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Märchenbasar

Der Zahnstocher

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Der Holzfäller Sol Shell wohnte in einer Hütte am Fuße des Föhrengebirges. Eines Morgens erwachte er und staunte – in der Stube war es stockdunkel. Er ging zur Tür um sie zu öffnen, aber die Tür ging nicht auf, denn die Hütte war bis zum Schornstein mit Schnee bedeckt. Also ging Sol Shell nachschauen, wie es um Holz – und Lebensmittelvorrat bestellt war. Mit dem Holz konnte er drei Tage, mit der Nahrung eine Woche lang auskommen. Am vierten Tag mußte er, um den Kamin heizen zu können, die Stühle und Wandbretter zerhacken. Nach einer Woche konnte er es in der Stube vor Kälte und Hunger nicht mehr aushalten.
Sol Shell mußte etwas unternehmen. Aber was?
Er riß das Rohr aus dem Ofen, nahm die Axt und kletterte durch den Schornstein aufs Dach. Oben angelangt, steckte er, um atmen zu können, das Ofenrohr durch die Schneewächte und schaufelte mit der Axt einen schmalen Gang. Mit Mühe und Not befreite er sich aus den Schneemassen und schaute sich um. Ringsumher war nichts als Schnee, alle Häuser in der Umgebung waren verschüttet, nur die Spitzen der Fichten und Tannenbäumen sahen aus dem Weißen hervor. Eine Fichte aber stand am Berghang, der Wind hatte den Schnee rings um ihren Stamm geweht. Diese Fichte wollte Sol Shell fällen. Er hielt sich an den Spitzen der Föhren und Tannen fest, um nicht in den Schnee einzusinken, und es gelang ihm schließlich, bis an den großen Baum heranzukommen. Er schaute hinauf. In den Ästen hingen ein paar Waschbären. Als es nicht aufgehört hatte zu schneien, waren sie auf die Fichte gekrochen, dort aber dann erfroren. Also habe ich Holz fürs Feuer gefunden und einen Braten für die Pfanne, sagte sich der Holzfäller. Er schüttelte die Waschbären von den Zweigen herunter, band ihnen die Schwänze zusammen und machte sich an den Baum.
Er fällte ihn und sägte alle Zweige ab. Der kahle Baumstamm kam aber ins Rollen und war nicht aufzuhalten.
„ Ich bin doch ein Dummkopf“, schimpfte der Holzfäller sich selbst, „diese paar Zweige bleiben hier und der Stamm rollt mir davon.“ Also band er die Äste mit einem Strick zusammen, warf die Waschbären oben auf und schleppte die Vorräte den Hang hinunter. Auf einmal hörte er ein sonderbares Donnern und schaute zur Seite; der kahle Baumstamm wälzte sich ein Stück am gegenüberliegenden Hang unter dem Föhrengebiete hoch. Vergeblich versuchte der Holzfäller den Stamm aufzuhalten. Wenn er an ihm vorbeikollerte, holte er mit der Axt aus und schlug zu, aber der Baumstamm rollte so schnell vorüber, dass sich die Axt in den Schnee verbohrte anstatt ins Holz, und ehe er sie wieder freibekam, war der Stamm schon wieder am gegenüberliegenden Hang.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen blieb Sol Shell nichts anderes übrig, als sich den Strick wieder auf die Schulter zu werfen und wenigstens das in die Hütte zu bringen, was ihm verblieben war – ein paar Fichtenzweige und ein ausgiebiger Fleischvorrat. Drei Tage und drei Nächte lang donnerte es unter dem Föhrengebirge, drei Tage und drei Nächte rollte der Baumstamm die Hänge hinauf und hinunter, als wäre es das Spielzeug eines Riesen, der im Winter Langeweile hatte. In der eingeschneiten Hütte saß der Holzfäller Sol Shell und briet sich das Fleisch der Waschbären. Im Kamin prasselte das Feuer, alles war schön und gut. Aber am vierten Tage war das Holz zu Ende. Und Sol Shell mußte den Tisch zerhacken und die Bretter aus den Dielen reißen und damit Feuer machen, um nicht zu erfrieren.
Eines Morgens, als er das letzte Stückchen Fleisch aufgegessen hatte und sich anschickte, das Bett zu zersägen, hörte er vor der Tür ein leises Pochen. Von den Eiszapfen fielen die Tropfen auf die Türschwelle herunter, es war Tauwetter! Mittags konnte der Holzfäller schon durch die Tür aus der Hütte schlüpfen. Er zögerte nicht einen Augenblick und lief in den Laden, Mehl, Fleisch, Kaffee und Zucker zu kaufen. Da fiel ihm auf, dass er den Fichtenstamm, der von Hang zu Hang gerollt war, weder hörte noch sah. Nur ein leises Rascheln erklang aus dem Tal, als flüsterte der Wind den Bäumen ein Geheimnis zu. Er ging nachschauen und hielt staunend an – statt des mächtigen Baumstammes rollte ein Stückchen Holz, kaum mehr als fünf Zentimeter lang, hinauf und herunter.
Der Baumstamm hatte sich beim Rollen so abgeschliffen, dass nichts als ein dünnes Holzspänchen von ihm übriggeblieben war. Noch heute, wenn sich die Holzfäller, Jäger und Farmer aus der Umgebung treffen, zieht der alte Shell einen hübsch geglätteten Zahnstocher aus der Westentasche. Er ist so hart, so glatt gewälzt, dass er sämtliche Gelage überdauert hat, alle vollbeladenen Schüsseln mit Hirschkeulen und Bärentatzen.
Wie denn auch nicht?
Dieser Zahnstocher ist doch einmal ein Fichtenstamm gewesen, der eine Woche lang an den Hängen des Föhrengebietes abgeschliffen worden war.

Quelle:
Kanadisches Märchen

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