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Der Teller aus der anderen Welt

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Einst lebte ein Mann, der fand keine Arbeit, so sehr er sich auch darum bemühte. Da wurde er seines Lebens überdrüssig. Er wollte aber nicht selbst Hand an sich legen, und so meldete er sich zum Kriegsdienst. „Ich werde immer an vorderster Front kämpfen“, dachte er. „Dann wird mein elendes Leben bald ein Ende haben!“ Allein, es gefiel dem Allmächtigen, gerade diesen Soldaten am Leben zu erhalten. Und nicht nur das. Er galt als ungemein tapfer, bekam die höchsten Auszeichnungen und wurde nach jeder Schlacht befördert. So wurde er Hauptmann, Oberst, General, und schließlich sogar der Oberbefehlshaber des Heeres.
Als er mit seiner Armee die Stadt Jerusalem belagerte, da träumte er eines Nachts, dass ihm seine Stiefel nicht mehr passten. Und als er sie am nächsten Morgen anziehen wollte, da waren sie ihm tatsächlich zu klein! Er war erstaunt und ließ seine Traumdeuter kommen, um ihm diese Begebenheiten zu erklären. Aber keiner vermochte ihm eine Deutung zu geben, die ihn befriedigte.
Schließlich sprach einer der Traumdeuter: „Herr! Wir sind mit unserer Weisheit am Ende. Doch in der Stadt, die du belagerst, lebt ein weiser Rabbi. Vielleicht kann er dir helfen.“ Der Feldherr befahl den Rabbi zu rufen. Als der Rabbi vor ihm stand, erzählte er ihm, was er erlebt hatte. „Wenn du mir diese Geschehnisse zu meiner Zufriedenheit deutest, werde ich dich reich belohnen. Wenn nicht, wirst du sterben!“ Der Rabbi nickte, ohne eine Miene zu verziehen, und antwortete: „Gewiss werde ich sterben, aber weder Ihr noch ich kennen die Stunde des Todes. Die Deutung des Traumes jedoch ist einfach: In den Sprüchen des weisen Königs Schlomo steht geschrieben: „Eine gute Botschaft labt das Gebein.‘ Ihr seid im Traum und auch nach dem Erwachen gewachsen, Eure Füße, Euer Standpunkt sind größer geworden. Ihr werdet in wenigen Tagen eine gute Nachricht bekommen, eine Beförderung oder etwas Ähnliches – so Ihr sie nicht schon bekommen habt.“
„Davon ist mir nichts bekannt“, knurrte der Feldherr. „Du aber sollst bei mir im Lager bleiben, bis diese gute Nachricht eintrifft. Wenn sie in drei Tagen noch nicht da ist, sollst du sterben!“ Er wollte eben seine Wachen rufen, um den Rabbi abführen zu lassen, als ein völlig erschöpfter Bote in sein Zelt wankte und ihm einen Brief reichte. Der Feldherr erbrach das Siegel und las: Der alte König war gestorben, und die Großen des Reiches hatten ihn zum neuen König gewählt. Nun blickte er den Rabbi mit Staunen und Hochachtung an. „Du bist frei!“ sagte er. „Und du sollst reich belohnt werden. Doch zuerst musst du mir sagen, wie es kommt, dass du dem Tod so unerschrocken ins Auge blickst.“
Der Rabbi lächelte. „Seht, Majestät. Ihr verehrt viele Götter, aber ihr hängt an diesem Leben und meint, dass es nur dieses gibt. Ich aber weiß, dass es auch eine andere Welt gibt jenseits der unseren. Ich kenne nur den Einen, Lebendigen Gott, und Er ist dort wie hier derselbe. Was soll mir also geschehen, wenn ich sterbe? Ich gehe von einem Raum Gottes in einen anderen.“
Der König sah ihn erstaunt an. „Kann ich diese andere Welt auch finden?“ fragte er.
„Gewiss!“ erwiderte der Rabbi. „Ihr müsst Euch nur auf die Suche begeben. Aber ehe Ihr aufbrecht, habe ich noch eine Bitte.“
„Sprich!“
„Seht, Majestät, ich begehre keine Schätze – was sollte ich damit? Aber ich bitte Euch, dass Ihr mein Volk seinen Glauben frei ausüben lasst, und dass Ihr unsere Stadt verschont.“
„Das sei dir gewährt!“ rief der König. „Nur dürft ihr euch nicht gegen meine Herrschaft erheben.“ Das versprach der Rabbi, und tags darauf zog der König mit seinem gewaltigen Heer ab.
Viele Jahre zog er nun durch die Welt, unterwarf ein Land nach dem anderen und suchte überall nach einer Spur der anderen Welt. Aber er konnte keine entdecken. Er sandte auch immer wieder Kundschafter aus, aber keiner brachte ihm eine Nachricht davon. Schließlich kam er nach langer Zeit wieder in die Nähe der Stadt Jerusalem. Er erinnerte sich an den weisen Rabbi. „Vielleicht lebt er noch und kann mir helfen“, dachte er, ließ nach ihmforschen und ihn zu sich rufen.
Der Rabbi verneigte sich vor dem König. „Ich habe überall nach der anderen Welt gesucht, aber keine Spur gefunden. Kannst du mir helfen?“ fragte der König. „Gewiss, Majestät!“ antwortete der Rabbi lächelnd. „Kommt morgen vor Tagesanbruch zu meinem Haus, dann können wir sogleich aufbrechen. Aber Ihr müsst allein und unbewaffnet kommen.“
Der König runzelte die Stirn. „Das gefällt mir nicht“, erwiderte er. „Meine Waffen trage ich immer bei mir. Und meine Wächter umgeben mich Tag und Nacht. Zu viele trachten nach meinem Leben.“
„Ich verstehe Eure Furcht“, antwortete der Rabbi. „Aber mit Waffen und Wächtern werdet Ihr die andere Welt nicht finden. Ich gebe Euch mein Wort, dass Euch nichts Böses zustößt. Morgen Abend werdet Ihr wohlbehalten wieder in Eurem Zelt sitzen. Wenn Ihr aber einen Anschlag befürchtet, dann kommt verkleidet zu mir.“
Der König schaute dem Rabbi lange in die Augen. Dann nickte er. Mitten in der Nacht verließ er unerkannt Zelt und Lager und begab sich zum Haus des Rabbi. Der erwartete ihn schon, und sie brachen sogleich auf. Der Rabbi führte den König zum Fuß eines hohen Berges. Er klopfte an einen Felsen, da öffnete sich ein Tor, und sie traten in den Berg. Lange Zeit gingen sie schweigend durch einen schwach erleuchteten Gang. Schließlich erreichten sie ein mit Gold beschlagenes, seltsam verziertes Tor. „Hier ist ein Eingang zur anderen Welt“, sagte der Rabbi. Der König klopfte ans Tor. Von drinnen ertönte eine laute Stimme: „Wer klopft an unser Tor? Bist du ein Toter oder ein Lebender?“
„Ich bin ein Lebender!“ rief der König. „Ich bin der mächtigste König der ganzen Welt! Ich begehre Einlass!“ „Deine Macht zählt hier nicht“, antwortete die Stimme. Dann war wieder alles still.
„So geht es nicht“, sagte der Rabbi. „Lasst mich einmal klopfen.“ Der Rabbi pochte, und die laute Stimme fragte wieder: „Wer klopft an unser Tor? Bist du ein Toter oder ein Lebender?“ Der Rabbi nannte seinen Namen und fügte hinzu. „Ich spreche für meinen Begleiter. Er ist ein mächtiger König auf der Erde und möchte die andere Welt kennen lernen.“ Da wurde das Tor geöffnet, und ein Wächter trat heraus. Er musterte die beiden, dann sprach er zum König: „Eintreten kannst du noch nicht. Aber du sollst ein Andenken mitbekommen.“ Und er reichte ihm einen goldenen, reich verzierten Teller.
Als sie wieder im Haus des Rabbi waren, sagte der König verächtlich: „Was soll ich mit diesem Teller?! Er ist gewiss ganz schön, aber ich besitze bereits tausende ebenso schöne oder noch schönere.“ Doch der Rabbi erwiderte: „Majestät, das ist ein ganz besonderer Teller, ein Geschenk aus der anderen Welt. Mit all Euren Schätzen könnt Ihr ihn nicht aufwiegen.“
„Das will ich sehen!“ rief der König. Sie begaben sich ins Lager, der König ließ eine große Waage bringen, legte den Teller auf die eine Waagschale und einen großen Beutel voller Goldmünzen auf die andere. Aber der Teller wog schwerer. Der König wunderte sich. Beutel um Beutel häufte er auf die Waagschale, alle Schätze, die er mit sich führte – aber der Teller wog schwerer. Der König befahl, alle Schätze seines ganzen Reiches heranzuschaffen. Der Rabbi jedoch meinte: „Das wird gar nichts ändern, Majestät. Dieser Teller wiegt mehr als alle Schätze der ganzen Erde. Aber ich will Euch etwas zeigen. Seht Ihr die Augen auf dem Teller?“ Der König nickte. Die beiden in der Mitte des Tellers dargestellten Augen waren ihm auch schon aufgefallen. „So nehmt ein wenig Erde und bedeckt die Augen damit“, sprach der Rabbi. Sowie die Augen bedeckt waren, ging die Waagschale mit dem Teller in die Höhe.
„Nun verstehe ich überhaupt nichts mehr!“ rief der König. „Jetzt, wo noch mehr auf der Waagschale liegt, wiegt der Teller plötzlich weniger als zuvor?! Wie kann das sein?!!“
Der Rabbi lächelte. „Majestät!“ erklärte er. „Dieser Teller ist kein gewöhnlicher Gegenstand. Er stammt aus der anderen Welt und enthält eine Botschaft: So lange die Augen des Menschen in dieser Welt hier offen sind, wollen sie alles haben, was sie erblicken. Sie sind unersättlich, alle Schätze der Erde können ihnen nicht genügen. Aber wenn ein wenig Erde die Augen bedeckt – in der anderen Welt -, ist es nicht mehr so. Reichtum und Macht haben dort keine Bedeutung.“
Da wurde der König sehr nachdenklich. „Ich will diese Botschaft nicht vergessen“, sprach er und befahl, den Teller an einem besonderen Platz aufzustellen, so dass er ihn immer vor Augen hatte. Den Rabbi aber entließ er mit einem kostbaren Geschenk.

Quelle:
Märchen aus Israel

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