Die Zeiten, da Hiawatha klug und weise über den Stamm der Irokesen herrschte, einer längst versunkenen Vergangenheit an. Aber weil sie noch immer in Legenden ums Lagerfeuer kreisen, so magst auch du ihre Stimmen vernehmen:
Inmitten unendlicher Wälder liegt der See Tioto. Meine Augen wandern in jene Zeiten zurück, und sehen die mit Fleisch und Fellen der beladenen Kanus der Indianer, die den windbewegten Wasserspiegel kreuz und quer durchschneiden. Dieser See bildete damals eine Art Markt, auf dem die Indianer Fische, Lebensmittel. Waffen, Decken und andere Dinge untereinander austauschten. Wie auf jedem Markt gab es auch hier Zank und Streit, Feilschen und Schreien zur Genüge. Als die Leute wieder einmal so stritten, da kam auf einmal ein schneeweißes Boot von dem blauen Himmel herabgeschwebt und ließ sich mitten unter den Booten auf dem Wasser nieder. Wie mit einem Schlag war das Geschrei und Gezänk verstummt. In dem weißen Kahn erhob sich ein fremder Indianer, ließ seinen Blick über die noch vom Zorn geröteten Gesichter schweifen und sprach:
„Was habt ihr miteinander zu zanken?“ Wie wenn unter einem Windstoß ein Rauschen durch den Wald geht, brauste dem Fremden unzählige Stimmen entgegen:
„Ich brauche für mein Salz keine Biberfelle!“
„Seine Decken sind voller Löcher!“
„Ich kann meine guten Pfeile nicht tauschen, ich habe selbst nicht genug!“ Der Unbekannte hob die Hand, um die Schreienden zu beschwichtigen. „Überlaßt das Zanken euren alten Squaws, und hört, was ich euch zu sagen habe, denn ich bin gekommen, um euch zu helfen.“ Es war kein Laut mehr zu hören. Die Augen der Indianer hingen wie gebannt an dem fremden Gast, der ihnen nun riet:
„Fahrt ans Ufer und zieht eure Kanus so weit als möglich vom Wasser weg!“ Die Indianer gehorchten. Sie zogen ihre Boote an das sandige Ufer, wo sich auch jetzt auch das weiße Kanu des Fremden niederließ. Der reckte die Hand zum Himmel.
In diesem Augenblick legte sich ein Schatten über die Sonne, der Himmel verdunkelte sich, und Scharen von unzähligen Wildenten glitten auf den See hinab, um zu trinken.
Nachdem sie ihren Durst gelöscht und sich zum Weiterflug erhoben hatten, kamen immer wieder neue und neue Scharen, bis der letzte Tropfen des Sees ausgetrunken war. Dann flogen die letzten Vögel davon.
„Ich bin Hiawatha“, sprach der Fremde, „und habe euch einen Schatz geschenkt, für den ihr Felle, Fleisch und Waffen eintauschen könnt. Dort – seht!“ Seine Hand wies auf den wasserlosen See. Der Grund glänzte von tausend und aber tausend Muscheln. „Es gibt keine Ware, die ihr damit nicht bezahlen könntet. Aber ihr müßt die Muscheln erst bearbeiten
und ihnen eine runde Form geben. Dann fädelt ihr sie auf Schnüre und nennt sie Wampumen.“
Dies war Hiawatha erste gute Tat, nachdem er von den Höhen des Himmels in das Indianerland hinabgestiegen war. Er fühlte sich unter den roten Menschen wohl und beschloß, bei ihnen zu bleiben. Während Bäche und Regengüsse den See Tioto mit neuem Wasser speisten, baute sich Hiawatha auf einer unweit gelegenen Höhe einen Wigwam. Tage und Monate und Jahre flossen dahin, und der kaum kenntliche Pfad zu dem
Wigwam, den anfangs Hiawatha allein benutzt hatte, war im Laufe der Zeit von so vielen Mokkasins begangen worden, bis er festgestampft war wie eine Tenne. Denn die Kunde von Hiawathas Weisheit hatte sich weit und breit herumgesprochen, und nach kurzer zeit pilgerten alle Ratsuchenden zu dem Wigwam am See.
Es kam eine Zeit, da sich die Klugheit des Fremden im allerhöchsten Maß bewähren sollte. Wilde, feindliche Horden drangen von Norden her in das um den See gelegenen Gebiet ein, wo sie die Lager niederbrannten und die Wehrlosen töteten. Ganze Stämme ergriffen vor ihnen in größter Verwirrung die Flucht. Auf Kanus und zu Fuß, zerlumpt und verzweifelt, suchten die Indianer haufenweise bei Hiawatha Zuflucht. Sie lagerten im Gras unter Bäumen, die auf der Höhe wuchsen oder im Schatten der Felsen. Hiawatha trat, in ein weißes Gewand gehüllt, unter sie:
Die Feinde haben euch in die Flucht geschlagen, weil keine Eintracht unter euch herrscht. Nur wenn ihr ihnen geeint entgegentretet, werdet ihr sie besiegen können, und in das Indianerland wird langdauernder Friede einziehen. Seht euch um!“ – Er hob die Hand und wies, in der Luft einen Kreis beschreibend, auf die Versammelten. „Es sind eurer so viele,
ihr alle sprecht die gleiche Sprache, und trotzdem hattet ihr kein Vertrauen zueinander. Erst jetzt, wo euch der Tod auf dem Fuße folgt, sehe ich euch einträchtig vor meinem Wigwam versammelt. Noch ist es nicht zu spät. Wenn ihr meinem Rat gehorcht, werdet ihr stark sein, stärker als je zuvor.“
„Wir wollen dir in allem gehorchen“, sprach sich erhebend, ein weißhaariger Indianer, der älteste des Kreises.
„Sprich Hiawatha……………“
„Ihr Mohahawks, die ihr dort im Schatten des Baumes sitzt, dessen Wurzeln fest in der Erde verhaftet sind und dessen Äste weit ausladen, sollt als erstes Volk angesehen werden, denn ihr seid tapfere Kämpfer.“ Hiawatha schwieg schwieg, und seine Augen wanderten zu einer Gruppe, die vor einem Felsblock lagerte: „Ihr Oneiden seid klug und darum werdet ihr als zweites Volk gelten. Und ihr Onondagas, die ihr vom Fuß eines großen Gebirges kommt, seid in der Redekunst bewandert. Um dieser Gabe willen sollt ihr als drittes Volk angesehen werden.“
Daraufhin wandte sich sein Blick den Indianern zu, deren Kleidung und Waffen verrieten, daß sie Jäger waren.
„Es freut mich, daß ihr in so großer Zahl erschienen seid, obzwar eure Wigwams in den tiefen Wäldern verstreut sind.
Daher wünsche ich, daß auch ihr Senekas euch den übrigen anschließt – als das vierte Volk. Ihr seid gute Jäger und dürft nicht beiseitestehen.“
Schließlich wandte sich Hiawatha dem letzten Häuflein zu:
„Ihr seid uns unter dem Namen Kajugen bekannt, und weil euch die Natur das Geheimnis einer reichen Ernte enthüllt hat,
wünscht Owayneo, der Große Geist, daß ihr das fünfte Volk werdet…..“ Hiawatha hatte ausgesprochen. Er lächelte den Indianern zu und rief sein weißes Kanu herbei, das dann ganz von selbst, ohne einen einzigen Paddelschlag dem Horizont zuschwamm. Dort hob es sich aus dem Wasser und verschwand für immer den Augen der Menschen.
Märchen der Irokesen