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Eines Morgens steckte der alte Wasserratz den Kopf aus seinem Loche. Er hatte blanke Kulleraugen, einen borstigen grauen Kotelettenbart und einen Schwanz wie ein langes Stück schwarzer Radiergummi. Die kleinen Enten schwammen auf dem Teich spazieren und sahen genau wie ein Schwarm gelber Kanarienvögel aus, und ihre Mutter, die ganz r einweiß war mit echtroten Beinen, versuchte ihnen beizubringen, wie man im Wasser Kopf steht.
„Ihr werdet niemals zur feinsten Gesellschaft zugelassen werden, wenn ihr nicht Kopf stehen könnt“, sagte sie unausgesetzt zu den Kleinen; und alle Augenblicke führte sie ihnen von neuem vor, wie man’s macht. Aber die kleinen Enten passten überhaupt nicht auf. Sie waren noch so jung und unerfahren, dass sie nicht wussten, von welch großem Nutzen es ist, zur feinen Gesellschaft zugelassen zu sein. „Was für ungehorsame Kinder!“ schrie der alte Wasserratz, „sie verdienten weiß Gott, dass man sie ertränkte.“
„Beileibe nicht!“ erwiderte die Ente, „es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und Eltern können nie geduldig genug sein.“
„Ach so! Ich verstehe nichts von elterlichen Gefühlen“, sagte der Wasserratz, „ich bin kein Familienmensch. Ob Sie’s glauben oder nicht – Tatsache ist, dass ich niemals verheiratet war, und ich habe auch nicht im Sinn, es nachzuholen. Liebe ist auf ihre Art ja sehr hübsch, aber Freundschaft ist weitaus erhabener. Ich wüsste wahrhaftig nichts auf der Welt, das edler oder auch seltener wäre als aufopfernde Freundschaft.“
„Und was, wenn ich bitten darf, sind Ihrer Meinung nach die Pflichten eines opferwilligen Freundes?“ fragte ein Grünhänfling, der nahebei in einem Weidenbaume saß und der Unterhaltung zugehört hatte. „Ja, das würde mich auch furchtbar interessieren“, sagte die Ente und schwamm davon bis ans Ende des Teiches und stellte sich auf den Kopf, um ihren Kindern ein gutes Beispiel zu geben.
„So , ne dumme Frage!“ rief der Wasserratz. „Ich würde selbstverständlich erwarten, dass mein opferwilliger Freund sich für mich opfert.“
„Und was würden Sie als Gegenleistung für ihn tun?“ fragte der kleine Vogel und schaukelte sich, mit den zierlichen Flügeln schlagend, auf einem silbrig grauen Zweige. „Ich verstehe Sie nicht“, entgegnete der Wasserratz. „so will ich Ihnen eine Geschichte zu dem Thema erzählen“, sagte der Hänfling.
„Handelt sie von mir?“ fragte der Wasserratz. „In diesem Falle will ich sie mir anhören, denn ich bin ganz verrückt auf Romane aus dem Leben.“
„Die Geschichte lässt sich auf Sie anwenden“, sagte der Hänfling; und er flog herab, setzte sich auf die Uferböschung und erzählte die
„Ihr werdet niemals zur feinsten Gesellschaft zugelassen werden, wenn ihr nicht Kopf stehen könnt“, sagte sie unausgesetzt zu den Kleinen; und alle Augenblicke führte sie ihnen von neuem vor, wie man’s macht. Aber die kleinen Enten passten überhaupt nicht auf. Sie waren noch so jung und unerfahren, dass sie nicht wussten, von welch großem Nutzen es ist, zur feinen Gesellschaft zugelassen zu sein. „Was für ungehorsame Kinder!“ schrie der alte Wasserratz, „sie verdienten weiß Gott, dass man sie ertränkte.“
„Beileibe nicht!“ erwiderte die Ente, „es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und Eltern können nie geduldig genug sein.“
„Ach so! Ich verstehe nichts von elterlichen Gefühlen“, sagte der Wasserratz, „ich bin kein Familienmensch. Ob Sie’s glauben oder nicht – Tatsache ist, dass ich niemals verheiratet war, und ich habe auch nicht im Sinn, es nachzuholen. Liebe ist auf ihre Art ja sehr hübsch, aber Freundschaft ist weitaus erhabener. Ich wüsste wahrhaftig nichts auf der Welt, das edler oder auch seltener wäre als aufopfernde Freundschaft.“
„Und was, wenn ich bitten darf, sind Ihrer Meinung nach die Pflichten eines opferwilligen Freundes?“ fragte ein Grünhänfling, der nahebei in einem Weidenbaume saß und der Unterhaltung zugehört hatte. „Ja, das würde mich auch furchtbar interessieren“, sagte die Ente und schwamm davon bis ans Ende des Teiches und stellte sich auf den Kopf, um ihren Kindern ein gutes Beispiel zu geben.
„So , ne dumme Frage!“ rief der Wasserratz. „Ich würde selbstverständlich erwarten, dass mein opferwilliger Freund sich für mich opfert.“
„Und was würden Sie als Gegenleistung für ihn tun?“ fragte der kleine Vogel und schaukelte sich, mit den zierlichen Flügeln schlagend, auf einem silbrig grauen Zweige. „Ich verstehe Sie nicht“, entgegnete der Wasserratz. „so will ich Ihnen eine Geschichte zu dem Thema erzählen“, sagte der Hänfling.
„Handelt sie von mir?“ fragte der Wasserratz. „In diesem Falle will ich sie mir anhören, denn ich bin ganz verrückt auf Romane aus dem Leben.“
„Die Geschichte lässt sich auf Sie anwenden“, sagte der Hänfling; und er flog herab, setzte sich auf die Uferböschung und erzählte die
Geschichte vom opferwilligen Freund
„Es war einmal“, begann der Hänfling, „es war einmal ein redlicher Bursche, der hieß Hans.“
„War er was Großes, was Ausgezeichnetes?“ fragte der Wasserratz.
„Nein“, antwortete der Hänfling, „ich glaube kaum, dass irgend etwas groß an dem kleinen Hans war außer seiner Herzensgüte, auch zeichnete ihn wohl nichts weiter aus als sein lustiges, gutmütiges Vollmondgesicht. Er wohnte ganz für sich in einem kleinen Hüttchen und arbeitete jeden Tag in seinem Garten. In der ganzen Gegend war kein Garten so schön wie seiner. Federnelken wuchsen darin und Goldlack und Hirtentäschel und Eisenhut. Da waren gelbe Rosen und rote Damaszenerrosen, lila Krokus und goldener, und purpurne und weiße Veilchen. Akelei und Wiesenschaum, Majoran und Basilienkraut, Himmelschlüsselchen und Lilien, Narzissen und Nelken sprossen und blühten da jedes zu seiner Zeit, wie die Monate es brachten, und eine Blume trat an der vorigen Statt, so dass es stets viel Schönes anzuschauen und liebliche Düfte zu atmen gab.
Der kleine Hans hatte sehr viele Freunde, aber der aufopferndste von allen war der Müller, der große dicke Hugho. ja, eine so selbstlose Zuneigung hegte der reiche Müller für den kleinen Hans, dass er nie an dessen Garten vorübergehen konnte, ohne sich über das Mäuerchen zu lehnen und einen gewaltigen Blumenstrauß oder eine Handvoll würziger Kräuter zu pflücken oder sich die Taschen mit Pflaumen und Kirschen vollzustopfen, wenn gerade die Reifezeit war.
Wahre Freunde sollten alles gemeinsam besitzen, sagte er dann stets, und der kleine Hans nickte dazu und lächelte und war sehr stolz, einen Freund mit solch hohen Gedanken zu haben.
Bisweilen fanden es die Nachbarn zwar sonderbar, dass der reiche Müller dem kleinen Hans niemals etwas als Gegengabe brachte, obwohl er hundert Säcke feinstes Mehl besaß, die in seiner Mühle aufgespeichert standen, und sechs Milchkühe und eine große Herde wollige Schafe; aber Hans zerbrach sich den Kopf über solche Dinge nicht, und er kannte kein größeres Vergnügen, als all den wunderbaren Worten zu lauschen, die der Müller unermüdlich über die Uneigennützigkeit echter Freundschaft zu sagen wusste.
Der kleine Hans arbeitete also tagaus, tagein in seinem Garten. Im Frühling, im Sommer und im Herbst war er froh und glücklich, doch wenn dann der Winter kam und er nicht Obst noch Blumen auf den Markt zu bringen hatte, litt er recht arg durch Hunger und Kälte, und oftmals musste er sich schlafen legen, ohne etwas anderes gegessen zu haben als ein paar gedörrte Birnen oder einige trockene Nüsse. Auch war er im Winter ganz mutterseelenallein, denn der Müller kam dann nie zu ihm. ,Es hätte keinen Zweck, wenn ich zu dem kleinen Hans ginge, solange noch Schnee liegt‘, pflegte er zu seiner Frau zu sagen. Wenn einer Kummer hat, soll man ihn in Ruhe lassen und ihn nicht mit Besuchen quälen. Ich jedenfalls hege diese Vorstellung von Freundschaft, und ich bin fest überzeugt, ich habe damit recht. Deshalb werde ich bis zum Frühling warten und ihn dann aufsuchen, denn erst im Frühling kann er mir einen großen Korb voll Schlüsselblumen geben, und darüber wird er sich so herzlich freuen.‘
,Du bist wahrhaftig sehr rücksichtsvoll gegen andere‘, erwiderte seine Frau, die behaglich in ihrem Lehnstuhl neben dem großen Kiefernholzfeuer saß, „sehr, sehr rücksichtsvoll. Es ist ein wahrer Genuss, dich über die Freundschaft sprechen zu hören. Ich sage dir, der Pfarrer selbst kann nicht so erbaulich reden wie du, und dabei wohnt er in einem dreistöckigen Hause und trägt einen goldenen Ring am kleinen Finger.‘
‚Aber könnten wir den kleinen Hans nicht zu uns einladen?!‘ sagte des Müllers Jüngster. ‚Wenn der arme Hans traurig ist, will ich ihm die Hälfte von meinem Haferbrei abgeben und ihm meine weißen Kaninchen zeigen!‘ ‚Dummer Junge!‘ schrie der Müller, ‚ich möchte wirklich wissen, was für einen Zweck es hat, dich in die Schule zu schicken. Mir scheint, du wirst immer dümmer statt klüger. Verstehst du nicht – wenn der kleine Hans zu uns heraufkäme und unsern warmen Kamin sähe und unser gutes Essen und unser großes Fass voll rotem Wein, da könnte er neidisch werden, und Neid ist etwas ganz Schlimmes und verdirbt jeden Charakter. Ich aber werde es keinesfalls zulassen, dass Hansens Charakter verdorben wird. Ich bin sein bester Freund, und ich werde stets über ihn wachen und Sorge tragen, dass keiner ihn in Versuchung führt. Und noch eins: wenn Hans hierher käme, würde er mich vielleicht bitten, ihm etwas Mehl auf Kredit abzulassen, und das könnte ich nicht tun. Mehl ist eines, und Freundschaft ist ein anderes, und sie dürfen nicht miteinander vermengt werden. Die beiden Wörter klingen ganz verschieden, und folglich bedeuten sie auch etwas ganz Verschiedenes. Ich dächte, das sieht jedes Kind.‘ ‚Wie gut du sprichst!‘ sagte die Müllersfrau und schenkte sich ein großes Glas Warmbier ein, ‚ich bin ganz schläfrig dabei geworden. Es ist genau, als ob man in der Kirche sitzt.‘
‚Viele, viele Leute handeln gut‘, erwiderte der Müller, ‚aber sehr wenige sprechen gut, woraus erhellt, dass Sprechen das weitaus Schwierigere von beiden ist, und das viel Vornehmere dazu.‘ Und er schoss quer über den Tisch einen strengen Blick nach seinem kleinen Jungen, der vor lauter Scham über seine Dummheit den Kopf hängen ließ und ganz puterrot anlief und in seinen Tee zu weinen begann. Na ja, er war noch so klein, dass ihr’s ihm nicht übel nehmen dürft.“
„Ist das der Schluss von der Geschichte?“ fragte der Wasserratz.
„Aber nein“, antwortete der Hänfling, „das ist der Anfang. „
„Dann sind Sie ganz und gar nicht auf der Höhe Ihrer Zeit“, sagte der Wasserratz. jeder gute Schriftsteller fängt heutzutage seine Geschichte am Ende an und geht dann auf den Anfang über und schließt mit der Mitte. Das ist die neue literarische Mode. Ich habe es kürzlich ganz genau von einem Kritiker gehört, der mit einem jungen Mann um den Teich herumwandelte. Er sprach sehr ausführlich über diese Materie, und bestimmt hatte er mit allem recht, was er sagte, denn er trug eine blaue Brille zu seinem Kahlkopf, und jedes mal wenn der junge Mann eine Bemerkung einwarf, machte er nur immer ‚Pah!‘ Aber bitte, fahren Sie in Ihrer Geschichte fort. Der Müller gefällt mir ganz ungemein. Ich habe selber schöne Gefühle aller Art, und das schafft eine tiefe Seelenverwandtschaft zwischen uns.“
„Gut“, sagte der Hänfling und hüpfte bald auf dem rechten, bald auf dem linken Bein. Als der Winter vorüber war und die Schlüsselblumen ihre blassgelben Sterne eben aufgetan hatten, sagte der Müller zu seiner Frau, er wolle nun hinübergehen und den kleinen Hans besuchen. ‚Nein, was für ein gutes Herz du hast!‘ rief die Frau, du denkst doch in einem fort an die anderen. Und vergiss nicht, den großen Korb für die Blumen mitzunehmen.‘
Also band der Müller die Flügel der Windmühle mit einer starken Eisenkette fest und ging den Hügel hinab, den Korb am Arm.
‚Guten Morgen, kleiner Hans‘, sagte der Müller.
,Guten Morgen‘, sagte Hans und lehnte sich auf seinen Spaten und lachte von einem Ohr zum andern. ,Und wie ist dir’s den ganzen Winter durch ergangen?‘ fragte der Müller.
,Oh, danke‘, rief Hans, ,du bist sehr gütig, dich danach zu erkundigen, wirklich sehr gütig. Offen gesagt, ich habe eine ziemlich böse Zeit hinter mir, aber nun ist der Frühling da, und ich bin wieder ganz vergnügt, und alle meine Blumen gedeihen.‘
,Wir haben während des Winters oft von dir gesprochen, Hans‘, sagte der Müller, ,und uns gefragt, wie dir’s gehen mag.‘
‚Das war sehr lieb von euch‘, sagte Hans, ich hatte schon ein bisschen Angst, ihr hättet mich vergessen.‘ ,Hans, ich muss mich über dich wundern‘, sagte der Müller. ,Freundschaft vergisst niemals. Das ist ja das Wundervolle an ihr; aber ich fürchte, du begreifst die Poesie des Lebens nicht. Nebenbei bemerkt – wie hübsch deine Schlüsselblumen sind!‘
,Ja, sie sind wirklich sehr hübsch‘, sagte Hans, ,und es ist ein großes Glück für mich, dass ich ihrer so viele habe. Ich will sie auf den Markt bringen und sie der Tochter des Bürgermeisters verkaufen, und mit dem Geld werde ich meinen Schubkarren auslösen.‘ ,Deinen Schubkarren auslösen? Willst du damit etwa sagen, du hast ihn verkauft? Das wäre eine schöne Dummheit von dir gewesen!‘
,Na ja‘, antwortete Hans, ,die Wahrheit zu sagen, ich konnte nicht anders. Den ganzen Winter ist’s so ärmlich bei mir zugegangen, verstehst du, dass ich nicht mal das Geld hatte, mir Brot zu kaufen. Da verkaufte ich zuerst die silbernen Knöpfe von meinem Sonntagsrock, und dann verkaufte ich meine silberne Kette, und dann verkaufte ich meine lange Tabakspfeife, und zuletzt verkaufte ich meinen Schubkarren. Aber jetzt werde ich alles wieder zurückkaufen.‘
,Hans‘, sagte der Müller, ,ich schenke dir meinen eigenen Schubkarren. Er ist nicht eben im besten Zustand; die eine Seite fehlt ganz, und auch an den Radspeichen ist verschiedenes entzwei, aber trotz alledem will ich ihn dir schenken. Ich weiß, das ist sehr edelmütig von mir, und die Leute werden mich für äußerst töricht halten, weil ich mich von dem Schubkarren trenne; aber ich bin anders als der gemeine Haufen. Meiner Meinung nach ist Edelmut das innerste Wesen der Freundschaft, und außerdem habe ich mir einen neuen Schubkarren zugelegt. jawohl, sei gutes Muts und mach dir keine Kopfschmerzen – ich schenke dir meinen Schubkarren.‘
,Ach, das ist wirklich sehr edelmütig von dir‘, sagte der kleine Hans, und sein lustiges rundes Gesicht strahlte über und über vor Freude. ,Ich kann ihn auch leicht reparieren, denn ich habe ein schönes Brett bei mir im Haus.‘ ,Ein schönes Brett!‘ sagte der Müller, ,sieh an, das ist genau das, was ich für mein Scheunendach brauche. Mein Scheunendach hat nämlich ein gewaltig großes Loch, und das Korn wird ganz feucht werden, wenn ich nicht etwas drübernagle. Welch ein Glück, dass du davon gesprochen hast! Es ist doch erstaunlich, wie eine gute Tat stets eine zweite nach sich zieht. Ich habe dir meinen Schubkarren geschenkt, und nun willst du mir dein Brett schenken. Natürlich ist mein Schubkarren viel mehr wert als dein Brett, aber wahre Freundschaft rechnet nicht. Bitte, hol es gleich, damit ich noch heute mit der Arbeit an meiner Scheune beginnen kann.‘
,Gern‘, rief der kleine Hans, und er rannte in den Schuppen und schleppte das Brett heraus. ,Es ist gerade kein sehr großes Brett‘, sagte der Müller und schaute es prüfend an, ,und ich glaube fast, wenn ich mein Scheunendach damit ausgebessert habe, wird nichts für dich übrigbleiben, um den Schubkarren zu reparieren; aber selbstverständlich ist das nicht meine Schuld. Und jetzt, da ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, wirst du mir sicherlich gern ein paar Blumen als Gegengabe schenken. Hier ist der Korb, sieh nur zu, dass er bis oben voll wird.‘ ,Bis oben voll?‘ sagte der kleine Hans etwas bekümmert, denn der Korb war wirklich sehr groß, und er wusste, dass keine Blumen für den Markt übrigbleiben würden, wenn er ihn bis oben füllte; und ihm lag sehr viel daran, seine Silberknöpfe wiederzubekommen. ,Aber gewiss‘, antwortete der Müller. ,Da ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, halte ich es nicht für unbillig, dass ich dich um ein paar Blümchen bitte. Vielleicht irre ich mich, aber ich sollte meinen, Freundschaft, wahre Freundschaft, ist ganz frei von jeder Art Eigennutz.‘ ,Lieber Freund, bester Freund!‘ rief der kleine Hans, ,alle Blumen meines Gartens sind dein. Mir liegt jederzeit viel mehr an deiner guten Meinung als an meinen silbernen Knöpfen.‘ Und er lief und pflückte alle seine schönen Schlüsselblumen und füllte den Korb des Müllers bis oben hin.
,Auf Wiedersehen, kleiner Hans‘, sagte der Müller, als er mit dem Brett auf der Schulter und dem großen Korb in der Hand den Hügel hinanstieg.
,Auf Wiedersehen‘, sagte der kleine Hans und machte sich höchst vergnügt wieder ans Graben; er freute sich so sehr über den Schubkarren.
Am nächsten Tag band er gerade ein paar Geißblattranken über der Tür fest, als er den Müller hörte, der von der Straße her nach ihm rief. Er sprang also von der Leiter, lief hinab in den Garten und blickte über die Mauer. Da stand der Müller mit einem großen Sack Mehl auf dem Rücken.
,Lieber kleiner Hans‘, sagte der Müller, würde es dir was ausmachen, diesen Sack Mehl für mich auf den Markt zu bringen?‘
,Oh, das tut mir wirklich leid‘, sagte Hans, ,aber ich habe heute sehr viel zu tun. Ich muss all meine Schlingpflanzen aufbinden und all meine Blumen gießen und meinen ganzen Rasen walzen.‘
,In der Tat‘, sagte der Müller, ,wenn ich recht bedenke, dass ich dir meinen Schubkarren schenken will, finde ich es sehr wenig freundschaftlich von dir, mir den kleinen Gefallen zu verweigern.‘
,Ach, sprich nicht so‘, rief der kleine Hans, ,nicht um alles in der Welt möchte ich unfreundschaftlich gegen dich sein.‘ Und er lief nach seiner Mütze und keuchte mit dem großen Sack auf den Schultern davon.
Es war ein sehr heißer Tag, und die Landstraße war entsetzlich staubig, und ehe Hans den sechsten Meilenstein erreicht hatte, fühlte er sich so matt, dass er sich niedersetzen und ausruhen musste. Aber gleich ging er tapfer weiter und gelangte endlich zum Markt. Nachdem er dort eine Weile gewartet hatte, verkaufte er den Sack Mehl zu einem sehr günstigen Preis und kehrte dann unverzüglich heim; denn er fürchtete unterwegs den Räubern in die Hände zu fallen, wenn er sich länger aufhielte.
,Das war mal ein schwerer Tag heut‘, sagte der kleine Hans zu sich selber, als er ins Bett ging, ,aber ich freue mich doch, dass ich’s dem Müller nicht abgeschlagen habe. Er ist ja mein bester Freund, und überdies will er mir seinen Schubkarren schenken.‘
Früh am nächsten Morgen kam der Müller herüber, das Geld für den Sack Mehl zu holen; der kleine Hans jedoch war so müde, dass er noch im Bett lag.
,So wahr ich hier stehe‘, sagte der Müller, ,du bist sehr faul. Ich dächte, da ich dir doch meinen Schubkarren schenken will, solltest du fürwahr fleißiger arbeiten. Müßiggang ist aller Laster Anfang, und ich sehe sehr ungern, wenn einer meiner Freunde träge oder saumselig ist. Du darfst mir’s nicht übel nehmen, dass ich so unumwunden mit dir rede. Wäre ich nicht dein Freund, so würde mir das natürlich nicht im Traume einfallen. Welchen Nutzen aber hätte die Freundschaft, wenn man unter Freunden nicht aufrichtig seine Meinung sagte? Komplimente machen, Wohlgefallen zu erregen trachten und schmeicheln, das kann ein jeder; doch der wahre Freund spricht immer Unangenehmes und trägt kein Bedenken, auch wehzutun. ja, dem wahren Freund von echtem Schrot und Korn ist dies sogar das liebste, denn er weiß, dass Wehtun Wohltun ist.‘ ,Verzeih, ich wollte dich nicht erzürnen‘, sagte der kleine Hans, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb und seine Nachtmütze abnahm, aber weil ich gar so müde war, dachte ich mir, ich könnte eigentlich noch ein bisschen liegen bleiben und den Vögeln zuhören. Weißt du, die Arbeit geht mir stets besser von der Hand, wenn ich vorher die Vögel habe singen hören.‘
,So? das freut mich‘, sagte der Müller und klopfte dem kleinen Hans auf den Rücken, ,denn ich möchte, dass du zur Mühle hinaufkommst, sobald du dich angezogen hast, und mir mein Scheunendach ausbesserst.‘
Der arme kleine Hans brannte zwar darauf, in seinem Garten zu arbeiten, denn er hatte die Blumen seit zwei Tagen nicht mehr gegossen; aber er wollte dem Müller die Bitte nicht abschlagen, da dieser doch ein so guter Freund von ihm war.
,Würdest du’s für sehr unfreundschaftlich von mir halten, wenn ich sagte, ich hätte viel zu tun?‘ fragte er ganz behutsam und schüchtern.
,Allerdings‘, antwortete der Müller, ,ich glaube, es ist nicht zuviel von dir verlangt, da ich dir ja meinen Schubkarren schenken will; aber wenn du nicht magst, werde ich selbstverständlich alles selber machen.‘ ,Oh, auf keinen Fall!‘ rief der kleine Hans; und er sprang aus dem Bett und zog sich an und ging hinaus zu der Scheune.
Dort werkte er den ganzen Tag bis zum Sonnenuntergang, und bei Sonnenuntergang kam der Müller, um zu sehen, wie es mit der Arbeit vorwärts ging. ,Hast du das Loch im Dach schon repariert, kleiner Hans?‘ rief der Müller fröhlichen Tones. ,Es ist fertig ausgebessert‘, antwortete der kleine Hans und stieg die Leiter hinab.
,Ah!‘ sagte der Müller, nichts gewährt uns größere Befriedigung als die Arbeit, die wir für andere verrichten.‘ ,Es ist wirklich ein großer Vorzug, dich reden zu hören‘, erwiderte der kleine Hans und setzte sich nieder und wischte den Schweiß von der Stirn, ,ein sehr großer Vorzug sogar. Ich fürchte freilich, mir werden niemals so schöne Gedanken kommen wie dir.‘ ,Oh! das wird schon werden‘, sagte der Müller, du musst dir nur mehr Mühe geben. Vorläufig übst du die Freundschaft nur praktisch aus; eines Tages aber wirst du auch ihre Theorie begreifen.‘
,Meinst du wirklich?‘ fragte der kleine Hans.
,Unbedingt‘, antwortete der Müller. ,Doch nun, da du das Dach ausgebessert hast, solltest du lieber nach Hause gehen und dich ausruhen, denn ich möchte, dass du morgen meine Schafe auf den Berg treibst.‘
Der arme kleine Hans hatte Angst, irgend etwas dagegen zu sagen, und am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe brachte der Müller seine Schafe hinüber zu Hansens Häuschen, und der ging mit ihnen auf den Berg. Er brauchte den ganzen Tag, um hinauf und wieder hinunter zu gelangen; und als er heimkehrte, war er so müde, dass er in seinen Stuhl sank und schlief, und er wachte nicht auf, bis es helllichter Tag geworden war.
,Wie herrlich werde ich heut in meinem Garten arbeiten‘ sagte er und machte sich unverweilt ans Werk.
Aber mal aus diesem Grunde, mal aus jenem – nie hatte er Zeit, sich um seine Blumen zu kümmern; denn immerzu kam sein Freund, der Müller, herüber und schickte ihn fort mit langwierigen Aufträgen oder holte ihn, damit er in der Mühle half. Der kleine Hans war mitunter ganz niedergeschlagen, weil er fürchtete, seine Blumen könnten glauben, er habe sie vergessen. Aber dann tröstete er sich wieder mit dem Gedanken, dass der Müller doch sein bester Freund war. ,Zudem‘, sagte er sich stets, ,will er mir seinen Schubkarren schenken, und das ist ein Akt reinen Edelmuts.‘
So arbeitete der kleine Hans weiter für den Müller, und der Müller sagte allerhand Schönes über die Freundschaft, was Hans wortwörtlich in ein Notizbuch eintrug und nachts immer wieder durchlas, denn er war ein sehr gewissenhafter Schüler.
Eines Abends nun saß der kleine Hans noch spät an seinem Kamin, als es laut an der Tür klopfte. Die Nacht war dunkel und schaurig, und der Wind fuhr mit so wildem Getöse ums Haus, dass Hans zunächst dachte, es sei nur der Sturm. Aber ein zweites Klopfen folgte, und dann ein drittes, lauter als jedes zuvor.
,Das ist ein armer Wandersmann‘, sagte der kleine Hans bei sich und lief an die Tür.
Da stand der Müller mit einer Laterne in der einen Hand und einem großen Stecken in der anderen. ,Lieber, kleiner Hans‘, rief der Müller, ,ich bin in großer Bedrängnis. Mein kleiner Junge ist von der Leiter gestürzt und hat sich verletzt, und ich muss den Doktor holen. Aber der wohnt so weit weg, und die Nacht ist so schlimm, dass mir eben eingefallen ist, es wäre doch viel besser, wenn du statt meiner hingingest. Du weißt, ich will dir meinen Schubkarren schenken, und da ist es doch nur in der Ordnung, wenn du mir auch einmal einen Gegendienst leistest.‘
,Gewiss‘, rief der kleine Hans, ,ich betrachte es als eine große Ehre, dass du zu mir gekommen bist, und will sofort aufbrechen. Aber leih mir bitte deine Laterne, denn bei der Finsternis heute Abend könnte ich sonst den Weg verfehlen und in den Graben fallen.‘
,Leider‘, erwiderte der Müller, ,leider ist das meine neue Laterne, und wenn ihr etwas zustieße, wäre das ein sehr empfindlicher Schaden für mich.‘ ,Gut, macht nichts, es geht auch so‘, rief der kleine Hans, und er nahm seinen großen Pelzrock vom Nagel und seine warme rote Tuchkappe und band sich einen Schal um den Hals und machte sich auf den Weg.
Was tobte da für ein fürchterlicher Sturm! Die Nacht war so schwarz, dass der kleine Hans kaum sehen konnte, und der Wind wehte so heftig, dass er sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt. Er ertrug aber alles sehr tapfer, und nach drei Stunden Weges kam er zum Doktorhaus und pochte an die Tür.
,Wer ist da?‘ rief der Arzt und steckte den Kopf zum Schlafzimmerfenster heraus. ,Der kleine Hans, Doktor.‘ ,Was willst du denn, kleiner Hans?‘ ,Der Junge vom Müller ist die Leiter runtergefallen und hat sich was getan, und der Müller lässt sagen, Sie möchten doch gleich hinkommen.‘
,Gut!‘ sagte der Doktor; und er rief nach seinem Pferd und seinen großen Stiefeln und seiner Laterne und kam die Treppe herab und ritt davon nach des Müllers Hause, der kleine Hans aber stapfte hinter ihm drein.
Doch der Sturm wurde schlimmer und schlimmer, und es regnete in Strömen, und der kleine Hans konnte nicht sehen, wohin er lief, und nicht mit dem Pferd gleichen Schritt halten. Zum Schluss kam er vom Wege ab und verirrte sich ins Moor, wo es sehr gefährlich war, denn das Moor war voll tiefer Wasserlöcher; und in einem davon ertrank der arme kleine Hans. Sein Leichnam wurde, in einem großen Tümpel treibend, am nächsten Tage von ein paar Ziegenhirten aufgefunden und nach seinem Häuschen gebracht.
Die ganze Gegend ging mit bei seinem Begräbnis, denn alle hatten den kleinen Hans gekannt und gerne gehabt, und der Müller war der Hauptleidtragende. ,Da ich sein bester Freund gewesen bin‘, sagte der Müller, ,ist es nur recht und billig, dass ich den besten Platz einnehme.‘ Und so schritt er im langen schwarzen Rock an der Spitze des Trauerzuges, und dann und wann wischte er sich mit einem großen Taschentuch die Augen.
,Jedem von uns wird der kleine Hans bestimmt sehr fehlen‘, sagte der Schmied, als das Begräbnis vorüber war und alle bei Glühwein und süßen Kuchen gemütlich im Wirtshaus beisammen saßen.
,Mir jedenfalls wird er wirklich fehlen‘, erwiderte der Müller. jawohl, ich hatte ihm meinen Schubkarren schon so gut wie geschenkt, und nun weiß ich beim besten Willen nicht, was ich damit anfangen soll. Er steht mir zu Hause immerzu im Wege, und er ist in so schlechtem Zustand, dass ich nichts dafür bekäme, wenn ich ihn verkaufte. Ich will mich fortan hüten, je wieder irgend etwas zu verschenken. Man hat bloß den Schaden für seinen Edelmut.‘ „Nun, und weiter?“ sagte der Wasserratz nach einer langen Pause.
„Nun, das ist der Schluss“, sagte der Hänfling. „Aber was wurde aus dem Müller?“ fragte der Wasserratz. „Oh, das weiß ich wahrhaftig nicht“, antwortete der Hänfling, „und es ist mir auch ganz einerlei.“
„Daraus ersieht man deutlich, Sie sind keiner Anteilnahme fähig“, sagte der Wasserratz.
„Ich fürchte, Sie begreifen die Moral der Geschichte nicht ganz“, bemerkte der Hänfling.
„Die was?“ kreischte der Wasserratz.
„Die Moral.“
„Wollen Sie damit sagen, dass die Geschichte eine Moral hat?“
„Gewiss“, sagte der Hänfling.
„Zum Kuckuck“, sagte der Wasserratz höchst erbost, „ich dächte, Sie hätten mir das sagen können, bevor Sie anfingen. Dann hätte ich Ihnen nämlich ganz bestimmt nicht zugehört; im Gegenteil, ich hätte ‚Pah!‘ gesagt wie der Kritiker neulich. Immerhin kann ich’s ja jetzt nachholen.“ Und er brüllte aus vollem Halse: „Pah!“, schwenkte den Schwanz und kroch in sein Loch zurück.
„Und wie gefällt Ihnen der Wasserratz?“ fragte die Ente, die ein paar Minuten danach angerudert kam. „Er hat eine Menge hervorragende Eigenschaften, ich für meine Person aber hege die Gefühle einer Gattin und Mutter, und ich kann einen eingefleischten Junggesellen nicht ansehen, ohne dass mir die Tränen kommen.“
„Mir scheint, er hat sich über mich geärgert“, meinte der Hänfling, „und zwar, weil ich ihm eine Geschichte mit einer Moral erzählt habe.“
„Ah! Das ist immer ein sehr gefährliches Unterfangen“ sagte die Ente.
Und ich gebe ihr vollkommen recht.
„War er was Großes, was Ausgezeichnetes?“ fragte der Wasserratz.
„Nein“, antwortete der Hänfling, „ich glaube kaum, dass irgend etwas groß an dem kleinen Hans war außer seiner Herzensgüte, auch zeichnete ihn wohl nichts weiter aus als sein lustiges, gutmütiges Vollmondgesicht. Er wohnte ganz für sich in einem kleinen Hüttchen und arbeitete jeden Tag in seinem Garten. In der ganzen Gegend war kein Garten so schön wie seiner. Federnelken wuchsen darin und Goldlack und Hirtentäschel und Eisenhut. Da waren gelbe Rosen und rote Damaszenerrosen, lila Krokus und goldener, und purpurne und weiße Veilchen. Akelei und Wiesenschaum, Majoran und Basilienkraut, Himmelschlüsselchen und Lilien, Narzissen und Nelken sprossen und blühten da jedes zu seiner Zeit, wie die Monate es brachten, und eine Blume trat an der vorigen Statt, so dass es stets viel Schönes anzuschauen und liebliche Düfte zu atmen gab.
Der kleine Hans hatte sehr viele Freunde, aber der aufopferndste von allen war der Müller, der große dicke Hugho. ja, eine so selbstlose Zuneigung hegte der reiche Müller für den kleinen Hans, dass er nie an dessen Garten vorübergehen konnte, ohne sich über das Mäuerchen zu lehnen und einen gewaltigen Blumenstrauß oder eine Handvoll würziger Kräuter zu pflücken oder sich die Taschen mit Pflaumen und Kirschen vollzustopfen, wenn gerade die Reifezeit war.
Wahre Freunde sollten alles gemeinsam besitzen, sagte er dann stets, und der kleine Hans nickte dazu und lächelte und war sehr stolz, einen Freund mit solch hohen Gedanken zu haben.
Bisweilen fanden es die Nachbarn zwar sonderbar, dass der reiche Müller dem kleinen Hans niemals etwas als Gegengabe brachte, obwohl er hundert Säcke feinstes Mehl besaß, die in seiner Mühle aufgespeichert standen, und sechs Milchkühe und eine große Herde wollige Schafe; aber Hans zerbrach sich den Kopf über solche Dinge nicht, und er kannte kein größeres Vergnügen, als all den wunderbaren Worten zu lauschen, die der Müller unermüdlich über die Uneigennützigkeit echter Freundschaft zu sagen wusste.
Der kleine Hans arbeitete also tagaus, tagein in seinem Garten. Im Frühling, im Sommer und im Herbst war er froh und glücklich, doch wenn dann der Winter kam und er nicht Obst noch Blumen auf den Markt zu bringen hatte, litt er recht arg durch Hunger und Kälte, und oftmals musste er sich schlafen legen, ohne etwas anderes gegessen zu haben als ein paar gedörrte Birnen oder einige trockene Nüsse. Auch war er im Winter ganz mutterseelenallein, denn der Müller kam dann nie zu ihm. ,Es hätte keinen Zweck, wenn ich zu dem kleinen Hans ginge, solange noch Schnee liegt‘, pflegte er zu seiner Frau zu sagen. Wenn einer Kummer hat, soll man ihn in Ruhe lassen und ihn nicht mit Besuchen quälen. Ich jedenfalls hege diese Vorstellung von Freundschaft, und ich bin fest überzeugt, ich habe damit recht. Deshalb werde ich bis zum Frühling warten und ihn dann aufsuchen, denn erst im Frühling kann er mir einen großen Korb voll Schlüsselblumen geben, und darüber wird er sich so herzlich freuen.‘
,Du bist wahrhaftig sehr rücksichtsvoll gegen andere‘, erwiderte seine Frau, die behaglich in ihrem Lehnstuhl neben dem großen Kiefernholzfeuer saß, „sehr, sehr rücksichtsvoll. Es ist ein wahrer Genuss, dich über die Freundschaft sprechen zu hören. Ich sage dir, der Pfarrer selbst kann nicht so erbaulich reden wie du, und dabei wohnt er in einem dreistöckigen Hause und trägt einen goldenen Ring am kleinen Finger.‘
‚Aber könnten wir den kleinen Hans nicht zu uns einladen?!‘ sagte des Müllers Jüngster. ‚Wenn der arme Hans traurig ist, will ich ihm die Hälfte von meinem Haferbrei abgeben und ihm meine weißen Kaninchen zeigen!‘ ‚Dummer Junge!‘ schrie der Müller, ‚ich möchte wirklich wissen, was für einen Zweck es hat, dich in die Schule zu schicken. Mir scheint, du wirst immer dümmer statt klüger. Verstehst du nicht – wenn der kleine Hans zu uns heraufkäme und unsern warmen Kamin sähe und unser gutes Essen und unser großes Fass voll rotem Wein, da könnte er neidisch werden, und Neid ist etwas ganz Schlimmes und verdirbt jeden Charakter. Ich aber werde es keinesfalls zulassen, dass Hansens Charakter verdorben wird. Ich bin sein bester Freund, und ich werde stets über ihn wachen und Sorge tragen, dass keiner ihn in Versuchung führt. Und noch eins: wenn Hans hierher käme, würde er mich vielleicht bitten, ihm etwas Mehl auf Kredit abzulassen, und das könnte ich nicht tun. Mehl ist eines, und Freundschaft ist ein anderes, und sie dürfen nicht miteinander vermengt werden. Die beiden Wörter klingen ganz verschieden, und folglich bedeuten sie auch etwas ganz Verschiedenes. Ich dächte, das sieht jedes Kind.‘ ‚Wie gut du sprichst!‘ sagte die Müllersfrau und schenkte sich ein großes Glas Warmbier ein, ‚ich bin ganz schläfrig dabei geworden. Es ist genau, als ob man in der Kirche sitzt.‘
‚Viele, viele Leute handeln gut‘, erwiderte der Müller, ‚aber sehr wenige sprechen gut, woraus erhellt, dass Sprechen das weitaus Schwierigere von beiden ist, und das viel Vornehmere dazu.‘ Und er schoss quer über den Tisch einen strengen Blick nach seinem kleinen Jungen, der vor lauter Scham über seine Dummheit den Kopf hängen ließ und ganz puterrot anlief und in seinen Tee zu weinen begann. Na ja, er war noch so klein, dass ihr’s ihm nicht übel nehmen dürft.“
„Ist das der Schluss von der Geschichte?“ fragte der Wasserratz.
„Aber nein“, antwortete der Hänfling, „das ist der Anfang. „
„Dann sind Sie ganz und gar nicht auf der Höhe Ihrer Zeit“, sagte der Wasserratz. jeder gute Schriftsteller fängt heutzutage seine Geschichte am Ende an und geht dann auf den Anfang über und schließt mit der Mitte. Das ist die neue literarische Mode. Ich habe es kürzlich ganz genau von einem Kritiker gehört, der mit einem jungen Mann um den Teich herumwandelte. Er sprach sehr ausführlich über diese Materie, und bestimmt hatte er mit allem recht, was er sagte, denn er trug eine blaue Brille zu seinem Kahlkopf, und jedes mal wenn der junge Mann eine Bemerkung einwarf, machte er nur immer ‚Pah!‘ Aber bitte, fahren Sie in Ihrer Geschichte fort. Der Müller gefällt mir ganz ungemein. Ich habe selber schöne Gefühle aller Art, und das schafft eine tiefe Seelenverwandtschaft zwischen uns.“
„Gut“, sagte der Hänfling und hüpfte bald auf dem rechten, bald auf dem linken Bein. Als der Winter vorüber war und die Schlüsselblumen ihre blassgelben Sterne eben aufgetan hatten, sagte der Müller zu seiner Frau, er wolle nun hinübergehen und den kleinen Hans besuchen. ‚Nein, was für ein gutes Herz du hast!‘ rief die Frau, du denkst doch in einem fort an die anderen. Und vergiss nicht, den großen Korb für die Blumen mitzunehmen.‘
Also band der Müller die Flügel der Windmühle mit einer starken Eisenkette fest und ging den Hügel hinab, den Korb am Arm.
‚Guten Morgen, kleiner Hans‘, sagte der Müller.
,Guten Morgen‘, sagte Hans und lehnte sich auf seinen Spaten und lachte von einem Ohr zum andern. ,Und wie ist dir’s den ganzen Winter durch ergangen?‘ fragte der Müller.
,Oh, danke‘, rief Hans, ,du bist sehr gütig, dich danach zu erkundigen, wirklich sehr gütig. Offen gesagt, ich habe eine ziemlich böse Zeit hinter mir, aber nun ist der Frühling da, und ich bin wieder ganz vergnügt, und alle meine Blumen gedeihen.‘
,Wir haben während des Winters oft von dir gesprochen, Hans‘, sagte der Müller, ,und uns gefragt, wie dir’s gehen mag.‘
‚Das war sehr lieb von euch‘, sagte Hans, ich hatte schon ein bisschen Angst, ihr hättet mich vergessen.‘ ,Hans, ich muss mich über dich wundern‘, sagte der Müller. ,Freundschaft vergisst niemals. Das ist ja das Wundervolle an ihr; aber ich fürchte, du begreifst die Poesie des Lebens nicht. Nebenbei bemerkt – wie hübsch deine Schlüsselblumen sind!‘
,Ja, sie sind wirklich sehr hübsch‘, sagte Hans, ,und es ist ein großes Glück für mich, dass ich ihrer so viele habe. Ich will sie auf den Markt bringen und sie der Tochter des Bürgermeisters verkaufen, und mit dem Geld werde ich meinen Schubkarren auslösen.‘ ,Deinen Schubkarren auslösen? Willst du damit etwa sagen, du hast ihn verkauft? Das wäre eine schöne Dummheit von dir gewesen!‘
,Na ja‘, antwortete Hans, ,die Wahrheit zu sagen, ich konnte nicht anders. Den ganzen Winter ist’s so ärmlich bei mir zugegangen, verstehst du, dass ich nicht mal das Geld hatte, mir Brot zu kaufen. Da verkaufte ich zuerst die silbernen Knöpfe von meinem Sonntagsrock, und dann verkaufte ich meine silberne Kette, und dann verkaufte ich meine lange Tabakspfeife, und zuletzt verkaufte ich meinen Schubkarren. Aber jetzt werde ich alles wieder zurückkaufen.‘
,Hans‘, sagte der Müller, ,ich schenke dir meinen eigenen Schubkarren. Er ist nicht eben im besten Zustand; die eine Seite fehlt ganz, und auch an den Radspeichen ist verschiedenes entzwei, aber trotz alledem will ich ihn dir schenken. Ich weiß, das ist sehr edelmütig von mir, und die Leute werden mich für äußerst töricht halten, weil ich mich von dem Schubkarren trenne; aber ich bin anders als der gemeine Haufen. Meiner Meinung nach ist Edelmut das innerste Wesen der Freundschaft, und außerdem habe ich mir einen neuen Schubkarren zugelegt. jawohl, sei gutes Muts und mach dir keine Kopfschmerzen – ich schenke dir meinen Schubkarren.‘
,Ach, das ist wirklich sehr edelmütig von dir‘, sagte der kleine Hans, und sein lustiges rundes Gesicht strahlte über und über vor Freude. ,Ich kann ihn auch leicht reparieren, denn ich habe ein schönes Brett bei mir im Haus.‘ ,Ein schönes Brett!‘ sagte der Müller, ,sieh an, das ist genau das, was ich für mein Scheunendach brauche. Mein Scheunendach hat nämlich ein gewaltig großes Loch, und das Korn wird ganz feucht werden, wenn ich nicht etwas drübernagle. Welch ein Glück, dass du davon gesprochen hast! Es ist doch erstaunlich, wie eine gute Tat stets eine zweite nach sich zieht. Ich habe dir meinen Schubkarren geschenkt, und nun willst du mir dein Brett schenken. Natürlich ist mein Schubkarren viel mehr wert als dein Brett, aber wahre Freundschaft rechnet nicht. Bitte, hol es gleich, damit ich noch heute mit der Arbeit an meiner Scheune beginnen kann.‘
,Gern‘, rief der kleine Hans, und er rannte in den Schuppen und schleppte das Brett heraus. ,Es ist gerade kein sehr großes Brett‘, sagte der Müller und schaute es prüfend an, ,und ich glaube fast, wenn ich mein Scheunendach damit ausgebessert habe, wird nichts für dich übrigbleiben, um den Schubkarren zu reparieren; aber selbstverständlich ist das nicht meine Schuld. Und jetzt, da ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, wirst du mir sicherlich gern ein paar Blumen als Gegengabe schenken. Hier ist der Korb, sieh nur zu, dass er bis oben voll wird.‘ ,Bis oben voll?‘ sagte der kleine Hans etwas bekümmert, denn der Korb war wirklich sehr groß, und er wusste, dass keine Blumen für den Markt übrigbleiben würden, wenn er ihn bis oben füllte; und ihm lag sehr viel daran, seine Silberknöpfe wiederzubekommen. ,Aber gewiss‘, antwortete der Müller. ,Da ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, halte ich es nicht für unbillig, dass ich dich um ein paar Blümchen bitte. Vielleicht irre ich mich, aber ich sollte meinen, Freundschaft, wahre Freundschaft, ist ganz frei von jeder Art Eigennutz.‘ ,Lieber Freund, bester Freund!‘ rief der kleine Hans, ,alle Blumen meines Gartens sind dein. Mir liegt jederzeit viel mehr an deiner guten Meinung als an meinen silbernen Knöpfen.‘ Und er lief und pflückte alle seine schönen Schlüsselblumen und füllte den Korb des Müllers bis oben hin.
,Auf Wiedersehen, kleiner Hans‘, sagte der Müller, als er mit dem Brett auf der Schulter und dem großen Korb in der Hand den Hügel hinanstieg.
,Auf Wiedersehen‘, sagte der kleine Hans und machte sich höchst vergnügt wieder ans Graben; er freute sich so sehr über den Schubkarren.
Am nächsten Tag band er gerade ein paar Geißblattranken über der Tür fest, als er den Müller hörte, der von der Straße her nach ihm rief. Er sprang also von der Leiter, lief hinab in den Garten und blickte über die Mauer. Da stand der Müller mit einem großen Sack Mehl auf dem Rücken.
,Lieber kleiner Hans‘, sagte der Müller, würde es dir was ausmachen, diesen Sack Mehl für mich auf den Markt zu bringen?‘
,Oh, das tut mir wirklich leid‘, sagte Hans, ,aber ich habe heute sehr viel zu tun. Ich muss all meine Schlingpflanzen aufbinden und all meine Blumen gießen und meinen ganzen Rasen walzen.‘
,In der Tat‘, sagte der Müller, ,wenn ich recht bedenke, dass ich dir meinen Schubkarren schenken will, finde ich es sehr wenig freundschaftlich von dir, mir den kleinen Gefallen zu verweigern.‘
,Ach, sprich nicht so‘, rief der kleine Hans, ,nicht um alles in der Welt möchte ich unfreundschaftlich gegen dich sein.‘ Und er lief nach seiner Mütze und keuchte mit dem großen Sack auf den Schultern davon.
Es war ein sehr heißer Tag, und die Landstraße war entsetzlich staubig, und ehe Hans den sechsten Meilenstein erreicht hatte, fühlte er sich so matt, dass er sich niedersetzen und ausruhen musste. Aber gleich ging er tapfer weiter und gelangte endlich zum Markt. Nachdem er dort eine Weile gewartet hatte, verkaufte er den Sack Mehl zu einem sehr günstigen Preis und kehrte dann unverzüglich heim; denn er fürchtete unterwegs den Räubern in die Hände zu fallen, wenn er sich länger aufhielte.
,Das war mal ein schwerer Tag heut‘, sagte der kleine Hans zu sich selber, als er ins Bett ging, ,aber ich freue mich doch, dass ich’s dem Müller nicht abgeschlagen habe. Er ist ja mein bester Freund, und überdies will er mir seinen Schubkarren schenken.‘
Früh am nächsten Morgen kam der Müller herüber, das Geld für den Sack Mehl zu holen; der kleine Hans jedoch war so müde, dass er noch im Bett lag.
,So wahr ich hier stehe‘, sagte der Müller, ,du bist sehr faul. Ich dächte, da ich dir doch meinen Schubkarren schenken will, solltest du fürwahr fleißiger arbeiten. Müßiggang ist aller Laster Anfang, und ich sehe sehr ungern, wenn einer meiner Freunde träge oder saumselig ist. Du darfst mir’s nicht übel nehmen, dass ich so unumwunden mit dir rede. Wäre ich nicht dein Freund, so würde mir das natürlich nicht im Traume einfallen. Welchen Nutzen aber hätte die Freundschaft, wenn man unter Freunden nicht aufrichtig seine Meinung sagte? Komplimente machen, Wohlgefallen zu erregen trachten und schmeicheln, das kann ein jeder; doch der wahre Freund spricht immer Unangenehmes und trägt kein Bedenken, auch wehzutun. ja, dem wahren Freund von echtem Schrot und Korn ist dies sogar das liebste, denn er weiß, dass Wehtun Wohltun ist.‘ ,Verzeih, ich wollte dich nicht erzürnen‘, sagte der kleine Hans, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb und seine Nachtmütze abnahm, aber weil ich gar so müde war, dachte ich mir, ich könnte eigentlich noch ein bisschen liegen bleiben und den Vögeln zuhören. Weißt du, die Arbeit geht mir stets besser von der Hand, wenn ich vorher die Vögel habe singen hören.‘
,So? das freut mich‘, sagte der Müller und klopfte dem kleinen Hans auf den Rücken, ,denn ich möchte, dass du zur Mühle hinaufkommst, sobald du dich angezogen hast, und mir mein Scheunendach ausbesserst.‘
Der arme kleine Hans brannte zwar darauf, in seinem Garten zu arbeiten, denn er hatte die Blumen seit zwei Tagen nicht mehr gegossen; aber er wollte dem Müller die Bitte nicht abschlagen, da dieser doch ein so guter Freund von ihm war.
,Würdest du’s für sehr unfreundschaftlich von mir halten, wenn ich sagte, ich hätte viel zu tun?‘ fragte er ganz behutsam und schüchtern.
,Allerdings‘, antwortete der Müller, ,ich glaube, es ist nicht zuviel von dir verlangt, da ich dir ja meinen Schubkarren schenken will; aber wenn du nicht magst, werde ich selbstverständlich alles selber machen.‘ ,Oh, auf keinen Fall!‘ rief der kleine Hans; und er sprang aus dem Bett und zog sich an und ging hinaus zu der Scheune.
Dort werkte er den ganzen Tag bis zum Sonnenuntergang, und bei Sonnenuntergang kam der Müller, um zu sehen, wie es mit der Arbeit vorwärts ging. ,Hast du das Loch im Dach schon repariert, kleiner Hans?‘ rief der Müller fröhlichen Tones. ,Es ist fertig ausgebessert‘, antwortete der kleine Hans und stieg die Leiter hinab.
,Ah!‘ sagte der Müller, nichts gewährt uns größere Befriedigung als die Arbeit, die wir für andere verrichten.‘ ,Es ist wirklich ein großer Vorzug, dich reden zu hören‘, erwiderte der kleine Hans und setzte sich nieder und wischte den Schweiß von der Stirn, ,ein sehr großer Vorzug sogar. Ich fürchte freilich, mir werden niemals so schöne Gedanken kommen wie dir.‘ ,Oh! das wird schon werden‘, sagte der Müller, du musst dir nur mehr Mühe geben. Vorläufig übst du die Freundschaft nur praktisch aus; eines Tages aber wirst du auch ihre Theorie begreifen.‘
,Meinst du wirklich?‘ fragte der kleine Hans.
,Unbedingt‘, antwortete der Müller. ,Doch nun, da du das Dach ausgebessert hast, solltest du lieber nach Hause gehen und dich ausruhen, denn ich möchte, dass du morgen meine Schafe auf den Berg treibst.‘
Der arme kleine Hans hatte Angst, irgend etwas dagegen zu sagen, und am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe brachte der Müller seine Schafe hinüber zu Hansens Häuschen, und der ging mit ihnen auf den Berg. Er brauchte den ganzen Tag, um hinauf und wieder hinunter zu gelangen; und als er heimkehrte, war er so müde, dass er in seinen Stuhl sank und schlief, und er wachte nicht auf, bis es helllichter Tag geworden war.
,Wie herrlich werde ich heut in meinem Garten arbeiten‘ sagte er und machte sich unverweilt ans Werk.
Aber mal aus diesem Grunde, mal aus jenem – nie hatte er Zeit, sich um seine Blumen zu kümmern; denn immerzu kam sein Freund, der Müller, herüber und schickte ihn fort mit langwierigen Aufträgen oder holte ihn, damit er in der Mühle half. Der kleine Hans war mitunter ganz niedergeschlagen, weil er fürchtete, seine Blumen könnten glauben, er habe sie vergessen. Aber dann tröstete er sich wieder mit dem Gedanken, dass der Müller doch sein bester Freund war. ,Zudem‘, sagte er sich stets, ,will er mir seinen Schubkarren schenken, und das ist ein Akt reinen Edelmuts.‘
So arbeitete der kleine Hans weiter für den Müller, und der Müller sagte allerhand Schönes über die Freundschaft, was Hans wortwörtlich in ein Notizbuch eintrug und nachts immer wieder durchlas, denn er war ein sehr gewissenhafter Schüler.
Eines Abends nun saß der kleine Hans noch spät an seinem Kamin, als es laut an der Tür klopfte. Die Nacht war dunkel und schaurig, und der Wind fuhr mit so wildem Getöse ums Haus, dass Hans zunächst dachte, es sei nur der Sturm. Aber ein zweites Klopfen folgte, und dann ein drittes, lauter als jedes zuvor.
,Das ist ein armer Wandersmann‘, sagte der kleine Hans bei sich und lief an die Tür.
Da stand der Müller mit einer Laterne in der einen Hand und einem großen Stecken in der anderen. ,Lieber, kleiner Hans‘, rief der Müller, ,ich bin in großer Bedrängnis. Mein kleiner Junge ist von der Leiter gestürzt und hat sich verletzt, und ich muss den Doktor holen. Aber der wohnt so weit weg, und die Nacht ist so schlimm, dass mir eben eingefallen ist, es wäre doch viel besser, wenn du statt meiner hingingest. Du weißt, ich will dir meinen Schubkarren schenken, und da ist es doch nur in der Ordnung, wenn du mir auch einmal einen Gegendienst leistest.‘
,Gewiss‘, rief der kleine Hans, ,ich betrachte es als eine große Ehre, dass du zu mir gekommen bist, und will sofort aufbrechen. Aber leih mir bitte deine Laterne, denn bei der Finsternis heute Abend könnte ich sonst den Weg verfehlen und in den Graben fallen.‘
,Leider‘, erwiderte der Müller, ,leider ist das meine neue Laterne, und wenn ihr etwas zustieße, wäre das ein sehr empfindlicher Schaden für mich.‘ ,Gut, macht nichts, es geht auch so‘, rief der kleine Hans, und er nahm seinen großen Pelzrock vom Nagel und seine warme rote Tuchkappe und band sich einen Schal um den Hals und machte sich auf den Weg.
Was tobte da für ein fürchterlicher Sturm! Die Nacht war so schwarz, dass der kleine Hans kaum sehen konnte, und der Wind wehte so heftig, dass er sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt. Er ertrug aber alles sehr tapfer, und nach drei Stunden Weges kam er zum Doktorhaus und pochte an die Tür.
,Wer ist da?‘ rief der Arzt und steckte den Kopf zum Schlafzimmerfenster heraus. ,Der kleine Hans, Doktor.‘ ,Was willst du denn, kleiner Hans?‘ ,Der Junge vom Müller ist die Leiter runtergefallen und hat sich was getan, und der Müller lässt sagen, Sie möchten doch gleich hinkommen.‘
,Gut!‘ sagte der Doktor; und er rief nach seinem Pferd und seinen großen Stiefeln und seiner Laterne und kam die Treppe herab und ritt davon nach des Müllers Hause, der kleine Hans aber stapfte hinter ihm drein.
Doch der Sturm wurde schlimmer und schlimmer, und es regnete in Strömen, und der kleine Hans konnte nicht sehen, wohin er lief, und nicht mit dem Pferd gleichen Schritt halten. Zum Schluss kam er vom Wege ab und verirrte sich ins Moor, wo es sehr gefährlich war, denn das Moor war voll tiefer Wasserlöcher; und in einem davon ertrank der arme kleine Hans. Sein Leichnam wurde, in einem großen Tümpel treibend, am nächsten Tage von ein paar Ziegenhirten aufgefunden und nach seinem Häuschen gebracht.
Die ganze Gegend ging mit bei seinem Begräbnis, denn alle hatten den kleinen Hans gekannt und gerne gehabt, und der Müller war der Hauptleidtragende. ,Da ich sein bester Freund gewesen bin‘, sagte der Müller, ,ist es nur recht und billig, dass ich den besten Platz einnehme.‘ Und so schritt er im langen schwarzen Rock an der Spitze des Trauerzuges, und dann und wann wischte er sich mit einem großen Taschentuch die Augen.
,Jedem von uns wird der kleine Hans bestimmt sehr fehlen‘, sagte der Schmied, als das Begräbnis vorüber war und alle bei Glühwein und süßen Kuchen gemütlich im Wirtshaus beisammen saßen.
,Mir jedenfalls wird er wirklich fehlen‘, erwiderte der Müller. jawohl, ich hatte ihm meinen Schubkarren schon so gut wie geschenkt, und nun weiß ich beim besten Willen nicht, was ich damit anfangen soll. Er steht mir zu Hause immerzu im Wege, und er ist in so schlechtem Zustand, dass ich nichts dafür bekäme, wenn ich ihn verkaufte. Ich will mich fortan hüten, je wieder irgend etwas zu verschenken. Man hat bloß den Schaden für seinen Edelmut.‘ „Nun, und weiter?“ sagte der Wasserratz nach einer langen Pause.
„Nun, das ist der Schluss“, sagte der Hänfling. „Aber was wurde aus dem Müller?“ fragte der Wasserratz. „Oh, das weiß ich wahrhaftig nicht“, antwortete der Hänfling, „und es ist mir auch ganz einerlei.“
„Daraus ersieht man deutlich, Sie sind keiner Anteilnahme fähig“, sagte der Wasserratz.
„Ich fürchte, Sie begreifen die Moral der Geschichte nicht ganz“, bemerkte der Hänfling.
„Die was?“ kreischte der Wasserratz.
„Die Moral.“
„Wollen Sie damit sagen, dass die Geschichte eine Moral hat?“
„Gewiss“, sagte der Hänfling.
„Zum Kuckuck“, sagte der Wasserratz höchst erbost, „ich dächte, Sie hätten mir das sagen können, bevor Sie anfingen. Dann hätte ich Ihnen nämlich ganz bestimmt nicht zugehört; im Gegenteil, ich hätte ‚Pah!‘ gesagt wie der Kritiker neulich. Immerhin kann ich’s ja jetzt nachholen.“ Und er brüllte aus vollem Halse: „Pah!“, schwenkte den Schwanz und kroch in sein Loch zurück.
„Und wie gefällt Ihnen der Wasserratz?“ fragte die Ente, die ein paar Minuten danach angerudert kam. „Er hat eine Menge hervorragende Eigenschaften, ich für meine Person aber hege die Gefühle einer Gattin und Mutter, und ich kann einen eingefleischten Junggesellen nicht ansehen, ohne dass mir die Tränen kommen.“
„Mir scheint, er hat sich über mich geärgert“, meinte der Hänfling, „und zwar, weil ich ihm eine Geschichte mit einer Moral erzählt habe.“
„Ah! Das ist immer ein sehr gefährliches Unterfangen“ sagte die Ente.
Und ich gebe ihr vollkommen recht.
Quelle: (Oscar Wilde)