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Der klitzekleine Riese und der riesengroße Zwerg

3.4
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Früher, als das Wünschen noch geholfen hat, lebte inmitten der hohen Berge und dem Zwergenwald ein trauriger Riese namens Weinrich. Weinrich war ständig traurig, weil er anders war als alle anderen. Er war der riesigste Riese unter den Riesen, was dazu führte, dass er von den anderen gemieden wurde. Er wurde von vielen gehänselt und ausgelacht, fühlte sich als Außenseiter, der nirgends dazu gehörte. Mit seiner außerordentlichen Größe passierten ihm dauernd dumme Missgeschicke. Nieste er, so mussten sich alle Tiere und auch die Zwerge schnell irgendwo festhalten, um nicht fortgeblasen zu werden. Zudem war er so schwer, dass alles, worauf er trat, plattgedrückt wurde. Sogar einige von seinesgleichen fürchteten sich vor ihm wegen seiner Größe. Ja, und den Tieren und Zwergen, die in den hohen Bergen und im Zwergenwald wohnten, jagte er natürlich auch einen riesigen Schrecken ein, obwohl er der friedlichste Riese im ganzen Land war. Niemals würde er einem Zwerg absichtlich etwas zuleide tun. Weinrich entwickelte sich zu einem eingeschüchterten Riesen, der vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf den Boden setzte, um ja niemanden zu verletzen. Da wurde er erst recht von den anderen verspottet: „Ha, ha! Seht euch mal den Weinrich an, er geht wie eine lahme Schnecke voran!“
Das stimmte Weinrich wieder traurig. Langsam verließ er die anderen und ging zum großen See, um dort in Ruhe seine Tränen fließen zu lassen. Bei jedem Schritt bebte die Erde unter dem Gewicht seiner Füße, in den Zwergenhöhlen schwankte der Fußboden. Verängstigt brachten sich die Zwerge in Sicherheit. Man konnte nie wissen, wann eine Höhle einstürzte.

Der traurige Riese setzte sich ans Ufer, stützte seine Arme auf die Knie und legte den Kopf auf die Hände. Verzweifelt schaute er auf den Wasserspiegel. Er spürte die riesengroße Traurigkeit und eine noch mächtigere Hilflosigkeit. Da begann er bitterlich zu weinen. Plötzlich hörte er eine Stimme neben sich: „He! Hör doch zu weinen auf! Ich ertrinke sonst in deinen Tränen!“
Weinrich zuckte zusammen und schaute sich um, doch er glaubte mutterseelenallein zu sein.
„Hier unten bin ich!“, schrie ihm ein klitzekleiner Zwerg entgegen und klammerte sich an seinem Hosenbein fest, um vor dem Wasser unter sich gerettet zu werden. Endlich erkannte der Riese den kleinen Kerl.
„Oh, das tut mir leid!“, antwortete Weinrich. „Das wollte ich nicht! Aber ich kann meine Tränen einfach nicht mehr zurückhalten!“
Der Zwerg kletterte, so schnell er konnte, an seinen Beinen hoch bis auf seine Schulter: „Hast du denn gar kein Erbarmen mit mir? Du lässt hier deinen Tränen freien Lauf, während ich fast ertrinke. Siehst du denn nicht, dass es mir, dem kleinen Schluchz, nicht gut geht?“
Jetzt bemerkte Weinrich, dass auch der klitzekleine Zwerg ein verweintes Gesicht hatte. Er entschuldigte sich erneut, doch der kleine Kerl jammerte kläglich: „Ich möchte bloß wissen, wieso du weinst? Ich schon, ich habe einen guten Grund zu weinen. Sieh mich an, wie klitzeklein ich bin. Wenn ich so groß wäre wie du, dann würde ich nur mehr Freudensprünge machen und den ganzen Tag über lachen!“
Ob Weinrich wollte oder nicht, ihm kullerten wieder dicke Tränen übers Gesicht und mündeten geradewegs in den See hinein: „Du hast leicht reden. Ich wäre auch viel lieber so klein wie du. Wenn man klein ist, dann wäre das Leben herrlich! Alle lachen mich aus, ich habe keine Freunde und viele haben sogar Angst vor mir. Und das alles nur, weil ich so riesengroß bin.“
Schluchz hörte aufmerksam zu. Das war schon merkwürdig. Wie oft hatte er sich gewünscht, ein Riese zu sein. Denn auch ein Zwerg hat es nicht einfach. Leicht konnte er übersehen werden und lief Gefahr, von einem Riesen zertreten zu werden.
„Ach, die Welt ist doch so ungerecht! Könnten wir unsere Größen tauschen, dann wäre das Leben perfekt!“, träumte der klitzekleine Zwerg laut vor sich hin, während er seinen Tränen freien Lauf ließ.

Auf einmal begann der See zu leuchten und zu strahlen. Ein fabelhaftes Wesen tauchte auf der Wasseroberfläche auf. Goldene Strahlen fielen wie Haare herunter, leuchtend blaue Augen ragten aus dem Gesicht einer wunderschönen Frau hervor. Das Wesen hatte Flügel wie ein Engel und konnte sogar mit lieblich süßer Stimme sprechen: „Ihr habt mich gerufen?“
Die beiden erschraken sehr und schüttelten heftig den Kopf.
„Immer wenn zwei zusammen weinen, sich etwas sehnlichst wünschen und die Tränen in meinen See fließen, erscheine ich“, erklärte das märchenhafte Wesen. „Ich bin eine Wunschfee aus den Tiefen des Wassers. Wie kann ich euch behilflich sein? Drei Wünsche habt ihr frei.“
Weinrich glaubte zu träumen und freute sich wie ein kleines Kind. Als er seine Stimme wiederfand, sagte er: „Ich wünsche mir, dass ich klein bin!“
Ein sanfter Wind umhüllte ihn, ein lieblicher Klang ertönte und der riesengroße Riese begann zu schrumpfen, bis er so klein wie Schluchz war.
Weinrich erschrak und beklagte sich: „So klein wollte ich nun auch wieder nicht sein!“
Da meldete sich der klitzekleine Zwerg zu Wort: „Selber schuld. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich wünsche mir, dass ich groß bin!“
Gespannt wartete er auf den sanften Wind und hörte den lieblichen Klang. Schluchz begann zu wachsen, bis er ein riesengroßer Riese war.
„Dies war der zweite Wunsch!“, sagte die Wunschfee. „Euer dritter Wunsch soll gut überlegt sein!“
Schluchz schaute an seinem Körper hinab, der nicht mehr enden wollte und meinte dann: „Ach, so groß wollte ich nun auch wieder nicht sein!“
Und weil nun der letzte Wunsch folgen sollte, überlegten Weinrich und Schluchz zusammen, für was sie sich entscheiden sollten. Wie aus einem Mund entgegneten sie fest entschlossen: „Wir möchten weder groß noch klein sein, aber doch groß und klein!“
Die Wunschfee lächelte, verstand sie die beiden doch nur zu gut. Ein sanfter Wind umhüllte sie, und ein lieblicher Klang ertönte. Noch bevor der riesengroße Riese, der nun eigentlich ein klitzekleiner Zwerg war, und der klitzekleine Zwerg, der nun eigentlich ein riesengroßer Riese war, merkten, wie ihnen geschah, begann Weinrich wieder zu wachsen und Schluchz wieder zu schrumpfen. Schlussendlich saßen ein klitzekleiner Riese und ein riesengroßer Zwerg am Ufer des Sees.
Die beiden trauten ihren Augen nicht. Sie konnten ihr Glück kaum fassen und berührten einander, kniffen sich in die Wange, um zu sehen, ob es Wirklichkeit oder nur ein Traum war. Dann fassten sie sich an den Händen und tanzten einen Freudentanz. Ja, so waren sie genau richtig. Die Fee lächelte ihnen ein letztes Mal zu und verschwand in der Tiefe des Sees.
Weinrich und Schluchz waren nun nicht viel größer oder kleiner als ein Mensch.Und wenn der klitzekleine Riese und der riesengroße Zwerg nicht gestorben sind, so gehen sie noch heute Hand in Hand als gute Freunde durch das Land und leben glücklich und froh, irgendwo.

Quelle: Carmen Kofler

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