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Der Schatten an der Wand

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Zu jener vergangenen Zeit wurde das Land mit Krieg überzogen. Ein junges Ehepaar, das glücklich in einem Reisdorf lebte, wurde auseinandergerissen. Der Mann wurde eingezogen und mußte in das ferne Land marschieren. Die Frau blieb allein. Nach einigen Monaten gebar sie einen Jungen.
Von ihrem Mann aber hörte sie nichts mehr.Oft saß sie abends mit ihrem Kleinen und erzählte ihm im Dunkeln Geschichten.
Auch von ihrem Mann, dem Vater erzählte sie.Wie groß er sei, stark und klug, und wie er unermüdlich gesorgt habe für sie. An solch einem Abend wurden sie plötzlich von einem Gewitter überrascht. Es donnerte über die Berge, es blitzte über dem Fluß, und die Palmen bogen sich im Wind bis auf die Hüttendächer. Das Kind schrie auf.Auch die Mutter fürchtete sich und wußte sich nicht anders zu helfen, als einen Docht anzuzünden. Plötzlich sah die Frau ihren eigenen Schatten an der Wand. Auch das Kind sah den großen grauen Fleck, der hin und her huschte. Angst wiederum befiel das Kind. Die Mutter aber beruhigte es und sagte:
„Hab keine Furcht, mein Kleiner. Das ist kein Fremder, der uns Übles will. Das ist dein Vater, der über dir wacht.“ Am nächsten Abend sagte es: „Und heute? Kommt heute der Vater nicht?“ Die Mutter lächelte glücklich und stellte sich so vor die Dochtlampe, daß ihr Schatten auf die Wand fiel. Sie hob die Finger, und sie wurden zu Hasenohren, und verschränkte sie, daß der Handschatten einem Entenschnabel ähnlich sah, und endlich rundete sie die Arme, und der Knabe glaubte, der Vater habe ein kleines Schweinchen im Arm. Zuletzt sagte die Mutter: „Stell dich jetzt schön vor den Vater und sage ihm guten Abend, und dann verbeuge dich und sage gute Nacht, und dann gehen wir schlafen.“ So gewöhnten sich die Mutter und auch das Kind an das Schattenspiel.

Eines Tages stand der Mann in der Tür der Hütte. Als der Vater mit dem Sohn allein war, nahm er ihn in die Arme und betrachtete das Gesicht, erlöst von der Einsamkeit.Sie waren sich nah, der große fremde Mann und das Kind, das nie in der Hütte einen Mann gesehen hatte. Zudem sagte er, indem er den Knaben fest an sich drückte: „Sag zu mir, mein Vater!“ Der Knabe schüttelte den Kopf und sagte: „Du bist nicht mein Vater.“Er zeigte auf die Wand und sagte: „Dort steht jeden Abend mein Vater, und er zeigt mir Häschen und Schweinchen und Enten, die er im Arm hält, und ich verbeuge mich vor ihm und sage: „Guten Abend, mein Vater!“

Als die Frau zurückkam vom Markt, den Tragkorb voll Gemüse, Reis und zarten Hühnchen, saß der Mann grübelnd in einer Ecke der Hütte und der Knabe mit großen, vor Schreck erstarrten Augen in der anderen Ecke. Sie stellte den Tragkorb ab und ging zu ihrem Mann und sagte: „Was ist dir?“ Der Mann sprang auf, einen Bambusstecken in der Hand, und schlug schweigend so lange auf die Frau ein, bis sie, selbst schweigend, ohne Laut des Schmerzes neben dem Stuhl niedersank. Der Mann nahm seinen Soldatensack, verließ die Hütte und mietete sich am Rand des Dorfes ein. Lange hielt die Frau die Hoffnung aufrecht, daß ihr Mann zurückkehren würde. Aber die Wochen vergingen, der Sommer und der Herbst vergingen, und sie blieb allein. Unfähig, länger noch den Schmerz und das Leid zu ertragen, warf sie sich an einem regnerischen Abend in den Fluß.

Der Mann, als er vom Tod seiner Frau erfuhr, ging in die Hütte und fand alles so, wie er sie verlassen hatte. Der Knabe saß weinend auf der Pritsche. Der Mann machte Feuer, stellte Reis auf, und als es dunkelte, zündete er eine Dochtlampe an. Sei großer schwerer Schatten fiel auf die Wand, und der Knabe als er den Schatten sah, sprang von der Pritsche auf, stellte sich vor die Wand, verbeugte sich und sagte: „Oh mein Vater! Guten Abend. Die Mutter ist nicht mehr. Du hast sie allein gelassen. Warum hast du sie allein gelassen? Nun kommt sie nie mehr wieder!“ Der Mann sank in sich zusammen. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als sich mit seinem Schicksal abzufinden und dem Sohn zugleich Vater und Mutter zu sein. Seine Pflicht erfüllte er so, daß man im Dorf von ihm sagte: „Er ist dem Sohn eine bessere Mutter, als er ihm je ein Vater gewesen ist.
*
Märchen aus Kambodscha

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