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Märchenbasar

Der magische Strauch

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Zu der Zeit, als gerade das stählerne Dampfross die Welt eroberte, lebten der alte Forstmeister Friedrich, seine Gattin Walburga und Dackel Rufus in einem kleinen, aber feinen Haus mitten im Wald. Ihr neunjähriger Enkel, Hein-Bertold, verbrachte jedes Jahr den Sommer bei ihnen. Der kleine Strolch wurde schon sehnsüchtig von seinen Großeltern erwartet. Auch der Hund spürte die nahende Ankunft des Gastes und wich seinem Herrchen nicht von der Seite. Morgen war es nun soweit. Deshalb stellte Fritz den Wecker auf sechs Uhr, um pünktlich mit dem Kutschwagen am Bahnsteig zu sein.

Fröhlich pfeifend stapfte der weißhaarige alte Mann in den Stall, begrüßte die graue Stute liebevoll und spannte sie vor eine schlichte Kutsche. Er prüfte dabei genau, ob das lederne Riemenzeug korrekt saß und es dem Pferd nicht drückte. Bald standen Ross und Kutscher zur Abfahrt bereit. Doch Rufus ließ nicht zu, dass es ohne ihn losging. Er verlangte laut kläffend auf den Bock gehoben zu werden. Dann zuckelte die lustige Fuhre davon.
Der erwachende Wald duftete herrlich. Sonnenstrahlen kämpften sich durchs Blätterwerk, ein Specht klopfte irgendwo, der Kuckuck rief laut und plötzlich huschten Rehe über den Weg. Bester Laune schmetterte der Großvater sein Lieblingslied und paffte eine dicke Zigarre.
Sein kleiner Weggefährte wurde immer unruhiger je näher sie dem Ziel kamen, lauschte aufmerksam und stupste Herrchen mit der Schnauze an. Fast gleichzeitig trafen Eisenbahn und Pferdegespann am Bahnhof ein.
Friedrich musste aufpassen, dass er den Lauser in dem Gewimmel nicht übersah.
,,Huhu, Großvater! Hier bin ich, huhu!”
,,Hoppla, nicht so stürmisch, du wirfst mich ja um, junger Mann”, lachte Fritz.
Als der Bub dann auch noch seine vierbeinigen Freunde entdeckte, war er kaum noch zu bremsen. Er rannte übermütig zu ihnen, kraulte der Stute den Hals und knuddelte das braune Dackelchen.

Walburga hielt bereits ungeduldig Ausschau nach der Droschke, als diese forsch vorfuhr.
Und hast du nicht gesehen, sprang Berti direkt in Großmutters Arme.
,,Endlich bist du da, mein Kleiner! Ich habe dir sogar dein Lieblingsgericht gekocht”, zwinkerte sie glücklich.
,,Oh, toll, süße Nudeln, hm”, freute er sich und futterte gleich drauflos. Danach musste er den Großeltern erst einmal alle Neuigkeiten erzählen. Dann aber flitzte er sofort zum nahen See hinunter, um nachzusehen, ob der schlaue Hecht vom Vorjahr noch da war. Rufus schloss sich dem Knaben wie stets an.

*****

Jeden Tag unternahmen die beiden neue Entdeckungstouren, schwammen im Waldsee oder halfen manchmal dem Großvater bei kleineren Arbeiten. Am liebsten kletterte Bertold auf großen Bäumen herum oder stromerte im Forst umher.
Wieder einmal durchstreiften Bub und Dackel die Gegend, als dem Jungen ein seltsamer Strauch auffiel. Seine dreizackigen Blätter blutrot mit gelblichen Punkten. Die schotenförmigen Früchte aber hellblau.
,,Hast du so was schon mal gesehen? Ob man die wohl essen kann?”
,,Wau, wau, wuff”, antwortete der Hund, und es klang ein bisschen wie – probier doch.
,,Soll ich wirklich”, meinte Berti, während er zaghaft eine Schote pflückte. Neugierig biss er ein winziges Stück ab. Es schmeckte weder süß noch bitter, auch nicht scharf, eher wie rohe Kartoffel. Er aß die ganze Frucht auf und schimpfte mit Rufus:
,,Hör auf zu betteln, das ist nichts für dich!”
Doch gleich darauf bekam Bertold einen riesigen Schreck:
,,Oh weh, sind diese Dinger gar giftig, und du wolltest mich warnen? Ach, wenn ich dich doch bloß verstehen könnte!”
,,Nein, nein, habe keine Angst Zweibeiner, das Zeug ist nicht giftig”.
,,Woher weißt du…, waaaaaas? Wieso verstehe ich dich?”
,,Wuff, los komm, komm mit, schnell.”
Sie sausten zum Seeufer.
,,Schau mal ins Wasser, Junge”, forderte der sprechende Hund.

Das Spiegelbild zeigte zwei herzige Dackel.
,,Au weia, alter Kuhfladen! Ist das etwa eine Fata morgana?”
,,Keineswegs, du hast vom Zauberbusch genascht und dabei was gewünscht.”
Entsetzt fragte Hund Bertold:
,,Muss ich etwa jetzt immer so bleiben?”
,,Keine Sorge. Verzehre eine zweite Frucht, dann wirst du wieder Berti.”
,,Puh, ist das eine verrückte Sache. Könnte ich öfter von den Früchten essen?”
,,Ja, so oft du magst.”
,,Klappt das auch immer mit dem Rückzauber?”
,,Ja, gewiss doch!”
,,Oh mann, wie aufregend. Das muss ich unbedingt bald wieder versuchen.”

*****

In den darauffolgenden Tagen aß der Bursche mehrmals von den Schoten. Einmal war er ein prächtiger Hirsch mit mächtigem Geweih, stolzierte eitel umher und fühlte sich wie der König des Waldes.
,,Schnell, verstecke dich, ich höre jemanden kommen”, warnte Rufus ihn.
Hirsch Hein-Bertold schritt weiter und stand plötzlich vor Großvater Friedrich. Ein so schönes Rotwild hatte der schon lange nicht mehr gesehen. Sie sahen einander direkt in die Augen, bis sich Fritz behutsam zurückzog und das Tier ziehen ließ.
Beim Abendessen berichtete er von seiner aufregenden Begegnung. Walburga spottete, von wegen Jägerlatein, aber Hein platzte beinahe vor lachen.

Ein anderes mal beschloss der Lausbub Turmfalke zu sein. Das fand sein kleiner, vierbeiniger Freund nicht so toll. Denn der Zauber wirkte nur bei Menschen und so flog er ohne den Dackel davon. Beleidigt trippelte der Hund zum Waldhaus, legte sich auf der Veranda in die Sonne und döste.
,,Schau mal, Alter”, meinte Burga argwöhnisch, „da stimmt was nicht.”
,,Wieso?”
,,Na ja, sonst sind die doch unzertrennlich, wo der eine ist findet man auch den anderen. Aber keine Spur von dem Buben.”

Indessen vergnügte sich der Knabe beim fliegen. Er schwebte hoch über dem Wald und fand, dass von allen Tieren die Vögel es am besten hatten.
Die Abendsonne linste müde, als sich der Falke frech neben dem lesenden Großvater nieder ließ.
,,Da spuck doch einer in den Teich”, murmelte er, „Frau komm und sieh selber, sonst spinne ich wieder!”
Walburga staunte nicht schlecht, trat näher und griff nach dem Vogel. Aber der flüchtete augenblicklich, um mit Hilfe einer blauen Schote wieder Berti zu werden. Kurz darauf kam das kleine Schlitzohr völlig außer Atem im Forsthaus an.
,,Jetzt wird’s aber Zeit, Bub, Morgen geht es wieder heim, also ab ins Bett”, mahnte die Großmutter.

Die letzte Nacht verging viel zu schnell. Traurig nahm Hein-Bertold Abschied vom vertrauten Waldhaus. Walburga herzte ihren kleinen Liebling und wischte sich verstohlen ein paar Tränen weg.

Die Abfahrt der Eisenbahn verzögerte sich etwas. Noch einmal liebkoste der Junge seinen kleinen Freund und flüsterte ihm verschwörerisch zu:
,,Ich komme bald wieder, beschütze solange unseren Zauberbusch. Adieu, Rufus!”

Quelle: Ulla Magonz

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