pflegesohn. Euch zu prüfen, kam ich in euer Haus. Jetzt siehst du nun, eigenwilliger, hochmütiger Mensch, wohin dich dein wilder Trotz geführt hat.“ Jan vermochte nicht zu antworten. Seine Zähne schlugen klappernd gegeneinander, und die helle Verzweiflung malte sich auf seinen Zügen. Seine schlotternden Beine trugen ihn nicht mehr. Kraftlos sank er in sich zusammen, und seinen Händen entglitt das Steuer. Hei, wie das befreite Schifflein nun auf den turmhohen Wogen tanzte; ein lustiges Spiel, wenn es nur nicht so verderblich gewesen wäre! Des Fischers Übermut war gebrochen. Er ergab sich in sein Schicksal und erwartete den Tod, den er selbst heraufbeschworen hatte. „Klaus“, bat er mit leiser, demütiger Stimme, „ich habe mein Los verdient. Wenn es aber noch eine Gnade für mich gibt, so bitte ich dich: Grüße mein armes Weib, tröste sie und verlasse sie nicht!“
Der Kleine hob seine Laterne empor und leuchtete dem Mann ins Gesicht. Nachdem er ihn durchdringend angesehen hatte, rief er. „Will sehen, was sich für dich tun läßt.“ Und für sich setzte er hinzu: „Diese Lehre wird er nicht vergessen!“ In demselben Augenblick raste eine Riesenwelle heran, und — verschwunden war das kleine Fahrzeug mit seinen Insassen.
Am andern Morgen ging die Sonne fröhlich und heiter auf, gerade als ob niemals ein Unwetter sie verdunkelt hätte. Das Meer murrte noch ein wenig, die Wellen schlugen noch unruhig gegen den Strand; aber die unendliche Wasserfläche machte einen friedlichen Eindruck.
In Classens Hütte war es still. Helge saß vor dem großen Bett, dessen buntgeblümte Vorhänge zurückgeschlagen waren, und blickte besorgt auf ihren Mann, der mit verbundenem Kopf in den Kissen lag und im Fieber irre redete. Sie beachtete die eigene Erschöpfung nicht. Hatte sie doch die ganze Nacht in Sturm und Graus am Ufer gestanden und in Angst auf ihren Mann gewartet. Beim Morgengrauen hatte sie auf einmal ein kreischendes „Hoioho“ vernommen. Gleich darauf spülte eine Welle mit dumpfem Krach ein Boot ans Ufer, in dem sich, mit einem Seil an die Ruderbank festgeschnürt, Jan befand. Voll Schreck und doch voll Jubel hatte Helge ihren Mann losgeknüpft. Freilich gab er nur schwache Lebenszeichen von sich und blutete aus einer Kopfwunde; aber die brave Helge hob ihn auf und trug ihn in die Hütte. So befand sich nun der Fischer in treuer Pflege, und nach wenigen Tagen hatte das gute Weib die Freude, ihren Mann genesen zu sehen.
War dies aber noch ihr wilder Jan? Er war wie ausgewechselt. Ernst und sanft, ruhig in seinem ganzen Benehmen, konnte sie ihn kaum wiedererkennen. Er bemerkte das freudige Erstaunen seiner Frau und benützte die erste Gelegenheit, als sie abends bei der Lampe behaglich beisammensaßen, ihr die Erlebnisse seiner letzten Schreckensfahrt zu erzählen. Am Schlusse reichte er ihr die Hand und sagte: „Von nun an will ich ein anderer werden. Nie wieder werde ich mich mutwillig in Gefahr begeben. Wir wollen uns im Dorf bei all den andern Menschen anbauen, dann werden wir auch den Klabautermann in Zukunft nicht mehr belästigen.“ Wie froh war Helge über diesen Entschluß!
Sie erzählte, was sie mit Knut gesehen hatte, und Jan hörte ihr voll Staunen zu.
Im nächsten Frühjahr wurde im Dorf ein neues Häuschen erbaut. Es gehörte Jan Classen. Schon im Spätsommer konnte das glückliche Ehepaar einziehen. Hier sollte ihnen auch eine Freude zuteil werden, die ihnen bisher versagt geblieben war; denn im Herbst lag ein prächtiger Junge in der bunten Wiege. Von nun an wurde ihr Glück durch nichts gestört.
Den Klabautermann sahen sie nie wieder. Sein Andenken aber hielten sie in Ehren und litten nicht, daß man ihn einen boshaften Wassergeist schalt.
Quelle:
(Sage von der Ostsee)