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Märchenbasar

Der Ring des Vaters

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Einst lebte ein Bauer mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen, die einander sehr gern hatten. Sie schlugen oder stritten sich nie, sondern lebten glücklich und teilten alles miteinander, was die Eltern ihnen gaben. Die Leute vom Dorf freuten sich, die Jungen so glücklich miteinander leben zu sehen. „Sind das gute Kinder“, sagten sie. „Sie sind sehr gut erzogen. Es wäre in großer Jammer, wenn ihre Mutter stürbe, denn ohne sie würden sie sicher miteinander streiten.“ Als die Jungen etwas älter wurden, geschah es, daß ihre Mutter starb. Aber sie blieben trotzdem brave Kerle und stritten sich nicht. Sie hatten sich sogar noch lieber als früher. „Die Jungen bringen unserem Dorf großes Ansehen“, sagten die Leute. „Wenn der Verlust ihrer Mutter sie nicht geändert hat, dann werden sie sich auch später nicht mehr ändern.“ Einige Jahre danach starb auch der Vater der zwei Brüder. „Kleiner Bruder“, sagte der Ältere, „wir haben immer gleichsam geteilt, was wir bekamen. Jetzt, da Vater tot ist, sind Land, Kühe und Bullen unser Erbe. Ich denke, es ist nicht richtig, wenn wir in seinen Besitz in zwei Teile teilen.! „Du hast recht, großer Bruder“, pflichtete der andere ihm bei. „Wenn wir zusammen arbeiten, werden wir mehr erwirtschaften.“ „Ich bin froh, daß du derselben Meinung bist“, sagte der Ältere. „Dafür will ich dich auch belohnen. Wenn wir die persönliche Habe unseres Vaters teilen, die er in dem Bambuskasten hat, sollst du das letzte Stück erhalten.“ Die beiden Brüder öffneten den Bambuskasten, und der ältere von beiden begann mit der Verteilung. „Ich bin der ältere, deshalb will ich bei mir selbst beginnen“, sagte er. „Hier ist ein Hemd für mich und eins für dich. Da kommt ein Paso für mich und einer für dich. Hier ist noch ein Hemd für mich und eines für dich. Da ist ein Messer für mich, und hier sind ein Paar Sandalen für dich.“ So ging es fort, bis sie auf den Grund des Kastens gelangt waren. „Hier ist ein Kamm für mich“, sagte der ältere Bruder, „und ein Spiegel für dich.“ Plötzlich hielt er an. Unter dem Spiegel lag ein schöner goldener Ring. Da der ältere Bruder diesen Ring gern haben wollte, nahm er ihn schnell an sich. „Und hier diesen komischen alten Ring nehme ich“, sagte er und ließ ihn in seine Tasche gleiten. „Einen Augenblick, großer Bruder!“ rief der jüngere. „Mir gefällt der Ring, und ich will ihn haben.“ !Aber er gehört mir, kleiner Bruder“, ich bin jetzt dran, und er kommt mir zu.“ „Nein“, sagte der jüngere Bruder. „Die Verteilung fing mit dir an und endet bei mir. Dieser Ring ist das letzte Stück, und er ist mein, nach deinem eigenen Versprechen.“ „Ich kann dir den Ring nicht geben“, sagte der ältere Bruder. „Ich bin der Erstgeborene, deshalb steht er mir rechtsmäßig zu. „Ich möchte diesen Ring haben, und ich werde ihn bekommen, so oder so“, sagte der jüngere Bruder ärgerlich. „Wir wollen unseren Fall dem gelehrten Eremiten vortragen und ihn bitten, für uns eine Entscheidung zu treffen.“ „Gut!“, stimmte der ältere Bruder zu. „Aber wenn er zu deinen Gunsten entscheidet, dann werde ich nicht eher ruhen, bis ich den Ring von dir wieder zurück habe.“

Also gingen die beiden Brüder zu dem Eremiten, der im Wald nicht weit vom Dorf wohnte. Genau wie der Leute im Dorf wußte auch der Eremit, wie sehr die Brüder einander geliebt hatten. Deshalb war er betrübt, als er von ihrem Streit vernahm. Er hörte sich schweigend das an, was sie zu sagen hatten. Dann saß er da und über legte eine lange, lange Zeit. „Ich brauche noch mehr Zeit zum Überlegen“, sagte er schließlich. „Laßt den Ring bei mir und geht heim! Der ältere von euch beiden komme in drei Tagen zu mir und der jüngere am vierten Tag. Jetzt geht, denn ich muß überlegen.“ Sobald die beiden Brüder ihn verlassen hatten, eilte der Ermit in die Stadt. Er ging geradewegs zu einem Goldschmied und bat ihn, genau so einen Ring anzufertigen wie den, um den die Brüder sich stritten. Der Goldschmied setzte sich an die Arbeit, er arbeitete schnell und sorgfältig, und am nächsten Tag war der Ring fertig. Die beiden Ringe waren so ähnlich, daß niemand mehr sagen konnte, welcher der richtige war. Am festgesetzten Tage erschien der ältere der beiden Brüder, und der Eremit gab ihm einen Ring. „Der Ring gehört dir. Hier hast du ihn“, sagte er. „Dein jüngerer Bruder wird sehr enttäuscht sein, wenn er erfährt, daß ich zu deinen Gunsten entschieden habe. Deshalb bitte ich dich, freundlich zu ihm zu sein. Trage niemals den Ring in seiner Gegenwart. Verbirg ihn irgendwo an einem sicheren Ort, so daß er ihn nicht sieht. Wenn er ihn zu sehen bekäme, würde er sicher böse werden und dich und mich verdammen.“ Der ältere Bruder war sehr glücklich, daß er es war, der den Ring bekam. Er dankte dem Eremiten und versprach, er werde den Ring gut verborgen halten.

Am nächsten Tag kam der jüngere Bruder, um die Entscheidung des Eremiten zu erfahren. Er erhielt den anderen Ring und die gleichen Hinweise. So war auch er sehr glücklich. Er dankte dem Eremiten und versprach, er werde den Ring gut verborgen halten. Beide Brüder versteckten ihre Ringe. Jeder wartete auf den anderen, daß er einen Streit begänne. Lange Zeit hatten sie einander im Auge, und als sich nichts ereignete, fühlte der eine Mitleid mit dem anderen. „Armer Bursche“, dachte der ältere Bruder. „Er weiß, daß ich den Ring habe, und trotzdem tut er mir nichts zuleide.“ „Mein guter Bruder“, dachte der jüngere, „er weiß, daß ich den Ring habe, und trotzdem tut er mir nichts zuleide.“ Je mehr sie anschauten, desto mehr bedauerten sie sich gegenseitig. Eines Tages fielen sie wieder einander in die Arme und waren sich wieder so gut wie einst. Die Jahre vergingen, und beide Brüder heiraten. Sie liebten einander zu sehr, um den Gedanken an eine Trennung aufkommen zu lassen. Deshalb bauten sie nebeneinander zwei Häuser und lebten glücklich. Nach einigen Jahren sollte der Sohn des älteren die Novizenweihe erhalten. Das ganze Dorf war eingeladen, um dieser Festlichkeit beizuwohnen. Die Frau des jüngeren Bruders wollte nun einen guten Eindruck auf die Gäste machen und begann in dem Bambuskasten ihres Mannes nach Schmuck zu suchen. Plötzlich stieß er auf einen goldenen Ring. Es war der schönste Ring, den sie je gesehen hatte. Sie steckte den Ring an ihren Finger und stand in Bewunderung da, als ihr Mann hinzutrat. „Du darfst den Ring tragen, aber nur diese einzige Mal“, sagte er zu ihr. „Er gehörte dem Vater, und ich möchte nicht, daß mein Bruder traurig wird, wenn er ihn sieht.“ Glücklich und stolz eilte die Frau des jüngeren Bruders hinüber in das Haus ihrer Schwägerin. Doch wie erstaunt war sie, als sie an deren Hand genau den gleichen Ring sah. Am Abend erzählte die Frau des jüngeren Bruders ihrem, Mann, daß sie den gleichen Ring an der Hand ihrer Schwägerin gesehen habe. Und die Frau des älteren Bruders erzählte ihrem Mann dasselbe. Die beiden Brüder waren höchst überrascht. „Wie kann das denn geschehen, daß plötzlich zwei Ringe da sind statt eines Ringes?“ „Wir müssen zum Eremiten gehen, um das ausfindig zu machen.“ So gingen sie beide, jeder mit seinem eigenen Ring, zum Eremiten und baten ihn zu sagen, welcher der beiden Ringe der von ihrem Vater vererbt sei und welcher der falsche. „Meine Söhne“, antwortete der gelehrte Eremit, „beide Ringe sind sich so ähnlich, daß selbst ich nicht mehr in der Lage bin zu sagen, welcher der richtige ist. Ihr zwei wart immer so gut zueinander, und als der Streit wegen eines Ringes ausbrach, war ich sehr betrübt. Ich ließ einen zweiten Ring anfertigen, damit ihr aufhörtet zu streiten. Diese List half, daß ihr viele Jahre glücklich miteinander gelebt habt. Ich bin jetzt alt und werde bald sterben. Wenn ihr wollt, daß ich glücklich von hinnen gehe, dann laß mich sehen, wie glücklich ihr miteinander lebt.“ „Du hast recht, gelehrter Eremit“, sagte der ältere Bruder, „wir wollen uns nicht mehr streiten. Laßt jeden von uns denken, daß er es ist, der seines Vaters Ring besitzt.“ „Oder besser, laß uns denken, daß Vater uns zwei Ring hinterlassen hat, für jeden von uns einen“, sagte der jüngere Bruder. Beide aber dankten dem Eremit, nahmen sich an der Hand und zogen singend heim.

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