Es war einmal ein Herrscher, der hatte eine einzige Tochter, die an Schönheit der Sonne glich. Der Vater sagte zu den Freiern seiner Tochter: „An einem Ort in einem Garten wächst der Baum mit dem Apfel der Unsterblichkeit. Wer mir diese Frucht bringt, dem gebe ich meiner Tochter zur Frau.“
Alle Freier gingen, um den Apfel zu suchen. Viele junge Männer zogen aus, aber keiner kehrte zurück. In der Nähe des Herrscherhauses lebte ein Tschongurispieler, der wegen seines Gesangs und seines Spiels berühmt war. Auch ihm gefiel das schöne Mädchen, aber wie hätte er es wagen dürfen, um ihre Hand anzuhalten! Doch eines schönen Tages begab auch er sich zum Herrscher und warb um dessen Tochter. Er bekam ebenfalls die Aufgabe, den Apfel der Unsterblichkeit zu bringen. Da nahm er seinen Tschonguri und machte sich auf den Weg. Nach langem Wandern gelangte er an einen riesigen Garten, der von einer hohen Mauer umgeben war, daß niemand hinübergelangen konnte.
Der Tschongurispieler irrte lange um den Garten herum, aber er konnte keinen Eingang finden. So spielte er auf dem Tschonguri und sang dazu. Diesem Lied lauschte alle Welt: Der Wald hörte auf, mit seinen Blättern zu rauschen und labte sich an dem Gesang.Die Vögel flogen vom Himmel herab, ließen sich auf den umstehenden Bäumen nieder und hörten zu, wie der Tschongurispieler sang. Das Lied beglückte alle sogar die steinerne Mauer:
Auf einmal öffnete sie sich, und ein mit Blumen bewachsener Weg wurde sichtbar, der in den Garten hineinführte. Der Tschongurispieler folgte dem Blumenweg und sang dabei sein herzbewegendes Lied. Und in diesem Garten stand der Baum mit dem Apfel der Unsterblichkeit, den jedoch ein Drache bewachte. Wer sich in seine Nähe wagte, den verschlang er bei lebendigen Leibe. Der Drache hörte die fremde Stimme, riß einen schrecklichen Rachen auf und grollte:
„Wer ist so kühn, in meinen Garten einzudringen, wo aus Furcht vor mir keine Ameise über den Boden kriecht und kein Vogel durch die Luft fliegt?“
Der Tschongurispieler spielte und sang sein Lied, und aus seinen Augen rannen Tränen. Schnaubend wälzte sich der Drache dem Tschongurispieler entgegen und sperrte seinen fürchterlichen Rachen auf, um ihn zu verschlingen. Doch plötzlich hielt er inne und lauschte. Der süße Gesang raubte ihm die Sinne. Lange lauschte er reglos. Dann hielt es sein böses Herz nicht mehr aus, und aus seinen blutunterlaufenen Augen tropften Tränen. Zitternd und schluchzend starrte der schreckliche Drache den Tschongurispieler an. Der sang aber noch gefühlvoller als zuvor.
Noch einmal schlug er die Saiten an: da rissen sie plötzlich und alles verstummte. Mit gesenktem Kopf stand der Tschongurispieler vor dem aufgerissenen Rachen des Ungeheuers und ließ seinen Tränen freien Lauf. Der Drache schwieg; in seinen Augen standen ebenfalls Tränen, und verwundert und mitleidig starrte er den Spieler an. Plötzlich kam der Drache zu sich; er hob den Kopf, pflückte den Apfel und reichte ihn dem Tschongurispieler. Dieser erschrak; er traute seinen Augen nicht. Der Drache sagte: „Nimm ihn und sei nicht schüchtern! In meinem ganzen Leben habe ich noch so eine Stimme gehört, noch nie hat jemand mit solcher Stimme zu mir gesprochen. – Geh, nimm diesen Apfel der Unsterblichkeit, und ich gebe dir mein Wort, daß ich von heute an kein Menschenblut mehr vergießen werde. – Wie angenehm ist doch die Stimme der Menschen!“ Erfreut nahm der Tschongurispieler den Apfel der Unsterblichkeit und kehrte in seine Heimat zurück.
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Märchen aus Georgien
Tschonguri: vierseitiges Musikinstrument