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Es war einmal ein alter Holzhacker, welcher verwitwet war und mit seinen sieben Söhnen mitten in einem großen Walde wohnte. Eines Tages rief der Holzhacker seine sieben Söhne zu sich und sprach: »Ihr Burschen! Bis heute habe ich geschwitzt, um euch euer Brot zu verdienen. Jetzt, da ihr groß seid, geht selbst hin und arbeitet für euren Lebensunterhalt. Ich habe noch genug Kraft, um nicht auf Almosen angewiesen zu sein. Wenn ich nicht mehr kann, so werde ich einen Sack nehmen und von Tür zu Tür um Brot betteln gehen, wie es einst unser Herr Jesus Christus getan hat.« »Vater, wir sind reisefertig! Wann wir Geld haben, werden wir Euch welches bringen, und Ihr sollt nicht betteln gehen.« »So geht! Der liebe Gott bewahre euch! Aber zuvor will ich noch jedem von euch ein Geschenk machen.« Der alte Holzhacker öffnete nun seinen Kasten, darin befand sich ein Kleid, das war aus allen Farben zusammengestückelt, weiterhin eine Börse, die enthielt sechs Dukaten. Er gab jedem einen Dukaten, wobei er bei dem ältesten der Söhne anfing, so daß für den jüngsten nichts mehr übrigblieb. Die, welche ihre Dukaten empfangen hatten, verabschiedeten sich von ihrem Vater und gingen fort. Dann sagte der alte Holzhacker zu dem Jüngsten, der noch wartete: »Bursch, nimm dieses zusammengestückelte Kleid und sei nicht neidisch auf deine Brüder! Du wirst der Mann in allen Farben sein.« Gesagt, getan. Der Mann in allen Farben nahm Abschied von seinem Vater und ging fort.
Bei Sonnenuntergang gelangte er an den Saum eines großen Waldes und streckte sich unter einer Eiche nieder, um hier die Nacht zu verbringen. Der Mann in allen Farben war gerade am Einschlummern, als er Schreie und Geräusch in den Ästen vernahm. Eine Drossel war es, welche bei ihrem Nest klagte, weil eine Schlange sich emporgeringelt hatte, um ihre Kleinen zu fressen. Sogleich nahm der Mann in allen Farben seinen Stock und schlug die Schlange entzwei. Die Schlange war aber von der Art derer, die das unter der Erde verborgene Gold bewachen. Sie hatte in ihrem Bauche zwölf Doppellouisdor und ebenso viele spanische Quadrupel. »Gut,« sagte der Mann in allen Farben, »die Doppellouisdor sind für mich und die spanischen Quadrupel für meinen Vater.« Er streckte sich wieder unter der Eiche aus, schlief die ganze Nacht und ging bei Sonnenaufgang weiter.
Nach drei Stunden Marsch machte er in einer Herberge an der Seite der Straße halt. Als er Suppe gegessen und eine Flasche getrunken hatte, bezahlte er die Pächterin und fragte sie nach dem Weg. »Mann in allen Farben, wenn du immer geradeaus gehst, so wirst du in drei Tagen in Paris sein. Wenn du aber rechts gehst, so kommst du um Mittag in das Land des Hungers und Durstes, und ich weiß nicht, wohin du dann gelangst.« Der Mann in allen Farben hielt sich rechts. Gerade um Mittag gelangte er in das Land des Hungers und Durstes. Dort gab es keinen Fluß, keinen Bach, keinen Brunnen, keine Quelle. Die Erde war dort so trocken wie der Boden eines Backofens. Menschen und Tiere, groß und klein, Gras und Bäume, alles kam dort um, gekocht und gebraten von der Sonne. Drei Tage und drei Nächte lang wanderte der Mann in allen Farben ohne zu essen und zu trinken. Da fand er einen Toten auf dem Boden ausgestreckt, der noch in seiner rechten Hand eine schmiedeeiserne Stange hielt, welche neun Zentner wog. Der Mann in allen Farben beerdigte den Toten, betete für ihn zu Gott, nahm die neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange und wanderte weiter, bis der nächste Morgen dämmerte.
Bei Sonnenaufgang hatte er das Land des Hungers und Durstes hinter sich. Aber vor ihm lag ein Gebirge, steil wie eine Mauer, welches mehr als hundert Klafter hoch aufstieg. Am Fuße des Gebirges gewahrte er ein Haus, dessen Türen und Fenster sperrangelweit offenstanden. Es war das Haus des Ohneseele, welcher gerade ausgegangen war, um seinen Rundgang zu machen. Der Mann in allen Farben trat ein. Er nahm einen Brocken Brot vom Brett, stieg in den Keller, um sich Wein zu holen, und begann zu essen und zu trinken. Hierauf legte er sich ins Bett mit der neun Zentner schweren schmiedeeisernen Stange in Reichweite und schlief bis Mitternacht. Da wurde er durch lautes Gepolter geweckt. Es war Ohneseele, welcher von seinem Rundgang zurückkam. »Ho! Ho! Ho! Wer hat sich da bei mir eingenistet? Warte, du Dieb, warte! Ich will dir den Geschmack am Brot verleiden!« Aber der Mann in allen Farben war schon aus dem Bett gesprungen und hatte die neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange mit der Hand umklammert. Nun gab es einen großen Kampf, welcher drei geschlagene Stunden währte. Schließlich wurde der Ohneseele durch einen gewaltigen Schlag auf den Kopf zu Boden gestreckt. »Mann in allen Farben, laß mich nicht länger leiden! Nie wirst du mich töten können. Es ist geweissagt, daß ich nicht sterben kann bis zum Ende der Welt, um nie wieder aufzuerstehen. Laß mich nicht länger leiden, und ich werde alles tun, was du mir gebietest.« »Gut, Ohneseele, zeige mir, wo man den Berg erklimmt. Aber zeige recht, sonst hüte dich vor meiner neun Zentner schweren schmiedeeisernen Stange!« Nun zeigte der Ohneseele dem Mann in allen Farben die gute Straße, und dieser kletterte wie eine Geiß durch die hohen und steilen Felsen.
Plötzlich bemerkte er einen Wolf, der war so groß wie ein Stier und lief im Galopp mit offenem Rachen auf ihn los. Was tat nun der Mann in allen Farben? Er schwang seine neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange und schlug damit solchermaßen auf den Kopf des Tieres, daß es auf den Tod verwundet niederstürzte. »Mann in allen Farben,« sagte der Wolf, »du bist nicht der erste, der ohne zu sterben das Land des Hungers und Durstes durchquert und dem Ohneseele seinen Willen aufgezwungen hat. Von denen, die bis hierher gekommen sind, habe ich viele gefressen. Aber manche sind weitergegangen und sind nun an einem Ort, welchen du alsbald erreichen wirst. Da ich durch deine Hand falle, so iß mein Fleisch und trink mein Blut, denn du brauchst Mut und bist noch nicht am Ende deiner Leiden.« Der Mann in allen Farben wartete, bis der Wolf tot war. Dann aß er sein Fleisch und trank sein Blut und fühlte sich alsbald von einer gewaltigen Kraft durchdrungen.
Eine Stunde später stand er auf dem Kamme des Gebirges, welches hier an hundert Klafter tief unmittelbar in einen Fluß abstürzte, der eine halbe Meile breit war. Das Wasser dieses Flusses machte ein furchtbares Getöse und strömte schneller als der Wind. Auf der anderen Seite des Flusses erblickte er ein Land so wunderschön, so wunderschön, daß man glauben konnte, es sei das Paradies des lieben Gottes. Auf dem Kamme des Gebirges traf der Mann in allen Farben eine Menge Leute, die ihren ganzen Mut dazu aufgewendet hatten, um bis hierher zu gelangen. Einige weinten, andere knieten nieder, falteten die Hände und riefen: »Mein Gott, mein Gott, gib, daß wir hinüberkommen!« Da dachte der Mann in allen Farben: »Der liebe Gott steht denen nicht bei, die alles ihm überlassen. Diese Leute werden nie hinüberkommen.« Manche beratschlagten sich immer und entschlossen sich nie; sie sagten: »Gut wegkommen ist alles, nur keine Eile! Wir haben Zeit!« Da dachte der Mann in allen Farben: »Diese reden und handeln nie bis zum Tage des Gerichts. Es gibt Zeiten, da es zu reden, und Zeiten, da es zu handeln gilt. Wer nichts wagt, gewinnt nichts. Diese Leute werden nie hinüberkommen.« Andere redeten miteinander: »Stürzen wir uns alle auf einmal hinab. Helfen wir einander, schwimmen wir mitsammen, alle mitsammen!« Da dachte der Mann in allen Farben: »In diesem Falle muß man alles geben und nimmt nichts. Diese Leute werden nie hinüberkommen.« Es waren auch zwei oder drei da, die, kühn wie sie waren, hinabsprangen. Aber anstatt sich geradeaus zu halten, kehrten sie sich nach denen um, welche vom Kamm des Gebirges aus zuschauten und schrien: »Rechts! Links! Nicht so! Ihr seid verloren!« Diese Leute kamen nie hinüber und die Fluten bedeckten sie für immer. Da dachte der Mann in allen Farben: »Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.« Er versteckte sich hinter einem Felsen, rollte seine Kleider zusammen und band sie sich auf den Rücken, dann machte er das Zeichen des Kreuzes und sprach: »Mut, Freund!« Er sang ein lustiges Lied und sprang ohne Furcht und Grauen hinab. Als er im Wasser war, schwamm er immer geradeaus, er schwamm sicher und ausdauernd wie ein Fisch, ohne sich umzukehren und auf die Rufe der Leute auf dem Gebirge zu hören.
Eine Stunde später zog er auf dem andern Ufer des Stromes seine Kleider wieder an. Der Mann in allen Farben begrüßte höflich die Leute, welche auf dem jenseitigen Ufer des Flusses zurückgeblieben waren, aber diese wurden zornig, als sie sahen, daß er herübergekommen war. Sie zeigten ihm die Faust und überhäuften ihn mit Schmähungen. Aber er lachte nur darüber. Er setzte seinen Weg fort.
Als er eine Stunde gegangen war, begegnete er einem bärtigen Zwerg, welcher keine zwei Spannen groß war. »Mann in allen Farben, du mußt mir folgen!« »Gern, Zwerg!« Beide gingen Seite an Seite, bis sie an eine große, schwarze Höhle kamen, welche sich weit unter die Erde erstreckte. Lange, lange stiegen sie in dieser Höhle abwärts. Der Zwerg jedoch, welcher hinten nachging, richtete es so ein, daß später kein Mensch mehr hindurchgehen konnte, sei es, um hinab- oder hinaufzusteigen. Der Mann in allen Farben und der Zwerg kamen schließlich unten an und gewahrten ein kleines Licht. Sogleich hielten sie sich in dieser Richtung. Während sie wanderten, wurde das Licht immer größer. Endlich befanden sie sich auf der Schwelle eines großen Tores, welches sich gegen ein schönes Land öffnete; in diesem stand ein großes Schloß mit hundert Meierhöfen ringsherum. »Mann in allen Farben! Ich schenke dir dieses große Schloß und die hundert Meierhöfe ringsherum. Von nun ab versuche glücklich hier unter der Erde zu leben, denn nie wirst du Mann noch Weib wiedersehen.«
Der Zwerg verschwand, und der Mann in allen Farben klopfte an die Türe des großen Schlosses. Sogleich öffnete eine Hand das Tor. Eine andere Hand führte ihn in einen großen Saal, wo eine Tafel gedeckt war und ein Mahl von einem Dutzend Händen dargereicht wurde. Aber es war dort weder Mann noch Weib. Nach dem Essen durchsuchte der Mann in allen Farben das ganze Schloß vom Speicher bis zum Keller. Überall sah er Hände, welche in der Küche arbeiteten, welche die Zimmer besorgten und ähnliche Dinge verrichteten. Im Hofe stand ein großer eiserner Käfig, in welchem ein Adler saß, dessen Fuß mit einer Kette gefesselt war. Hände brachten ihm zweimal am Tage rohes Fleisch. Drei Stuten waren im Stall, eine weiß wie Schnee, die andere schwarz wie ein Rabe und die dritte rot wie Blut. Diese drei Tiere wurden ebenfalls von Händen bedient, die sie striegelten, ihnen Streu gaben und es ihnen nicht an Heu, Stroh und Hafer fehlen ließen. Aber es war dort weder Mann noch Weib.
Der Mann in allen Farben lebte also wohlversorgt lange Zeit im großen Schloß, aber er war immer allein und wurde eines solchen Lebens recht herzlich müde. Um seine Zeit zu vertreiben, ging er morgens und abends in den Stall, und wenn er die drei Stuten versorgt hatte, trug er dem Adler, der im Eisenkäfig gefesselt war, rohes Fleisch zu. Diese vier Tiere schlossen so innige Freundschaft mit ihrem Herrn, daß sie nicht mehr von den Händen bedient werden wollten. Eines Tages begann der Adler zu reden: »Mann in allen Farben, du langweilst dich, weil du ständig allein in diesem großen Schlosse bist. Glaubst du, daß ich mich besser unterhalte, ich, der ich immer am Fuße gefesselt und in einen Eisenkäfig eingesperrt bin? Befreie mich! Ich werde durch die Höhle, in welcher du herabgekommen bist, auf die Erde fliegen. Jeden Tag werde ich kommen und dir Nachricht von oben bringen.« Der Mann in allen Farben befreite den gefangenen Adler und sprach zu ihm: »Adler, geh in mein Heimatland und bringe mir Nachricht von meinem Vater. Sage ihm, daß ich unter der Erde gefangengehalten werde und daß er mich niemals, niemals wiedersehen wird.« Der Adler flog davon und kehrte noch am gleichen Abend zurück. »Mann in allen Farben, ich habe deinen Vater gesehen. Er ist uralt, er kann nicht mehr arbeiten. Drei deiner Brüder helfen ihm, so gut sie können. Aber sie verdienen nicht genug, um ihn zu ernähren. So kommt es, daß der arme alte Mann oft seinen Sack nimmt und von Tür zu Tür um sein Brot bettelt, wie es einst unser Herr Jesus Christus getan hat. Jetzt habe ich alles gut eingerichtet, und das soll nicht mehr vorkommen. Ich weiß, wo ich mich zu versorgen habe, und dein Vater soll alltäglich sein Auskommen haben.« »Danke, Adler!« Von diesem Tage an waren der Mann in allen Farben und der Adler innige Freunde. Jeden Morgen flog der Adler an seine Geschäfte, und jeden Abend brachte er Nachrichten von oben mit.
Eines Abends sagte er zu seinem Freund: »Mann in allen Farben, dort oben geht etwas vor, was des Redens wert ist. Es ist da ein König, der hat vier Töchter, schön wie der Tag. Ein Zwerg hat ihm die drei ältesten geraubt und hält sie irgendwo versteckt, nur die jüngste ist bei ihrem Vater geblieben. Jetzt höre, was der König heute morgen in allen Gemeinden des Landes durch einen Trommler hat verkünden lassen: ‚Ran plan, plan! Ran plan plan! Alle tapferen Leute und kühnen Ritter werden vom König aus benachrichtigt, daß im nächsten Monat in der Stadt Babylon drei große Pferderennen abgehalten werden, jeden Sonntag eines. Wer dreimal den Sieg erringt, soll am Sonntag darauf die Tochter des Königs heimführen.’« Nun wurde der Mann in allen Farben traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte.
Eines Morgens gewahrte die Stute, die so rot war wie Blut, daß ihr Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst. Aber ich kann dir aus deiner Not helfen. Mit mir wirst du das erste Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt. Ich darf ihn aber nur einmal hin und zurück durchmessen, und du mußt mir schwören, daß du wieder mit mir heimkehrst.« »Blutrote Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« »Gut, gehen wir!« Die blutrote Stute rannte schneller als der Wind davon und kam eine Stunde später in die Stadt Babylon. Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war zu Ende, das Rennen begann, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Aber die blutrote Stute flog schneller als der Wind, und sie war am Ziel, als die andern Rosse noch keine hundert Schritte gemacht hatten. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Die blutrote Stute aber rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wieder sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am nächsten Sonntag gewahrte die Stute, die so schwarz war wie ein Rabe, daß ihr Herr weinte: »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst. Aber ich kann dir aus deiner Not helfen. Mit mir wirst du das zweite Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt. Ich darf ihn aber nur einmal hin und zurück durchmessen, und du mußt mir schwören, daß du wieder mit mir heimkehrst.« »Rabenschwarze Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« »Gut, gehen wir!« Die rabenschwarze Stute rannte schneller als der Wind davon und dennoch kam sie erst zwei Stunden später in die Stadt Babylon. Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war gesungen, seit einer Stunde hatte das Rennen begonnen, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Aber die rabenschwarze Stute flog noch schneller als die blutrote, und sie war am Ziel, als die andern noch auf der Hälfte des Weges waren. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Die rabenschwarze Stute aber rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wiederum sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am folgenden Sonntag gewahrte die Stute, die so weiß war wie der Schnee, daß ihr Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst, und ich könnte dir aus deiner Not helfen. Mit mir würdest du das dritte Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt, und ich darf ihn einmal hin und zurück durchmessen.« »Gut, so hilf mir aus der Not!« »Ich will nicht!« »Ich bitte dich darum!« Der Mann in allen Farben bat solange, bis die schneeweiße Stute schließlich erwiderte: »Gut, schwöre mir, daß du wieder mit mir heimkehrst!« »Schneeweiße Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« Die schneeweiße Stute rannte schneller als der Wind davon. Dennoch kam sie erst drei Stunden später hinkend in die Stadt Babylon. Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war gesungen, das Rennen war beinahe zu Ende, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Die schneeweiße Stute ging in kurzem Trab und hinkte. Da rief das Volk: »Schade, der Mann in allen Farben wird nicht zum Ziel kommen.« Und der Mann in allen Farben schrie in Verzweiflung: »So lauf doch, schneeweiße Stute!« »Ich kann nicht, ich hinke ja!« Und der Mann in allen Farben verzweifelte, denn drei Reiter hatten nur noch hundert Schritte bis zum Ziel und waren nahe am Sieg. Da wieherte die schneeweiße Stute und flog so schnell, so schnell, daß man sie kaum mit den Augen verfolgen konnte. In der Zeit, die man braucht, um Amen zu sagen, hatte sie alle anderen Rosse überholt und war am Ziel. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Aber die schneeweiße Stute rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wiederum sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am Sonntag darauf gewahrte der Adler, daß sein Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst, und ich möchte dir aus deiner Not helfen. Unglücklicherweise sind die Wege, welche die drei Stuten durchmessen haben, jetzt für ewig verschlossen. Es bleibt nur noch die Höhle, durch welche du mit dem Zwerg herabgeschritten bist. Steige rittlings auf meinen Rücken, ich werde dich im Fluge davontragen. Aber das ist keine kleine Mühe. Um bis zum Ende zu kommen, muß ich während der Reise gut ernährt werden. Nimm eine Menge rohes Fleisch mit, um mich auf der Reise zu versorgen.« Der Mann in allen Farben holte eine Menge rohes Fleisch und stieg auf den Rücken des Adlers, der seinen Flug begann. »Mutig, mein Adler!« Und der Adler flog gewaltig geradeaus. Jeden Augenblick schrie er: »Rohes Fleisch! Rohes Fleisch!« Und der Mann in allen Farben versorgte ihn und rief ihm fortwährend zu: »Mutig, mein Adler!« Hundert Klafter unter dem Erdboden begann die Speise auszugehen. »Rohes Fleisch! Rohes Fleisch!« Da zog der Mann in allen Farben sein Messer, schnitt ein Stück von seinem Schenkel ab, versorgte den Adler und gab ihm sein warmes Blut zu trinken. Fünf Minuten später gelangten beide in die Stadt Babylon. Es war acht Uhr morgens. Jedermann trug sein Feiertagsgewand. In allen Kirchen läuteten die Glocken wegen der Hochzeit der Königstochter. »Mann in allen Farben,« sagte der König von Babylon, »du kannst meine Tochter erst haben, wenn du mir ihre drei Schwestern wiederbringst!« Da sagte der Adler: »Warte hier auf mich!« Der Adler flog davon; eine Stunde später kam er wieder und zerrte den bärtigen Zwerg, der keine zwei Spannen groß war, an den Haaren mit. Der Zwerg klopfte mit dem Absatz auf den Boden. Sogleich erschienen die drei Stuten: die eine war weiß wie Schnee, die andere schwarz wie ein Rabe und die dritte rot wie Blut. Die drei Stuten waren die drei ältesten Töchter des Königs von Babylon, welche der Zwerg in Stuten verwandelt hatte, um sie besser verstecken zu können. Alsbald nahmen sie ihre alte Gestalt wieder an. »Mann in allen Farben,« sagte der König von Babylon, »ich kann dir nun nichts mehr abschlagen.« Nun wurde die Hochzeit gefeiert. Niemals wird man etwas Ähnliches sehen. Der Mann in allen Farben ließ seinen Vater holen. Ebenso ließ er seine drei Brüder kommen, welche dem alten Mann geholfen hatten, und jeder von ihnen heiratete eine Prinzessin. Am Ende der Hochzeit, welche einen ganzen Monat dauerte, sagte der Adler: »Mann in allen Farben, schon lange diene ich dir. Und doch hast du mich noch nicht ausgelohnt.« »Adler, verlange, was du willst.« »Mann in allen Farben, gib mir den höchsten Turm in Babylon, damit ich darauf mein Nest baue! Gib mir auch den bärtigen Zwerg, welcher keine zwei Spannen groß ist!« »Adler, es ist gut, nimm, was du brauchst!« Da zerrte der Adler den bärtigen Zwerg, der keine zwei Spannen groß war, auf den höchsten Turm von Babylon. Dort riß er ihm die Augen aus und fraß ihn bis auf die Knochen.
Bei Sonnenuntergang gelangte er an den Saum eines großen Waldes und streckte sich unter einer Eiche nieder, um hier die Nacht zu verbringen. Der Mann in allen Farben war gerade am Einschlummern, als er Schreie und Geräusch in den Ästen vernahm. Eine Drossel war es, welche bei ihrem Nest klagte, weil eine Schlange sich emporgeringelt hatte, um ihre Kleinen zu fressen. Sogleich nahm der Mann in allen Farben seinen Stock und schlug die Schlange entzwei. Die Schlange war aber von der Art derer, die das unter der Erde verborgene Gold bewachen. Sie hatte in ihrem Bauche zwölf Doppellouisdor und ebenso viele spanische Quadrupel. »Gut,« sagte der Mann in allen Farben, »die Doppellouisdor sind für mich und die spanischen Quadrupel für meinen Vater.« Er streckte sich wieder unter der Eiche aus, schlief die ganze Nacht und ging bei Sonnenaufgang weiter.
Nach drei Stunden Marsch machte er in einer Herberge an der Seite der Straße halt. Als er Suppe gegessen und eine Flasche getrunken hatte, bezahlte er die Pächterin und fragte sie nach dem Weg. »Mann in allen Farben, wenn du immer geradeaus gehst, so wirst du in drei Tagen in Paris sein. Wenn du aber rechts gehst, so kommst du um Mittag in das Land des Hungers und Durstes, und ich weiß nicht, wohin du dann gelangst.« Der Mann in allen Farben hielt sich rechts. Gerade um Mittag gelangte er in das Land des Hungers und Durstes. Dort gab es keinen Fluß, keinen Bach, keinen Brunnen, keine Quelle. Die Erde war dort so trocken wie der Boden eines Backofens. Menschen und Tiere, groß und klein, Gras und Bäume, alles kam dort um, gekocht und gebraten von der Sonne. Drei Tage und drei Nächte lang wanderte der Mann in allen Farben ohne zu essen und zu trinken. Da fand er einen Toten auf dem Boden ausgestreckt, der noch in seiner rechten Hand eine schmiedeeiserne Stange hielt, welche neun Zentner wog. Der Mann in allen Farben beerdigte den Toten, betete für ihn zu Gott, nahm die neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange und wanderte weiter, bis der nächste Morgen dämmerte.
Bei Sonnenaufgang hatte er das Land des Hungers und Durstes hinter sich. Aber vor ihm lag ein Gebirge, steil wie eine Mauer, welches mehr als hundert Klafter hoch aufstieg. Am Fuße des Gebirges gewahrte er ein Haus, dessen Türen und Fenster sperrangelweit offenstanden. Es war das Haus des Ohneseele, welcher gerade ausgegangen war, um seinen Rundgang zu machen. Der Mann in allen Farben trat ein. Er nahm einen Brocken Brot vom Brett, stieg in den Keller, um sich Wein zu holen, und begann zu essen und zu trinken. Hierauf legte er sich ins Bett mit der neun Zentner schweren schmiedeeisernen Stange in Reichweite und schlief bis Mitternacht. Da wurde er durch lautes Gepolter geweckt. Es war Ohneseele, welcher von seinem Rundgang zurückkam. »Ho! Ho! Ho! Wer hat sich da bei mir eingenistet? Warte, du Dieb, warte! Ich will dir den Geschmack am Brot verleiden!« Aber der Mann in allen Farben war schon aus dem Bett gesprungen und hatte die neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange mit der Hand umklammert. Nun gab es einen großen Kampf, welcher drei geschlagene Stunden währte. Schließlich wurde der Ohneseele durch einen gewaltigen Schlag auf den Kopf zu Boden gestreckt. »Mann in allen Farben, laß mich nicht länger leiden! Nie wirst du mich töten können. Es ist geweissagt, daß ich nicht sterben kann bis zum Ende der Welt, um nie wieder aufzuerstehen. Laß mich nicht länger leiden, und ich werde alles tun, was du mir gebietest.« »Gut, Ohneseele, zeige mir, wo man den Berg erklimmt. Aber zeige recht, sonst hüte dich vor meiner neun Zentner schweren schmiedeeisernen Stange!« Nun zeigte der Ohneseele dem Mann in allen Farben die gute Straße, und dieser kletterte wie eine Geiß durch die hohen und steilen Felsen.
Plötzlich bemerkte er einen Wolf, der war so groß wie ein Stier und lief im Galopp mit offenem Rachen auf ihn los. Was tat nun der Mann in allen Farben? Er schwang seine neun Zentner schwere schmiedeeiserne Stange und schlug damit solchermaßen auf den Kopf des Tieres, daß es auf den Tod verwundet niederstürzte. »Mann in allen Farben,« sagte der Wolf, »du bist nicht der erste, der ohne zu sterben das Land des Hungers und Durstes durchquert und dem Ohneseele seinen Willen aufgezwungen hat. Von denen, die bis hierher gekommen sind, habe ich viele gefressen. Aber manche sind weitergegangen und sind nun an einem Ort, welchen du alsbald erreichen wirst. Da ich durch deine Hand falle, so iß mein Fleisch und trink mein Blut, denn du brauchst Mut und bist noch nicht am Ende deiner Leiden.« Der Mann in allen Farben wartete, bis der Wolf tot war. Dann aß er sein Fleisch und trank sein Blut und fühlte sich alsbald von einer gewaltigen Kraft durchdrungen.
Eine Stunde später stand er auf dem Kamme des Gebirges, welches hier an hundert Klafter tief unmittelbar in einen Fluß abstürzte, der eine halbe Meile breit war. Das Wasser dieses Flusses machte ein furchtbares Getöse und strömte schneller als der Wind. Auf der anderen Seite des Flusses erblickte er ein Land so wunderschön, so wunderschön, daß man glauben konnte, es sei das Paradies des lieben Gottes. Auf dem Kamme des Gebirges traf der Mann in allen Farben eine Menge Leute, die ihren ganzen Mut dazu aufgewendet hatten, um bis hierher zu gelangen. Einige weinten, andere knieten nieder, falteten die Hände und riefen: »Mein Gott, mein Gott, gib, daß wir hinüberkommen!« Da dachte der Mann in allen Farben: »Der liebe Gott steht denen nicht bei, die alles ihm überlassen. Diese Leute werden nie hinüberkommen.« Manche beratschlagten sich immer und entschlossen sich nie; sie sagten: »Gut wegkommen ist alles, nur keine Eile! Wir haben Zeit!« Da dachte der Mann in allen Farben: »Diese reden und handeln nie bis zum Tage des Gerichts. Es gibt Zeiten, da es zu reden, und Zeiten, da es zu handeln gilt. Wer nichts wagt, gewinnt nichts. Diese Leute werden nie hinüberkommen.« Andere redeten miteinander: »Stürzen wir uns alle auf einmal hinab. Helfen wir einander, schwimmen wir mitsammen, alle mitsammen!« Da dachte der Mann in allen Farben: »In diesem Falle muß man alles geben und nimmt nichts. Diese Leute werden nie hinüberkommen.« Es waren auch zwei oder drei da, die, kühn wie sie waren, hinabsprangen. Aber anstatt sich geradeaus zu halten, kehrten sie sich nach denen um, welche vom Kamm des Gebirges aus zuschauten und schrien: »Rechts! Links! Nicht so! Ihr seid verloren!« Diese Leute kamen nie hinüber und die Fluten bedeckten sie für immer. Da dachte der Mann in allen Farben: »Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.« Er versteckte sich hinter einem Felsen, rollte seine Kleider zusammen und band sie sich auf den Rücken, dann machte er das Zeichen des Kreuzes und sprach: »Mut, Freund!« Er sang ein lustiges Lied und sprang ohne Furcht und Grauen hinab. Als er im Wasser war, schwamm er immer geradeaus, er schwamm sicher und ausdauernd wie ein Fisch, ohne sich umzukehren und auf die Rufe der Leute auf dem Gebirge zu hören.
Eine Stunde später zog er auf dem andern Ufer des Stromes seine Kleider wieder an. Der Mann in allen Farben begrüßte höflich die Leute, welche auf dem jenseitigen Ufer des Flusses zurückgeblieben waren, aber diese wurden zornig, als sie sahen, daß er herübergekommen war. Sie zeigten ihm die Faust und überhäuften ihn mit Schmähungen. Aber er lachte nur darüber. Er setzte seinen Weg fort.
Als er eine Stunde gegangen war, begegnete er einem bärtigen Zwerg, welcher keine zwei Spannen groß war. »Mann in allen Farben, du mußt mir folgen!« »Gern, Zwerg!« Beide gingen Seite an Seite, bis sie an eine große, schwarze Höhle kamen, welche sich weit unter die Erde erstreckte. Lange, lange stiegen sie in dieser Höhle abwärts. Der Zwerg jedoch, welcher hinten nachging, richtete es so ein, daß später kein Mensch mehr hindurchgehen konnte, sei es, um hinab- oder hinaufzusteigen. Der Mann in allen Farben und der Zwerg kamen schließlich unten an und gewahrten ein kleines Licht. Sogleich hielten sie sich in dieser Richtung. Während sie wanderten, wurde das Licht immer größer. Endlich befanden sie sich auf der Schwelle eines großen Tores, welches sich gegen ein schönes Land öffnete; in diesem stand ein großes Schloß mit hundert Meierhöfen ringsherum. »Mann in allen Farben! Ich schenke dir dieses große Schloß und die hundert Meierhöfe ringsherum. Von nun ab versuche glücklich hier unter der Erde zu leben, denn nie wirst du Mann noch Weib wiedersehen.«
Der Zwerg verschwand, und der Mann in allen Farben klopfte an die Türe des großen Schlosses. Sogleich öffnete eine Hand das Tor. Eine andere Hand führte ihn in einen großen Saal, wo eine Tafel gedeckt war und ein Mahl von einem Dutzend Händen dargereicht wurde. Aber es war dort weder Mann noch Weib. Nach dem Essen durchsuchte der Mann in allen Farben das ganze Schloß vom Speicher bis zum Keller. Überall sah er Hände, welche in der Küche arbeiteten, welche die Zimmer besorgten und ähnliche Dinge verrichteten. Im Hofe stand ein großer eiserner Käfig, in welchem ein Adler saß, dessen Fuß mit einer Kette gefesselt war. Hände brachten ihm zweimal am Tage rohes Fleisch. Drei Stuten waren im Stall, eine weiß wie Schnee, die andere schwarz wie ein Rabe und die dritte rot wie Blut. Diese drei Tiere wurden ebenfalls von Händen bedient, die sie striegelten, ihnen Streu gaben und es ihnen nicht an Heu, Stroh und Hafer fehlen ließen. Aber es war dort weder Mann noch Weib.
Der Mann in allen Farben lebte also wohlversorgt lange Zeit im großen Schloß, aber er war immer allein und wurde eines solchen Lebens recht herzlich müde. Um seine Zeit zu vertreiben, ging er morgens und abends in den Stall, und wenn er die drei Stuten versorgt hatte, trug er dem Adler, der im Eisenkäfig gefesselt war, rohes Fleisch zu. Diese vier Tiere schlossen so innige Freundschaft mit ihrem Herrn, daß sie nicht mehr von den Händen bedient werden wollten. Eines Tages begann der Adler zu reden: »Mann in allen Farben, du langweilst dich, weil du ständig allein in diesem großen Schlosse bist. Glaubst du, daß ich mich besser unterhalte, ich, der ich immer am Fuße gefesselt und in einen Eisenkäfig eingesperrt bin? Befreie mich! Ich werde durch die Höhle, in welcher du herabgekommen bist, auf die Erde fliegen. Jeden Tag werde ich kommen und dir Nachricht von oben bringen.« Der Mann in allen Farben befreite den gefangenen Adler und sprach zu ihm: »Adler, geh in mein Heimatland und bringe mir Nachricht von meinem Vater. Sage ihm, daß ich unter der Erde gefangengehalten werde und daß er mich niemals, niemals wiedersehen wird.« Der Adler flog davon und kehrte noch am gleichen Abend zurück. »Mann in allen Farben, ich habe deinen Vater gesehen. Er ist uralt, er kann nicht mehr arbeiten. Drei deiner Brüder helfen ihm, so gut sie können. Aber sie verdienen nicht genug, um ihn zu ernähren. So kommt es, daß der arme alte Mann oft seinen Sack nimmt und von Tür zu Tür um sein Brot bettelt, wie es einst unser Herr Jesus Christus getan hat. Jetzt habe ich alles gut eingerichtet, und das soll nicht mehr vorkommen. Ich weiß, wo ich mich zu versorgen habe, und dein Vater soll alltäglich sein Auskommen haben.« »Danke, Adler!« Von diesem Tage an waren der Mann in allen Farben und der Adler innige Freunde. Jeden Morgen flog der Adler an seine Geschäfte, und jeden Abend brachte er Nachrichten von oben mit.
Eines Abends sagte er zu seinem Freund: »Mann in allen Farben, dort oben geht etwas vor, was des Redens wert ist. Es ist da ein König, der hat vier Töchter, schön wie der Tag. Ein Zwerg hat ihm die drei ältesten geraubt und hält sie irgendwo versteckt, nur die jüngste ist bei ihrem Vater geblieben. Jetzt höre, was der König heute morgen in allen Gemeinden des Landes durch einen Trommler hat verkünden lassen: ‚Ran plan, plan! Ran plan plan! Alle tapferen Leute und kühnen Ritter werden vom König aus benachrichtigt, daß im nächsten Monat in der Stadt Babylon drei große Pferderennen abgehalten werden, jeden Sonntag eines. Wer dreimal den Sieg erringt, soll am Sonntag darauf die Tochter des Königs heimführen.’« Nun wurde der Mann in allen Farben traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte.
Eines Morgens gewahrte die Stute, die so rot war wie Blut, daß ihr Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst. Aber ich kann dir aus deiner Not helfen. Mit mir wirst du das erste Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt. Ich darf ihn aber nur einmal hin und zurück durchmessen, und du mußt mir schwören, daß du wieder mit mir heimkehrst.« »Blutrote Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« »Gut, gehen wir!« Die blutrote Stute rannte schneller als der Wind davon und kam eine Stunde später in die Stadt Babylon. Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war zu Ende, das Rennen begann, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Aber die blutrote Stute flog schneller als der Wind, und sie war am Ziel, als die andern Rosse noch keine hundert Schritte gemacht hatten. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Die blutrote Stute aber rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wieder sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am nächsten Sonntag gewahrte die Stute, die so schwarz war wie ein Rabe, daß ihr Herr weinte: »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst. Aber ich kann dir aus deiner Not helfen. Mit mir wirst du das zweite Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt. Ich darf ihn aber nur einmal hin und zurück durchmessen, und du mußt mir schwören, daß du wieder mit mir heimkehrst.« »Rabenschwarze Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« »Gut, gehen wir!« Die rabenschwarze Stute rannte schneller als der Wind davon und dennoch kam sie erst zwei Stunden später in die Stadt Babylon. Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war gesungen, seit einer Stunde hatte das Rennen begonnen, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Aber die rabenschwarze Stute flog noch schneller als die blutrote, und sie war am Ziel, als die andern noch auf der Hälfte des Weges waren. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Die rabenschwarze Stute aber rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wiederum sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am folgenden Sonntag gewahrte die Stute, die so weiß war wie der Schnee, daß ihr Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst, und ich könnte dir aus deiner Not helfen. Mit mir würdest du das dritte Rennen gewinnen, denn ich weiß einen geheimen Weg, der auf die Erde führt, und ich darf ihn einmal hin und zurück durchmessen.« »Gut, so hilf mir aus der Not!« »Ich will nicht!« »Ich bitte dich darum!« Der Mann in allen Farben bat solange, bis die schneeweiße Stute schließlich erwiderte: »Gut, schwöre mir, daß du wieder mit mir heimkehrst!« »Schneeweiße Stute, ich schwöre es dir bei meiner Seele!« Die schneeweiße Stute rannte schneller als der Wind davon. Dennoch kam sie erst drei Stunden später hinkend in die Stadt Babylon. Es war an einem Sonntagabend. Die Vesper war gesungen, das Rennen war beinahe zu Ende, und es fehlte nicht an Rittern, die einander den Sieg streitig machten. Die schneeweiße Stute ging in kurzem Trab und hinkte. Da rief das Volk: »Schade, der Mann in allen Farben wird nicht zum Ziel kommen.« Und der Mann in allen Farben schrie in Verzweiflung: »So lauf doch, schneeweiße Stute!« »Ich kann nicht, ich hinke ja!« Und der Mann in allen Farben verzweifelte, denn drei Reiter hatten nur noch hundert Schritte bis zum Ziel und waren nahe am Sieg. Da wieherte die schneeweiße Stute und flog so schnell, so schnell, daß man sie kaum mit den Augen verfolgen konnte. In der Zeit, die man braucht, um Amen zu sagen, hatte sie alle anderen Rosse überholt und war am Ziel. Da rief das Volk: »Es lebe der Mann in allen Farben!« Aber die schneeweiße Stute rannte schneller als je davon. Eine Stunde später war der Mann in allen Farben wieder unter der Erde in seinem großen Schloß.
Der Mann in allen Farben wurde wiederum sehr traurig. Tag und Nacht dachte er über das nach, was der Adler zu ihm gesagt hatte. Am Sonntag darauf gewahrte der Adler, daß sein Herr weinte. »Mann in allen Farben, ich weiß, warum du weinst, und ich möchte dir aus deiner Not helfen. Unglücklicherweise sind die Wege, welche die drei Stuten durchmessen haben, jetzt für ewig verschlossen. Es bleibt nur noch die Höhle, durch welche du mit dem Zwerg herabgeschritten bist. Steige rittlings auf meinen Rücken, ich werde dich im Fluge davontragen. Aber das ist keine kleine Mühe. Um bis zum Ende zu kommen, muß ich während der Reise gut ernährt werden. Nimm eine Menge rohes Fleisch mit, um mich auf der Reise zu versorgen.« Der Mann in allen Farben holte eine Menge rohes Fleisch und stieg auf den Rücken des Adlers, der seinen Flug begann. »Mutig, mein Adler!« Und der Adler flog gewaltig geradeaus. Jeden Augenblick schrie er: »Rohes Fleisch! Rohes Fleisch!« Und der Mann in allen Farben versorgte ihn und rief ihm fortwährend zu: »Mutig, mein Adler!« Hundert Klafter unter dem Erdboden begann die Speise auszugehen. »Rohes Fleisch! Rohes Fleisch!« Da zog der Mann in allen Farben sein Messer, schnitt ein Stück von seinem Schenkel ab, versorgte den Adler und gab ihm sein warmes Blut zu trinken. Fünf Minuten später gelangten beide in die Stadt Babylon. Es war acht Uhr morgens. Jedermann trug sein Feiertagsgewand. In allen Kirchen läuteten die Glocken wegen der Hochzeit der Königstochter. »Mann in allen Farben,« sagte der König von Babylon, »du kannst meine Tochter erst haben, wenn du mir ihre drei Schwestern wiederbringst!« Da sagte der Adler: »Warte hier auf mich!« Der Adler flog davon; eine Stunde später kam er wieder und zerrte den bärtigen Zwerg, der keine zwei Spannen groß war, an den Haaren mit. Der Zwerg klopfte mit dem Absatz auf den Boden. Sogleich erschienen die drei Stuten: die eine war weiß wie Schnee, die andere schwarz wie ein Rabe und die dritte rot wie Blut. Die drei Stuten waren die drei ältesten Töchter des Königs von Babylon, welche der Zwerg in Stuten verwandelt hatte, um sie besser verstecken zu können. Alsbald nahmen sie ihre alte Gestalt wieder an. »Mann in allen Farben,« sagte der König von Babylon, »ich kann dir nun nichts mehr abschlagen.« Nun wurde die Hochzeit gefeiert. Niemals wird man etwas Ähnliches sehen. Der Mann in allen Farben ließ seinen Vater holen. Ebenso ließ er seine drei Brüder kommen, welche dem alten Mann geholfen hatten, und jeder von ihnen heiratete eine Prinzessin. Am Ende der Hochzeit, welche einen ganzen Monat dauerte, sagte der Adler: »Mann in allen Farben, schon lange diene ich dir. Und doch hast du mich noch nicht ausgelohnt.« »Adler, verlange, was du willst.« »Mann in allen Farben, gib mir den höchsten Turm in Babylon, damit ich darauf mein Nest baue! Gib mir auch den bärtigen Zwerg, welcher keine zwei Spannen groß ist!« »Adler, es ist gut, nimm, was du brauchst!« Da zerrte der Adler den bärtigen Zwerg, der keine zwei Spannen groß war, auf den höchsten Turm von Babylon. Dort riß er ihm die Augen aus und fraß ihn bis auf die Knochen.
[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]