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Märchenbasar

Das Märchen von Fanferlieschen Schönefüßchen

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(1)
Es war einmal ein König, der hieß Jerum, und sein Land hieß Skandalia, und er regierte in der Stadt Besserdich. Dieser Jerum war gar nicht viel wert, er quälte seine armen Untertanen bis aufs Blut, so dass sie jahraus, jahrein schrieen. „O Jerum, o Jerum, sieh auf Skandalia und besser dich!“ Er wirtschaftete aber immer drauflos und war ganz das Gegenteil seines verstorbenen Vaters, dessen Sterbetag die Bürger von Besserdich jährlich mit großer Traurigkeit feierten. Vor diesem Tage ritt der böse Jerum immer mit seinem ganzen Hofstaat nach einem fernen Jagdschloss Munkelwust, um nicht die Liebe seiner Untertanen zu seinem seligen Vater zu sehen. Als er nun einstens mit unanständigem Hörnergeblase und Peitschengeknall am Tag vor dem Trauerfest der Stadt hinauszog, sah er nah an dem Tore vor einem kleinen Hause eine alte Frau ihre Ziege kämmen. Da nahm er seinen Bogen und legte einen Pfeil auf und verwundete der alten Frau die Ziege. Die Alte ergrimmte sehr und schrie ihm nach:
„O Jerum, o Jerum,
meine Ziege geschossen.
O Jerum, o Jerum,
dir selbst zum Possen;
sie ist ein armes Waiselein,
wird Königin im Lande sein.“ Jerum bekümmerte sich nicht um das Geschrei der Alten und sprengte im Galopp zur Stadt hinaus. Die Alte hieß Fanferlieschen und war eine außerordentlich kluge Hexe; bei dem verstorbenen Vater des König Jerum hatte sie sehr viel gegolten; sie hatte damals große Macht in Händen und dem Lande viel Gutes getan. Wenn der alte König einen Minister oder General oder Gelehrten haben wollte, so ging er nur zu Fanferlieschen, die damals sehr schön war, und sprach nur:
„Fanferlieschen
hat schöne Füßchen,
nicht zu lang, nicht zu kurz;
schüttle mir aus deinem Schurz
einen guten Staatsminister!“
„Herr, da ist er!“ sprach sie dann und schüttelte ihn aus der Schürze. So hatte sie dem König viele geschickte Leute verschafft.
Aber als der Jerum an die Regierung kam, wurde Fanferlieschen vertrieben, ja er ließ ihr ein großes Loch von seinen Jagdhunden in die Schürze reißen und misshandelte sie auf alle Weise. Da zog Fanferlieschen in ein kleines Haus in der Vorstadt und mästete Vieh und Geflügel, und man wunderte sich über gar nichts, als dass sie niemals einen Ochsen oder Esel oder ein Pferd oder einen Puthahn oder sonst etwas verkaufte. Aber oft hörte man sie in der Nacht, wenn alles ganz still war, sehr ernsthafte Staatsgespräche mit ihrem Vieh halten, und lautete es nicht anders, als wenn die größten Professoren bei ihr versammelt wären, so dass es ordentlich in der ganzen Stadt ein Sprichwort war, wenn einer von den Hofleuten des König Jerum einen übeln oder dummen Streich machte, zu sagen: „Dieses Rindvieh hat nicht bei dem Fanferlieschen studiert!“
Als ihr der Jerum nun die Ziege verwundet hatte, geriet Fanferlieschen in den höchsten Zorn gegen ihn und entschloss sich, Rache an dem König zu nehmen. Sie legte die geliebte Ziege in ein schönes Bett und verband ihr die Wunde mit Kräutern und Wein.
In der Stadt machte man schon alle Anstalten, das Andenken des verstorbenen guten Königs Laudamus zu feiern. Alle Häuser waren mit schwarzem Tuch behängt, auf allen Türmen und Rauchfängen wehten schwarze Fahnen. Alle Glocken, die geläutet wurden, hatten Schwarze Flöre an den Schwengeln. Alle Bürger zogen schwarze Wäsche und Kleider an, alle Perückenmacher puderten schwarz, alle Schimmel waren Rappen, man aß nichts als Schwarzwildbret und Schwarzwurzeln und Schwarzsauer. In solcher entsetzlichen Schwärze waren bereits alle Einwohner in der großen Kirche der heiligen Nigritia um das Grab des Königs Laudamus versammelt, auf welchem viele tausend schwarze Fackeln brannten, und warteten nur noch auf das Fräulein Fanferlieschen, um ihre Trauergesänge anzufangen. Denn Fanferlieschen pflegte alle Jahre dieses Trauerfest mit einem großen Leichenzuge zu verherrlichen. Sie kam immer an der Spitze ihres sämtlichen schwarzen Horn- und Federviehs durch die Stadt in die Kirche gezogen, und es war den guten Bürgern nichts so rührend, als alle die schwarzen Pferde, Esel, Stiere, Kühe, Böcke, Ziegen, Schafe, Schweine, Hunde, Katzen, Puthahnen, Pfauen, Haushähne, Hühner, Schwanen, Gänse und Enten usw. die bittersten Tränen vergießen zu sehen. Ein großer Teil in der Mitte der Kirche war für sie und ihren Zug frei gelassen. Die Bürger harrten; da kam der Kirchendiener und zeigte an, dass der Zug der Fanferlieschen sich nähere; die Tore wurden aufgetan, und man sah Fanferlieschen in schwarzem Samt gekleidet mit einer Krone von schwarzen Brillanten neben einer schwarzen Portechaise hergehen, die von zwei schwarzen Eseln getragen wurde. Vor ihr her ging ein schwarzer Pudel auf den Hinterbeinen, der trug Fanferlieschens Schürze, welche dem Lande so viel Gutes getan und von den Jagdhunden des Jerums zerrissen worden war, an einer Stange als Trauerfahne, und hinter der Trauer-Portechaise folgten viele schwarze Böcke und Ziegen mit Trauerflören und Zitronen auf den Hörnern. Dann kam alles übrige schwarze Horn- und Wollen- und Federvieh, alle mit Zypressenzweigen und Kränzen geziert. Kurzum, die ganze Herde des Trauerviehs war auf die rührendste und anständigste Art geschmückt und bezeugte ein tiefes Leidwesen. Als jedermann und jedes Vieh seinen Platz eingenommen, wurde eine kohlrabenschwarze Melodie gesungen, und dann stieg Fanferlieschen auf das Grab des König Laudamus und erzählte den Bürgern alle seine guten Eigenschaften, worüber sie alle gallenbittere Tränen weinten, so schwarz wie Tinte. Zuletzt kam sie auf die Bosheit des Königs Jerum zu sprechen und sagte: „Endlich ist es Zeit, dass wir ihm das Tor vor der Nase zumachen, seine Bosheit ist auf das höchste gestiegen: Als er gestern mit seinem gottlosen Hofstaat dem Tore hinausritt, stand ich vor meiner Türe und kämmte der Fräulein Ziegesar die schwarzen Locken zu dem heutigen Feste; da verwundete er mir diese geliebte Waise mit einem mutwilligen Pfeilschuss.“ Bei diesen Worten Fanferlieschens entstand ein gewaltiges Murren in der Kirche, und alle Fackeln auf dem Grabe des König Laudamus knisterten und flackerten und tröpfelten schwarze Wachstränen herab. Der älteste Bürger der Stadt, der sich seine weißen Haare und seinen weißen Bart heute ganz schwarz gepudert hatte, trat zu Fanferlieschen und sprach: „O Fanferlieschen, deine große Freundschaft mit dem seligen Laudamus, der Anblick deiner zerrissenen Schürzenfahne, aus der uns einst so viel würdige Staatsmänner geschüttelt wurden, dein stilles Leben, deine edlen Bemühungen zur Erziehung und Bildung unvernünftigen Viehes, ach! alles, was wir von dir wissen, lehrt uns, dass keine Lüge aus deinem Munde kommt; aber sage uns, wen verstehst du unter dem Fräulein Ziegesar?“ – „Wen soll ich darunter verstehen“, sagte Fanferlieschen, „als jenes liebenswürdige Töchterlein des verstorbenen Fürsten von Buxtehude, dessen Land von seinem Freunde, dem verstorbenen Laudamus, verwaltet wurde, bis das liebe Fräulein herangewachsen sei, welches hier nebst vielen andern vornehmen Waisenkindern unter meiner Aufsicht in dem Fräuleinstift und der Ritterakademie erzogen wurde. Ach, der gute Laudamus dachte einst, den Jerum mit ihr zu vermählen; aber ihr wisset, als Jerum nach des Vaters Tod König ward, nahm er alle die Länder der Waisenkinder, deren Pflegevater er sein sollte, in Besitz und befahl seinem Kammerherrn, dem Herrn von Neuntöter, alle die armen Kinder im Fräuleinstift und in der Ritterakademie mit einem Reisbrei zu vergiften, den sie jährlich am Pfingstfeste auf der Eselswiese unter Tanzen und Springen zu verzehren pflegten. Mich hätte er auch gern umgebracht, aber er weiß nicht, wie mein Ende ist. Als das Fest auf der Eselswiese bestellt war, zogen die unschuldigen Kinder mit Blumen geschmückt hinaus auf die Wiese. Der Reisbrei stand in einer silbernen Schüssel, welche Laudamus dazu gestiftet hatte, brotzelnd unter der großen Linde. Ich ließ die guten Kinder in einem großen Kreise niederknien und singen:
‚Te regem laudamus,
qui nobis dedit Hirsenmus.“ Da kam der Herr von Neuntöter und brachte Zucker und Zimet vom Jerum, welches der König immer sonst selbst drauf zu streuen pflegte. Aber es war dieses Mal Rattengift. Als der Neuntöter sich dem Musbecken nahte, sah ich auf einmal den Geist des verstorbenen Laudamus ihm entgegentreten; er sagte: ‚Wenn der Jerum nicht selbst den Kindern Zucker und Zimet bringen will, so will ich es tun. Fliege hin, du Neuntöter!‘ Damit schlug er dem Kammerherrn erst die Zuckertüte und dann die Zimettüte um die Ohren, und sieh da, er flog in einen Neuntöter verwandelt davon. Nun kam der König Laudamus zu mir und sprach:
‚Fanferlieschen
Schönefüßchen,
pfleg und zieh die Kinderlein,
bis sie wieder Menschen sein.‘ Nun streute er selbst Zucker und Zimet auf das Mus und verschwand. Die Kinder hatten alle das gesehen und sangen wieder.
‚Te regem laudamus,
qui nobis dedit Hirsenmus.‘ Und nun fuhr jedes mit seinem silbernen Löffel in das Hirsenmus. Kaum aber hatten sie einen Löffel voll gegessen, als sie sich alle in Tiere verwandelten. Die Ziegesar in Ziegen, die Ochsenstierna in Ochsen, die Rindsmaul in Rinder, die Schimmelpennink in Schimmel, die Rabenhorst in Raben, die Boxberg in Böcke, die Putlitz in Puthahne, die Hühnerbein in Hühner, die Rothenhahn in Hähne und so ein jedes Kind nach dem Familiennamen in ein Tier dieses Namens. Ich führte nun diese ganze Herde in den nahe gelegenen Wald in eine große Höhle und ging wieder in die Stadt. Da hörte ich, wie der König Jerum glaubte, der Kammerherr von Neuntöter sei mit den Kindern, statt sie umzubringen, in die weite Welt gelaufen, und dass Jerum Boten ausgesendet habe, ihn aufzusuchen. Als er mich nach den Kindern fragte, sagte ich ihm: ‚Der liebe Gott wird sich ihrer erbarmen.‘ Weiter sagte ich ihm nichts. Er ward sehr zornig auf mich, und weil er mir das Leben nicht nehmen konnte, so nahm er mir doch alles, was mir Laudamus geschenkt hatte, so dass mir nichts blieb als das Haus und der Hof und Garten meiner Eltern am Tore. Nachts führte ich nun die ganze verwandelte Herde aus dem Wald in mein Haus und habe sie bis jetzt immer in allen standesmäßigen Wissenschaften unterrichtet. Sie sind bereits alle erwachsen, und jeder wird seiner Familie Ehre machen. Ach, Fräulein Ziegesar war vor allen ein Engel, sie tanzt alles vom Blatt weg und singt wie der größte Tanzmeister, sie webt und stickt wie eine perfekte Köchin und kocht und backt wie die größte Stickerin, sie macht Gedichte wie ein Sprachmeister und spricht alle Sprachen wie ein Dichter, kurz, sie ist eine der vollkommensten Fräulein der Welt; und diese hat mir der grausame Jerum mit einem Pfeile durch das linke Ohrläppchen geschossen. Nein, länger wollen wir diese Schmach nicht mehr erdulden, übergebet einem andern die Krone, denn Jerum denket doch nur an seine Laster und niemals an Besserdich.“ So hatte Fanferlieschen gesprochen. Alles hatte mit der größten Spannung zugehört, und der älteste Bürger sagte: „Du erzählst uns sehr merkwürdige Geschichten, aber, wenn wir auch einen andern König wählen, wo kriegen wir dann gleich alle die nötigen Minister und Hofkavaliere her, welche alle mit Jerum ausgereist sind? Deine Schürze, aus welcher du sie sonst schütteltest, hat ein Loch, und wird jeder durchfallen.“ Nun sprach Fanferlieschen zu dem Pudel, der die Schürze trug:
„Herr von Pudelbeißmichnit,
schwenk die Fahn,
vivat Laudamus!
Es ist getan.“Da schwenkte der Pudel die Fahne und verwandelte sich zugleich in den schönsten Fahnenjunker, und alles anwesende Horn-, Wollen- und Federvieh verwandelte sich in die hoffnungsvollsten Ritter und Fräulein, und sie öffnete die Portechaise, und die Prinzessin Ziegesar mit dem verwundeten Ohrläppchen trat heraus und umarmte Fanferlieschen, und alle die verwandelten Ritter und Fräulein schrieen laut:
„Oramus Laudamus!
Fanferlieschen
Schönefüßchen
soll regieren und florieren.“ Da rief die ganze Versammlung dasselbe, und sie nahmen Fanferlieschen und setzten sie in die Portechaise und trugen sie in das Schloss, und alles war richtig, sie musste Königin sein. Fanferlieschen aber machte nun aus allen ihren Zöglingen vornehme Leute; der Herr von Ochsenstierna wurde Minister des Ackerbaus, der Herr von Rindsmaul wurde Erz-Heumarschall, der Herr von Riedesel Generalobermühlenrat, der Herr von Rothenhahn wurde Direktor der Feuersbrunst und Hofwetterminister, und so hatte ein jeder seine Stelle nach seinen Qualitäten. Die Prinzessin Ziegesar ward allgemein verehrt, und allgemein bekannt gemacht, wer ihr Gemahl werden würde, der sollte nicht nur ihr Fürstentum Buxtehude, sondern auch einstens das ganze Königreich Skandalia mit ihr erhalten. So ging nun alles herrlich in der Stadt, aber der König Jerum kriegte einen großen Schrecken, als die Fanferlieschen ihm einen Brief nach dem Jagdschloss Munkelwust schickte, worin drin stand, dass er abgesetzt sei und sich nicht mehr dürfe in der Stadt sehen lassen, sonst wolle man ihm den Kopf zwischen die Ohren stecken. Wenn er aber sein Leben ändern, Witwen und Waisen das Ihrige zurückgeben und de- und wehmütig in die Stadt Besserdich zurückkehren wolle, so solle er vor allem eine fromme Gemahlin nehmen; die frömmste wäre die Prinzessin Ziegesar von Buxtehude. Hernach wolle man sehen, ob man ihn wieder zum König aufnehmen könne. Diesen Brief schickte ihm Fanferlieschen durch den Hofschäfer Mopsus, und Jerum wurde so zornig darüber, dass er dem armen Mopsus die Ohren abschneiden ließ und ihm die Nase breitschlug; und zu dessen Andenken tragen sich bis jetzt alle Mopse so.
Der König Jerum, der nun zu Munkelwust lebte, wurde jetzt ganz wie rasend, er verwüstete alles Land umher und beging tausend Grausamkeiten. Aber es ging ihm bald übel, seine Hofleute verließen ihn, und sein Geld wurde alle. Er hatte nichts mehr als das Ländchen Bärwalde, welches eigentlich der Fräulein Ursula gehörte und das er ihr noch immer zurückhielt. Die armen Leute aus dem Ländchen mussten alles hergeben, dass er sein wildes Leben fortfahren konnte. Er hatte nur noch wenige Diener, und sein Ratgeber war ein großer hölzerner Götze, der bei Munkelwust unter einem dürren Baume stand und Pumpelirio hieß und, wenn man einen Menschen vor ihm schlachtete und ihn mit dem Blut bespritzte, auf alles antwortete, was man ihn fragte. Jerum machte nun bekannt, er wolle sich bessern und eine fromme Frau nehmen. Da ließ er die Töchter seiner Untertanen zusammenkommen und heiratete eine. Aber in der Nacht schleppte er sie vor den Götzen Pumpelirio und brachte sie um und fragte ihn:
„Pumpelirio Holzebock!
Sag mir doch,
wann die Jungfer Fanferlieschen
Schönefüßchen
sterben wird?
Wann ich komme
nach Besserdich?“ Da fing der Pumpelirio an zu knacken wie nasses Holz im Ofen und sprach mit schnurrender Stimme:
„Fanferlieschen blind,
Ursulus das Kind
geschwind wie der Wind
Besserdich gewinnt.“ Jerum wusste nicht, was das heißen sollte, er bat sich eine Erklärung aus, aber Pumpelirio sprach:
„Für einen Mord
nur ein Wort;
morgen ist auch ein Tag
zu Mord und Totschlag.“ Am nächsten Morgen sagte Jerum, er habe seine Braut nach Haus geschickt, weil sie nicht fromm genug gewesen sei, und suchte sich eine andere Jungfrau und heiratete sie wieder und brachte sie wieder um vor dem Pumpelirio Holzebock und fragte ihn wieder. Der sagte aber immer dasselbe, und Jerum brachte immer mehr Fräulein um, bis sie endlich seine Grausamkeit merkten und entflohen. Als die guten Leute in Bärwalde hörten, dass ihr Fräulein Ursula bei der Fanferlieschen lebe, gingen viele nach Besserdich, um die liebe Tochter ihres verstorbenen Fürsten zu sehen. Sie küssten ihr die Hände und Füße und klagten ihr das Elend, in dem sie durch den Jerum lebten, und wünschten nichts mehr, als dass Ursula bei ihnen sein und sie regieren möge.
Ursula weinte sehr über das Unglück ihrer Untertanen und versprach ihnen, mit Fanferlieschen zu überlegen, was zu tun sei; da zogen die guten Leute wieder ab. Als Fräulein Ursula eben mit Fanferlieschen hierüber sprach, kam ein Bote vom König Jerum zu ihr und sagte, wenn Fräulein Ursula seine Gemahlin werden wolle, so wolle er sich bessern. Ursula willigte ein, um nur ihre armen Untertanen trösten zu können, und Fanferlieschen sagte mit bitteren Tränen zu ihr: „Ich kann dich nicht abhalten, gib dir alle Mühe, den Jerum gut zu machen; wenn du es verlangst, soll er seine Krone von mir wiedererhalten. Gehe hin, meine liebste Ursula, tue allem, was da lebt, Gutes, so wirst du in der Not nicht verderben!
Ursula, Ursula, große Not!
Wein dir nur die Äuglein rot;
Ursulus, Ursulus, gutes Kind,
macht das Fanferlieschen blind;
Ursulus, Ursula, Ursulum,
bin ich blind, so komm ich um.
Schau dich um, ich bitt dich drum.“ Dann umarmten sie sich und weinten miteinander bitterlich, und Ursula zog mit dem Boten zum Tor hinaus zu dem König Jerum. Fanferlieschen aber stand auf dem Schlossturm und sah ihre liebe Ursula in ihrem weißen Hochzeitskleid fort über die grünen Wiesen ziehen; und sooft Ursula sich nach Besserdich umsah und mit ihrem weißen Tüchlein winkte und sich die Augen trocknete, musste der Fahnenjunker Pudelbeißmichnit die schwarze zerrissene Schürzenfahne auf dem Turm schwenken, wozu Fanferlieschen immer sang:
„Ursula, Ursula, große Not!
Wein dir nur die Äuglein rot;
Ursulus, Ursulus, gutes Kind,
macht das Fanferlieschen blind;
Ursulus, Ursula, Ursulum,
bin ich blind, so komm ich um.
Schau dich um, ich bitt dich drum.“ Dazu bliesen die Türmer eine sehr betrübte Melodie auf den Posaunen, und dies währte so lange, bis ein Wald die Ursula und den Boten des Jerum verbarg.
Ursula ging traurig neben dem Boten durch den Wald und dachte immer nach, was doch der wunderbare Gesang Fanferlieschens bedeuten möge; aber sie konnte ihn auf keine Art begreifen. Da hörte sie auf einmal einen Vogel ganz jämmerlich schreien und sah, wie er ängstlich um einen Baum herumflatterte. Da schaute sie recht hin und erblickte einen großen Marder, der am Baum heruntergeschlichen kam und sich dein Neste des Vogels nahte, um ihm seine Jungen zu fressen. Da nahm Ursula einen Stein und warf ihn so geschickt nach dem Marder, dass er tot von dem Baume herunterpurzelte. Oh, wie froh war nun der Vogel: Er flog erst zu seinen Jungen, und da er sah, dass sie noch alle gesund waren, flog er immer um Ursulas Haupt und vor ihr her von Baum zu Baum und machte die rührendsten Bewegungen, als wolle er ihr Dank sagen, und sang auf allerlei Weise, bis er sie am Abend verließ, wo sie ihm noch ein Stückchen von dem Kuchen, den ihr Fanferlieschen mit auf die Reise gebacken hatte, für seine Jungen mitgab.
Nun ward der Weg immer trauriger und öder. Verbrannte Hütten und zerstörte Gärten waren am Weg; sie hörte in der Ferne einen traurigen Gesang, und das Herz ward ihr entsetzlich schwer. In der Ferne ging die Sonne ganz rot unter, und man sah in eine wilde schwarze Bergschlucht voll Dampf und Qualm. Hie und da am Weg stand ein dürrer Baum, von dem die Eulen herunterschrieen: „Hu, hu, o weh! Hu, hu, o weh!“ Ach, das Herz ward Ursula immer schwerer, und sie fragte den Boten, der bis jetzt immer stumm neben ihr her gegangen war:
„Ach, mein Herz bricht in der Brust.
Sind wir bald in Munkelwust?“ Da sagte der Bote:
„In der Schlucht liegt Munkelwust,
hier am Baum du warten musst
bei dem Pumpelirio;
Jerum macht es immer so.
Setz dich an die Felsenstufen,
ich will dir den Bräutigam rufen.“ Und da verließ er die Ursula unter einem großen dürren Baum, wo der böse Pumpelirio Holzebock auf einem Felsen stand, und lief nach dem Tale hinunter. Ursula war in der entsetzlichsten Angst; die Nacht brach an, die Eulen schrieen auf dem dürren Baum; der Mond ging blutrot hinter dem Pumpelirio Holzebock auf. Ursula war sehr müde und setzte sich ins Gras und begann bitterlich zu weinen. Da hörte sie wieder den traurigen Gesang, und es kam immer näher und näher durch den Nebel, und sie sah eine Reihe von weißen Jungfrauen auf den Platz ziehen. Sie hatten Brautkränze auf und waren alle ganz bleich, und in der Brust hatte jede ein Messer stecken, dass das Blut über ihre weißen Röcklein nieder floss. Sie zogen über die Grasspitzen weg, als wären sie von Luft, und sangen mit feiner Stimme:
„Willkommen, willkommen, du Jerum Braut!
Ein Messer ins Herz, das heißt getraut.
Ach, ohne Kreuz und Segen
liegen im Schnee und Regen
bald hier deine Beinelein
im Sonnen- und im Mondenschein.
Im Baum da schreien die Raben.
Ach, wäre ich doch ehrlich begraben!“ Ursula war in der fürchterlichsten Angst und riss vor Bangigkeit das Gras aus der Erde; da schrie auf einmal eine der weißen Jungfrauen sie an:
„O weh! o weh!
Was raufst du meinen Kranz,
morgen musst du auch an den Tanz!“ Da sprang Ursula auf und wollte fliehen, aber sie fiel über einen Hügel; da schrie eine andere sie an:
„O weh! o weh! Was trittst du auf mein Herz,
morgen leidest du denselben Schmerz.“ So ging das immerfort; sie mochte fliehen nach welcher Seite sie wollte, immer trat ihr eine jener Jungfrauen in den Weg und schrie bald: „O weh mein Arm, o weh mein Bein, o weh mein Leib“, usw. Da stand Ursula endlich still und fragte: „Oh, ihr armen Jungfrauen, wer seid ihr und was wollt ihr von mir?“ Da sangen sie:
„Jerums Frauen von gestern
sind wir, Messerschwestern,
Jerums Weib von heute:
Morgen gehst du uns zur Seite.
Bete fleißig, denn gar oft
kömmt das Messer unverhofft.
Im Baume schreien die Raben;
ach, wären wir ehrlich begraben.
Fort von hier, von hierio
weit vom Pumpelirio,
weit vom Holzebocke
hübsch mit Kreuz und Glocke;
mit Gesang und Posaunenspiel,
gibt uns Ruh und kost‘ nicht viel.“ Da antwortete ihnen Ursula: „Ach, wenn es mir möglich ist, sollt ihr gewiss begraben werden:
Unter zarten Blumenrasen,
in dem Schatten grüner Linden,
wo die frommen Lämmer grasen,
sollt ihr euer Bettlein finden.
Und ein kühler Marmorbronnen
soll da bei der Linde springen,
an jed‘ Bettlein hingeronnen
kühlen Born wohl jeder bringen,
dass ihr könnt die heißen Schmerzen
eurer schreienden Wunden kühlen,
und das Blut zerrissner Herzen
von dem weißen Schleier spülen.
Ach! Wenn Gott euch wird erwecken,
sollt ihr für den Mörder bitten!
Ringsum blühen Rosenhecken,
und ein Kreuz steht in der Mitten.
Will der Herr mein Blut auch haben,
soll man zu des Kreuzes Füßen,
euch zur Seite mich begraben,
bis uns all die Englein grüßen.“ Während Ursula diese Worte recht von Herzen sprach, sahen die Jungfrauen sie mit rechter Liebe an, und jede zog ihr Ringlein vom Finger, und sie flochten sie ineinander wie eine Kette und zogen Blumen durch, dass es eine Krone ward; die setzten sie der Ursula auf das Haupt und sangen:
„So viel Ringe, so viel Bräute;
so viel Bräute, so viel Messer;
so viel Messer, so viel Herzen;
so viel Herzen, so viel Wunden;
ach, du arme Braut von heute!
Ach, dir geht es auch nicht besser;
ach, du hast die bittern Schmerzen
alle bald wie wir empfunden.“ Da krähte aber der Hahn, und sie schwebten über die Wiese weg. Ursula fühlte sich ruhiger, sie sah an dem blauen Himmel die Sterne an, und da glänzte das Gestirn, das man den großen Bär nennt, ihr besonders tröstlich in das Herz. Da gedachte sie recht innigst an ihre verstorbenen Eltern, den Fürsten Ursus und die Fürstin Ursa von Bärwalde, welche sie nie gesehen hatte, und sprach: „Ach, mein geliebter Vater und meine liebe teure Mutter, ich habe euch nie gekannt, aber ich liebe euch doch wie ein frommes Kind; oh, verlasst mich nicht in meiner tiefen Angst; schaut auf euer armes Töchterlein; ich will ja alles ruhig ertragen, was über mich bestimmt ist.“ Als sie diese Worte recht von Herzen gesprochen hatte, sieh, da war es, als wenn die zwei Sterne am Himmel zusammenstießen und als wenn einer davon in den Schoß der guten Ursula herabfiele. Aber sie fand nichts.
Ihr Herz war aber sehr gestärkt und ihre Seele ganz voll frischem freiem Mut. Schon stand der Mond tief über der dunkeln Waldschlucht, worin Munkelwust lag, als sie auf einmal ein wildes Horngetön erklingen hörte und aus dem Waldgrund herauf Pferdegetrapp tönte. Sie richtete sich auf und trat auf einen Felsen; da sah sie einen Reiterzug mit brennenden Fackeln heransprengen, dass die Funken und die brennenden Pechtropfen rings in das dürre Laub fielen und die Flammen prasselnd durch die Büsche herum zischten. Sie sprengten im Galopp heran, an ihrer Spitze saß Jerum im roten Mantel auf einem getigerten Rosse. Auf seinem Helm war das Bild eines Drachen, seine langen schwarzen Haare wehten wie die Mähne seines Rosses im Wind, und an seinem Gürtel hatte er eine breite Scheide hängen, worin viele Messer staken. Sie sangen ein wildes Lied, welches also lautete:
„Juch! juch! Über die Heide!
Fünfzig Messer in einer Scheide
reitet Jerum auf die Freite:
Schürz dich, Braut! zur Hochzeitreite.“ So schrecklich das auch klang, konnte Ursula doch nicht mehr erschrecken; sie stand in wunderbarer Schönheit auf dem Felsen, gerade dem hässlichen Pumpelirio Holzebock gegenüber, und als der König Jerum heransprengte, wehte sie ihm mit ihrem Tüchlein entgegen. Und da die Reiter mit den Fackeln um sie her standen und Jerum von ihrer wunderbaren Schönheit und ihrer schönen Hochzeitskrone, die ihr die Geisterfräulein geflochten hatten, ganz geblendet zu ihr hinritt, streckte sie die Hand gegen ihn aus und sprach:
„O Jerum, Jerum, sei willkomm!
Nimm deine Braut und werde fromm!
Im Baum, da schreien die Raben;
ach, wären wir ehrlich begraben!
Drum sollst du mir erst versprechen –
willst du mich auch erstechen –
begrab mich und die Mägdelein
in einem kühlen Lindenhain,
unter den grünen Rasen,
wo fromme Lämmer grasen,
wo ein klarer Bronnen
kömmt an das Herz geronnen,
ein Kreuz steh in der Mitten:
Da will ich ruhn zu Füßen
und für den Mörder bitten
wenn mich die Englein grüßen,
dass ihn in Zorn und Schrecken
der Herr nicht mög erwecken.“ Als sie diese liebseligen Worte sprach, schüttelte sie ihr Haupt, und die Ringlein klingelten in der Krone, und in der Luft hörte man singen:
„Fort von hier, von hierio,
weit vom Pumpelirio,
weit vom Holzebocke.
Hübsch mit Kreuz und Glocke,
Chorgesang und Posaunenspiel,
gibt uns Ruh und kost‘ nicht viel!“ Dem Jerum ging das durch Mark und Bein; er zitterte, dass ihm die Messer in der Scheide tanzten, und schrie mit verzweifelter Stimme gegen Ursula:
„Was sein soll, das muss geschehen,
nichts kann dem Geschick entgehen.
Ach, ich möchte nicht und muss!
Oh, ich armer Jerumius!“ Da knackte auf einmal der Pumpelirio Holzebock so gewaltig, als wolle er in der Mitte auseinander platzen, und Jerum riss die arme Ursula vom Felsen und
fasste sie in der Mitten
und schwang sie auf sein Ros,
hei, wie sind sie geritten
nach Munkelwust ins Schloss.Mehrere Wochen war Ursula schon die Gemahlin des bösen Jerum, und sie war so gütig und so fromm und so schön und so mild, dass er ganz tiefsinnig wurde und über sein böses Leben nachdachte. Ach, seine Stadt Besserdich lag ihm immer im Sinn. Ursula sprach immer von Besserdich, aber er schämte sich, gedemütigt an den Ort zurückzukehren, wo er immer ein übermütiger Herr gewesen war, und wurde dann oft plötzlich von Zorn und Wut überfallen und ritt im Land herum und tat viel Böses. ‚Ach‘, dachte dann Ursula, ‚wenn mir Gott ein liebes Kind schenkte, das ihm freundlich wäre, vielleicht würde sein wildes Herz gerührt werden, wann es ihn freundlich anblickte und ihm seine kleinen Hände entgegenstreckte.‘ Sie betete darum immer sehr fleißig zu Gott, und wenn sie abends allein am Fenster saß und den wilden Jerum von seinen Streifereien zurückerwartete, so blickte sie immer nach dem Gestirn des großen Bären und dachte ihrer verstorbenen Eltern, und streckte die Hände gen Himmel: ‚Ach, wenn ich nur ein Kind hätte!‘ Den einzigen Trost hatte sie in ihrem elenden Leben, dass die armen Leute aus Bärwalde die Bedrückung des Jerum leichter zu ertragen schienen, seit die liebe Tochter ihres ehemaligen Fürsten bei ihnen war. Auch tat sie, wo sie konnte, ihnen Gutes und redete ihnen freundlich zu. Das traurigste aber war ihr, dass Jerum niemals erlaubte, dass sie an Fanferlieschen schreibe, und dass er schon einige Boten dieser ihrer einzigen Freundin hatte ermorden lassen. Als sie nun einstens Abends einsam und traurig am Fenster saß und auf Jerum wartete, der seit mehreren Tagen nicht mehr heimgekehrt war, war der Himmel ganz trüb und ihr liebes Gestirn nicht zu sehen. Und wie sie so an den wilden Bergwänden hinaufblickte, hörte sie wieder jenen traurigen Gesang, und die weißen Jungfrauen zogen ums Schloss herum und sangen sehr traurig:
„Im Baume schreien die Raben;
ach, wären wir ehrlich begraben!
Fort von hier, von hierio,
weit vom Pumpelirio,
weit vom Holzebocke.
Hübsch mit Kreuz und Glocke,
Chorgesang, Posaunenspiel,
gibt uns Ruh und kost‘ nicht viel.“ Worauf sie verschwanden. Da nahm sich Ursula fest vor, nicht zu ruhen noch zu rasten, bis die Fräulein begraben wären. Bald darauf hörte sie wilden Hörnerklang und sah die Fackeln durch den Wald reiten und hörte den wilden Gesang von Jerums Zug:
„Juch! juch! Über die Heide!
Fünfzig Messer in einer Scheide.“ Sie eilte hinab an das Tor, ihren Gemahl zu empfangen, aber er sprengte so wild herein, dass sie das Pferd gegen die Treppe schleuderte. Als Jerum absteigen wollte, raffte sie sich auf und hielt ihm den Steigbügel. Er redete aber nicht freundlich mit ihr und bat sie nicht um Vergebung. Finster stieg er die Treppe hinauf, und die arme Ursula folgte ihm nach. Er setzte sich auf seinen Stuhl und redete kein Wort; sie konnte es vor Jammer nicht mehr aushalten und warf sich vor ihm auf die Knie und weinte und sprach: „Ach, mein Gemahl, was hab ich dir zuleide getan?“ Er antwortete nicht. „O ich Unglückliche“, rief sie, „ich hatte mich so auf deine Heimkehr gefreut, ich hatte dich recht innig bitten wollen:
Du möchtest begraben die Mägdelein
in einem kühlen Lindenhain – – -„Weiter konnte sie vor Tränen nicht sprechen; sie legte ihr Haupt in seinen Schoß, und als die Ringe in ihrer Krone so rasselten, zitterte Jerum am ganzen Leibe. Plötzlich fasste er mit seiner Hand an ihr Ohr und schrie wie erschreckt:
„O wahr, wahr, wahrlich, wahr!
du musst auch zu der Schar,
Bärin Ursula, der Schuss! –
O ich armer Jerumius.“ Was fehlt dir, lieber Jerum“, sagte Ursula, „dass du so traurig redest?“ Da erwiderte er: „Nichts, mein Weib; aber stehe auf, wir wollen gleich dahin gehen, wo die Mägdelein sollen begraben werden; ich habe den Lindenhain gefunden, ich will dir ihn zeigen.“ Das sagte er so kalt, dass Ursula zitterte und sprach:
„Ach Jerum, hast du mich ein bisschen lieb:
Jetzt nicht, jetzt nicht, der Himmel ist trüb.“ Er aber sprach:
„Nur fort! Nur fort! Der Himmel grau,
der ist so recht zur Totenschau.“ Da zog er sie zum Schloss hinaus und zog mit ihr den Weg hinauf nach dem Pumpelirio Holzebock. Da sprach sie:
„Ach Jerum! Ach! kein Lindenhain
wird auf dem Weg zu finden sein.“ Er aber sprach:
„Nur fort! Und ist’s kein Lindenhain,
so finden wir doch Totenbein.“ Da weinte Ursula sehr und klammerte sich an ihn und sprach:
„Ach Jerum! Ich flehte zum Himmelsthron,
dass Gott uns schenk‘ einen kleinen Sohn.“ Er aber zerrte sie weiter den Berg hinauf und sprach:
„Nur fort! Nur fort! Es heult der Wind,
er wiegt der Bärin ihr schwarzes Kind.“ Da sie aber oben waren, ging der Mond ganz blutig auf, und Ursula sprach:
„Ach Jerum! Der Mond ist blutig rot.
Ach Jerum! Stich mich heut nicht tot.“ Er aber sprach:
„Nur fort! Das ist der Abendschein,
er scheinet in den Lindenhain.“ Da kamen sie den Berg hinauf auf die öde Heide, und Ursula sprach:
„O Jerum! Wie die Wolken fliehen,
wie sie so wild vor dem Monde ziehen.“ Er aber sprach:
„Nur fort, das sind die Lämmer klein,
sie ziehen nach dem Kirchhof dein.“ Und immer riss er sie weiter fort, ach! dass die Dornen ihr Röcklein zerrissen, und Ursula sprach:
„O Jerum! Die Dornen zerreißen mich,
kehre um, ich bitte dich!“ Er aber sprach:
„Nur fort, es ist der Rosenhain,
er schließet rings den Kirchhof ein.“ Und nun kamen sie an den dürren Baum, wo der Pumpelirio Holzebock stand, und Ursula sprach:
„Ach Jerum! Das ist der dürre Baum,
das ist der wüste, öde Raum,
das ist der Pumpelirio Holzebocke,
ach! hörst du, wie die Raben schreien?“ Er aber sprach:
„Hier ist der kühle Lindenhain,
hier läutet deine Glocke,
hörst du, wie der Neuntöter schreit?
Du musst sterben, halt dich bereit!“ Da sank sie auf die Knie und sprach:
„Ach Jerum! Sag mir doch, warum
bringst du deine arme Ursula um?“ Da sprach er:
„Weil du nur eine Bärin bist,
die mich betrog mit böser List.
Bei Besserdich gleich an dem Tor
schoss ich den Pfeil dir durch das Ohr.
Die Narbe habe ich gefühlt,
als ich mit deinen Locken spielt‘.
Und jetzo muss ich dich erstechen,
um Fanferlieschens Schwur zu brechen.
Mach fort! Mach fort! Der Neuntöter schreit,
sterben musst du, halt dich bereit!“ Ursula kniete nieder, um zu beten, und Jerum suchte eins von seinen fünfzig Messern heraus und fing es an zu wetzen. Wie Ursula die Hände gegen Himmel hob und betete, sah sie plötzlich das Gestirn des großen Bären erscheinen, und es zuckte wieder wie damals, als sie zuerst hier betete, und es fiel wieder wie ein Stern in ihren Schoß nieder. Da war sie auf einmal wunderbar getröstet und stand auf und sprach:
„Herr, ist dies der Lindenhain,
wo ich soll begraben sein?
Sag, wo ist der kühle Bronnen,
der zum Grabe kömmt geronnen?“ Jerum sprach da:
„Aus der Brust soll er dir springen,
wenn ich werd das Messer schwingen.“ Da griff er nach dem Messer, das er geschliffen und neben sich gelegt hatte, aber fort war es; er konnte es nicht mehr finden. Da sagte er zu Ursula: „Bete nur noch ein wenig.“ Sie kniete nieder und betete fort. Er nahm ein anderes Messer und wetzte es und legte es wieder hin und rief:
„Mach fort! Mach fort! Der Neuntöter schreit,
sterben musst du, halt dich bereit!“ Ursula nahte sich still und sprach wieder:
„Herr, ist dies der Lindenhain,
wo ich soll begraben sein?
Sag, wo ist der kühle Bronnen,
der zum Grabe kömmt geronnen?“ Da sprach er wieder:
„Aus der Brust soll er dir springen,
wenn ich werd das Messer schwingen.“ Aber das Messer war wieder fort. Er konnte das nicht begreifen und ließ sie wieder beten und wetzte wieder. Und sie kniete hin und betete für den Jerum recht von Herzen. Er rief wieder:
„Der Neuntöter schreit,
halt dich bereit!“ Sie nahte wieder mit denselben Worten, das Messer war wieder fort, und so ging das, bis neunundvierzig Messer fort waren. Da hielt Jerum das fünfzigste Messer fest in der Hand und schwang den Arm und wollte es ihr in das Herz stoßen; aber auf einmal hielt er ein und tat einen lauten Schrei und ließ den Arm sinken, denn es flog ein Messer vom Himmel herunter auf seinen Arm und stach ihm die Hand durch und durch, und wo er hinfloh, fielen Messer auf ihn und verwundeten ihn hier und dort. Ursula lief auf ihn zu und umarmte ihn und bedeckte ihn mit ihren Armen; aber die Messer fielen überall auf ihn, bis sie alle heruntergefallen waren. Da hörte man die Hörner von Jerums Gefolge, da leuchteten die Fackeln heran. Sie zogen aus, ihren Herrn zu suchen, und fanden ihn mit Wunden bedeckt, und Ursula, die ohnmächtig bei ihm lag. Seine Diener waren sehr erschrocken, sie zogen ihm die Messer aus den Wunden, verbanden ihn, so gut sie konnten, und brachen Äste von dem dürren Baum, auf welche sie ihn und Ursula legten und nach Haus brachten. Dabei sangen sie:
„Juch! juch! Über die Heide!
Fünfzig Messer in einer Scheide,
fünfzig Messer in Mannes Leib,
durch Ursula, das böse Weib.“ Über ihnen aber flog der Neuntöter und schrie sehr heftig, und neben dem Zug schwebten die weißen Jungfräulein über die Erde hin und sangen:
„Fünfzig Messer in Mörders Leib,
ihr könnt nicht retten sein treues Weib.“ Das alles war sehr betrübt.
Als sie sich Munkelwust nahten, sahen sie das ganze Schloss erleuchtet. Da ließ der Führer den Zug halten, nahte sich dem Jerum, der sich etwas erholt hatte, und redete mit ihm heimlich, worauf sich der Zug trennte. Die mit den Fackeln zogen mit Jerum in das Schloss. Der Führer aber und sein Sohn blieben mit der armen Ursula zurück. Als der Zug schon in das Schloss herein war, trugen sie die Ursula in einen alten, hohen Turm des Schlosses, in welchem gar kein Fenster war. Da legten sie dieselbe an die Erde, gingen weg und mauerten die Türe zu und warfen eine Menge Disteln und Dornen davor.
Die arme Ursula mochte wohl ein paar Stunden in dem dunkeln Turm gelegen haben, als sie etwas Kühles an den Augen und Wangen spürte und erwachte. Das erste Wort, das sie aussprach, war: „Ach, mein teurer Herr und Gemahl, lebst du noch? Oh, wenn Gott nur deine Diener herführte, dich mit deinen vielen Wunden aus der dunkeln Nacht nach Hause zu bringen. Ich will dich so treulich pflegen und heilen, dass du mich gewiss lieb gewinnen sollst. O mein Gemahl, antworte mir! Wehe mir, haben dich die fallenden Messer getötet, konnte ich keines, mit meinem Leibe dich bedeckend, von dir abwenden?“ Da die arme Ursula, welche glaubte, sie sei noch an dem schrecklichen Orte bei dem bösen Pumpelirio Holzebock, keine Antwort erhielt, richtete sie sich auf und suchte herum, den Leichnam ihres Gemahls zu suchen; aber wie erschrak sie, da sie sich rings von kalten Mauern umschlossen fühlte. „Oh! allmächtiger Gott!“ rief sie aus. „Wo bin ich, was ist aus mir geworden?
Weh, weh, ganz allein!
Erd und Himmel sind von Stein!
Ach, kein Mond, kein Sternenschein,
und kein Lüftlein grüßt herein,
und es singt kein Vögelein;
weh, weh, ganz allein!“ Da sprach eine Stimme zu ihr mit freundlichem Tone: „Erschrick nicht, liebe Ursula, ich bin da; erinnerst du dich wohl des Vogels, dessen Junge du von dem Marder durch einen Steinwurf befreitest und mit dem du deinen Kuchen teiltest, da du durch den Wald nach Munkelwust reistest?“
„O ja“, sprach Ursula, „aber was soll dieser Vogel? Wer bist du? Sage mir um Gottes willen, wo ist Jerum, mein armer Gemahl, und wie komme ich an diesen Ort?“
„Ich bin dieser Vogel“, antwortete die Stimme, „setze dich wieder an die Erde und erlaube mir, auf deine Hand zu sitzen, so will ich dir alles erzählen, was du mich gefragt, und noch viel, viel mehr. Aber fasse Mut und vertraue auf Gott, du bist sehr unglücklich.
Aber keiner ist so allein,
und wäre Erd und Himmel von Stein
und schiene kein Mond, kein Sternenschein,
und grüßte ihn kein Lüftlein,
und sänge ihm kein Vögelein:
Wird doch in seinem Herzen rein
der liebe Gott stets bei ihm sein.“

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